Der erste Schnee kam spät im Jahr von Markus Pristovsek

17.9.1461, bei Colongne

Knackend platzte ein Ast in dem Erntefeuer. "Rückt näher!" forderte der alte Mann sie auf. Alle versuchten, so gut es ging, möglichst nahe an den Mann wie an das Feuer zu kommen. "Ich werde euch von dem einzigen Einhorn erzählen, das einen König tötete." Er war der Erzähler des Dorfes. Nie war eine seiner Geschichten nicht ungewöhnlich und fesselnd. Er war der beste Erzähler, den es hier je gegeben hatte.

Seine Worte verzauberten das Publikum. Selbst das Feuer schien leiser zu knacken, wenn das Einhorn durch die Lande zog und schließlich kämpfen mußte. Sie spürten den leichten Landregen, zitterten vor dem König, weinten und lachten mit dem Einhorn.

Langsam erst tauchten sie nach der Geschichte in das kalte feuchte Diesseits ein; der schmalen Kluft zwischen der Geburt und dem ewigen Leben.

"Hast du je ein Einhorn gesehen?", fragte einer den Erzähler.

"Sicher, es hatte mir seine Geschichte erzählt."

Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch den Kreis.


 
31.8.1701, Paris

Vor der angesehen Akademie der Wissenschaften zu Paris war als Redner der ebenso angesehene Gelehrte Marquis de St. Maraine geladen. Er würde über das Thema Anatamie des Einhorns referieren. Dies tat er auch in angemessener Länge und Ernsthaftigkeit.

Nach dem Ende, bevor der Marquis wieder gehen konnte, kam ein Zwischenruf: »Glauben sie denn, es gibt überhaupt Einhörner?«

»Persönlich« Der Marquis putzte umständlich seine Augengläser. »ist mir noch keines begegnet.«, setzte er den Satz fort. »Aber es existieren genug Augenzeugenberichte, um an der Tatsache der Existenz nicht ernstlich zu zweifeln.« Wirksam zog er seine Augenbrauen hoch.


 
7.4.1951, MIT

,,... und er meinte, er hätte in den Rockys ein Einhorn gesehen. Und sowas ist Professor." Sämtliche ehrenwerte Herren an dem Kantinentisch brachen in schallendes Gelächter aus. ,,Und er betreibt Erkenntnistheorie ... "

 

 
24.6.2034, Mare Tranquillaris, Mond

Müde legte er das Buch aus der Hand. Eine schöne Geschichte. Aber Einhörner gibt es wohl doch nicht. Es wäre zu schön um wahr zu sein.

Und vor dem Fenster dehnte sich endlos das schmutziggraue Panorama des luftleeren Trabanten. Er bräuchte kein Einhorn, mit ein paar mehr neuen Gesichtern wäre er schon zufrieden.

Dabei dachte er einmal fast, er hätte am Ende des Korridors, vor der Schleuse, eines stehen gesehen. Dies war dann durch die Schleuse verschwunden.

Aber das war natürlich völlig unmöglich.


2.5.2362 am HMOIP (Higher mars-orbit injection point)
Sol 675 des Jahres 199 (Marszeitrechnung)

Größer und größer wurde der rote Ball. Noch wenige Tage und er würde selbst auf dem roten Sand des Planeten Mars stehen und unter seinem roten Himmel leben - und auf die nächste Rückkehrmöglichkeit in einem halben Jahr warten.

Vorher würde er seinen Auftrag zu erfüllen haben. Den seltsamsten Auftrag, den er wohl überhaupt bekommen konnte, als Psychologe. Der Gedanke daran ließ ihn gruseln: Seine Theorie der Kompensation auf unerwartetem Gebiet war dafür wohl ungeeignet. Trotzdem hatte man ihn ausgewählt.

Er las sich die Lexikondefinition durch.

  1. Einhorn
    (lat. unicornus) erstm. in der griech. Antike erwähntes Fabeltier mit langem Stirnhorn. Sinnbild der Keuschheit. Gemahlenes Horn wurde lange Zeit als Wundermittel gehandelt.

  2. siehe Sternbilder
Nun, letzteres würde er mit Sicherheit auch auf dem Mars sehen ...

Vielleicht hätte er nicht ganz so vorlaut in seinem Artikel schreiben sollen, vielleicht hätte er ablehnen sollen, als der ISA (International Space Agency) -Vertreter kam. Doch wer kann da schon ablehnen? Er war zu alt, um Idealist zu sein. War er?

Aber nicht nur das. Auch sein Berufsethos machte ihm eine Ablehnung schwer. Vielleicht war es wirklich mehr als ein dummer Scherz und man brauchte hier seine Hilfe. Wenn er hier Erfolg hatte, würde sich seine Theorie beweisen. Und er hätte eine Menge Menschen, Wissenschaftler, von dem irrationalen Wahnsinn - ihren natürlichen Todfeind - gerettet.

Dabei hatte es mehr wie ein Spaß geklungen, als sie herüberfunkten, daß in den riesigen Gewächshäusern ein Einhorn gesichtet wurde. Als solchen nahm man ihn auch auf, zumal sich die Arbeitsmoral eher verbesserte und die Erträge wie eh und je stiegen. Aber dann wurde eine solche Meldung wiederholt, dazu ein unscharfes Video, auf dem ein weißer Schatten zwischen tropischen Dschungelpflanzen zu sehen war.

Als sie auf dem Mars merkten, daß man sie für etwas überdreht hielt, war lange Ruhe. Dann aber kam folgende Nachricht. Er bewahrte einen Ausdruck auf.

An die engen Geister der Erde:

Wir können nicht länger ignorieren, was nicht sein sollte. Als Wissenschaftler sind wir zwar skeptisch, aber durch Tatsachen zu überzeugen.

Wir alle haben das Einhorn gesehen; es hat sich uns gestellt. Ihr dürft es weiter ignorieren, wir werden es nicht mehr erwähnen. Weiter wie bisher...

Es war völlig unlogisch. Man hatte lange überlegt, was man tun sollte. Ein großer Teil wollte gar nichts tun. Doch könnte es nicht sein, daß dies nur der Anfang war?

Also schickte man mit der nächsten Materialfähre auch eine Kapazität auf diesem Bereich herüber - ihn - auch wenn er auf der Erde bisher fast nur prominente Persönlichkeiten von irgendwelchen Komplexen befreit hatte. Immerhin hatte er bald das Ziel erreicht. Dann würde wenigstens er wissen, woran man war.

Am Rande hatte er noch von einem zweiten Problem gehört, von dem er nicht wußte, wie es zu deuten war (keiner wußte es). Die Meßstationen funkten einen ständig steigenden Luftdruck und zwar wurde der Sauerstoffanteil immer größer. Noch dazu nahm die Luftfeuchte immer weiter zu, und das, obwohl es auf den Winter zuging.

Aber deswegen wurde eine richtige Personenfähre fertig gemachte, nicht so ein Container, wo er 98% der Reise notgedrungen im Schlaf verbringen mußte. Immerhin könnte man ihn dann in einem halben Jahr zurückholen.

 
Er machte sich für das erste Bremsmanöver fertig. Vier Stunden bremsten sie ihn und die Ladung mit 1,7g, die ganze Zeit war er am Rande der Bewußtlosigkeit. Dann endlich hörte das Dröhnen des Antriebes auf.

Doch die kleine Kabine in dem Landungskörper wollte er nicht mehr verlassen. So verschlief er in dem Kontursessel das Einschwenken in den gewünschten Orbit. Erst als die Antriebe wieder stark dröhnten, um ihn auf die Marsoberfläche zu bringen, wachte er auf.

Doch diesmal arbeitete der Antrieb nur zehn Minuten. Dann war eine Stunde stille, bis es hinter der dicken Wand zu rauschen begann.

«Ok, erste Abbremsphaaa. Vieh Glück, Black out füüüüüüeißig Minuteee», kam es zwar in Hifiqualität aber zerstückelt aus seinen Kopfhörern. Das Rauschen wurde etwas lauter und es schien wärmer zu werden. Doch dann wurde es schnell bis zu Unhörbarkeit leiser.

«Sind auf Kurs. Zweites Manöver in zehn Minuten.» Diesmal war die Verbindung astrein. <Man hat tatsächlich Fortschritte gemacht seit Apollo>, dachte er sarkastisch.

Nach sieben Minuten dröhnten die Triebwerke ein zweites Mal zur letzten Korrektur. Danach begann wieder das Säuseln, diesmal wurde es aber nicht leiser. Nur höher wurde es etwas. Als er glaubte, langsam würde es vielleicht intensiver als leichter Wind werden, da krachte es unter ihm und die Landetriebwerke feuerten, was sie hergaben. Ihm wurde schwarz vor Augen.

 
Er lag auf einer Krankenstation. An seinem Bett war ein Arzt, links neben ihm eine Schwester. Der Arzt schüttelte den Kopf. Da trat rechts neben dem Arzt das Einhorn ins Licht und stieß ihn mit seinem Horn an.

Er wachte auf. «Wo bin ich?»

«In der Krankenstation des Canyons sieben. Ihre Kapsel ist nur notdürftig abgedichtet worden. Die hat nur bis zur Landung gehalten. Wir haben sie rausgeholt, haben ihnen aber nicht viel Chancen gegeben. Diese Idioten, jemanden in einem Frachtcontainer zu schicken!»

Mit dieser Bemerkung stand die Schwester auf, die neben seinem Bett gesessen hatte. Er setzte sich auf. Eine Krankenstation sah auch auf dem Mars nicht anders aus als irgendwo. Doch anders als sonst waren die beiden Betten rechts und links leer.

Um die Kranken zu erfreuen, hatte man ein Fenster eingebaut. (Er würde sich gerne bei seinem Kollegen, der dies wohl veranlaßt hatte, bedanken.) Und so konnte er auf den roten Sand des Talboden des riesigen Canyons, so lang wie Nordamerika breit, blicken. Von Zeit zu Zeit ging eine kleine Sandlawine zu Tal.

Obwohl die Luft sehr dünn war, nach neusten Messungen 1230 Pascal (12.3 millibar), so war doch der Sand so fein, daß es wie ein Fließen aussah. Und draußen hatte sich der Luftdruck in hundert Jahren verdoppelt. Er rechnete. Dann würde es noch mindestens weitere achthundert Jahre brauchen, bis man draußen atmen könnte. und nach weiteren tausend Jahren hätte man dann einen Druck, wie im Meer in hundert Metern Tiefe.

Doch da er Wissenschaftler genug war, nahm er die Rechnung nicht erst. Er verstand zwar nicht sehr viel Atmosphärenphysik, aber das die Natur sich genauso verhält, wie man vorherrechnete, das konnte selbst ein aufgeklärter Bürger des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr glauben.

Immerhin, hatte man sich beim Treibhauseffekt verrechnet. Zuerst kam er mit aller Macht, viel schneller, als gedacht. Doch als dann wirklich radikale Maßnahmen ergriffen wurden, geschah lange nicht. Erst seit zweiunddreißig Jahren nahmen die Temperaturen wieder ab. Und ob diesmal eine Eiszeit kam? Die Menschen pfuschten wirklich in zuviel Dingen herum, die sie nicht verstanden.

Da hatte ein Psychologe gerade noch gefehlt. Viel war noch unklar, besser gesagt es gab Theorien für jede Krankheit, die meisten beliebiger als die Symptome. Nein, man hatte ein paar Richtlinien. Jetzt sollte er in der Psyche von Marsstationsbewohnern herumpfuschen. Ihm graute.

 
Nach dem Verlassen der Krankenstation sollte er das Bürgerbüro aufsuchen, die örtliche Form der Verwaltung. Doch dort wollte man ihn erst in drei Marsstunden sehen, er hatte also reichlich Zeit.

Ihm ging es gut, davon, daß man ihm vor drei Tagen fast aufgegeben hatte, merkte er nichts. Und er war guter Stimmung, als er durch die Station spazierte.

Alle Leute schienen hier ein Lächeln zu tragen. Als er in einen Spiegel sah, merkte er, daß selbst er nicht so griesgrämig guckte wie sonst. Also das Betriebsklima stimmte.

Er dachte nach, wo er anfangen sollte. Sollte er gleich mit der Wahrheit herausrücken? Aber dann würde es bald jeder wissen. Schließlich entschloß er sich, zum Pfarrer zu gehen, der einzigen Person, die einem Psychologen nahekam. Es gab natürlich auch einen Psychologen, aber der war in erster Linie Arzt und damit nicht vertrauenswürdig genug für ihn.

 
Es gab keine Kirche, der Pfarrer residierte in einer kleinen Wohnung, wie sie die Wohnkabinen euphemistisch nannten. Irgendwie dachte selbst er irrational, soweit von der Erde, dem Tode gerade entronnen, den Pfarrer aufzusuchen, wenn auch nicht deswegen.

Der Pfarrer war klein. Er trug keine außergewöhnliche Kleidung, keinen Umhang, wie er klischegemäß dachte. Er ließ ihn ein.

«Komm herein. Ich bin mir zwar unsicher, was dich hinführt. Aber du bist willkommen.»

«Ich bin von der Erde. Dort ist man beunruhigt über die Berichte über ein Einhorn, was sich hier herumtreiben soll.»

«Achso» Der Pfarrer lachte. «Und deswegen schicken die dich von der Erde. Nun es gibt etwas. Die Leute, die damit zusammen waren, nannten es Einhorn. Sie sagen, daß man es und es uns versteht.»

«Und sie persönlich glauben daran?»

«Hier duzt sich jeder. Nein, ich glaube nicht daran. Er wäre völlig sinnlos. Verstehst du? Es hat keinen Sinn in ein menschliches Kunstgebilde soetwas zu pflanzen.»

«Es gibt nicht viele die eines gesehen haben wollen?»

«Doch, einige. Sie sind alle der Meinung, ein und dasselbe gesehen zu haben.»

«Interessant. Ich muß jetzt in das Bürgerbüro. Vielen Dank für das Gespräch.»

«Gern geschehen.»

 
Die Formalitäten dauerten genau zwei Minuten. Dann hatte er eine Karte, die ihn Zutritt zu allen Sektionen ermöglichte, die nicht wegen akuter Gefährdung geschlossen waren.

Unschlüssig ging er hinunter in die Hauptstraße, wie sie genannt wurde. Dort war auf einer Seite eine riesige Glaswand. Auf der anderen befanden sich zwei Cafés und andere Gaststätten und Läden. Es erinnerte ihn äußerlich an ein irdisches Stadtzentrum. Doch bewegten sich die Leute anders, langsamer, durch die geringe Schwerkraft mehr schwebend als schreitend. Gleitend war vielleicht das richtige Wort. Auch beim soundsovielten Mal sahen sie voller Spannung durch die Scheiben.

Er genoß einen Tee aus marsianischen Gewächshäusern. Er schmeckte vorzüglich. Dies war eine wunderschöne Aufgabe: Leute beobachten. Dabei konnte er Tee genießen und blätterte einer hiesigen Wochenzeitung (es gab zwei). Vor drei Tagen war sie herausgekommen.

Den größten Teil bildeten Berichte der Erde. Vom Mars war lediglich ein Bericht über den abnorm hohen Luftdruck so kurz vor dem Winter und den seit sechs Jahren ausbleibenden Sandstürmen. Erst ganz hinten war ein Nachrichtenteil.

Eine Kurznotiz las er genauer. Sie war nur fünf Zeilen lang. Sie lautete:

Bei der Landung eines umgebauten Frachtcontainers kam der Psychologe und Ökologe Julian F. fast zu Tode. Der Rat hat wieder einen Protest gegen die mißbräuchliche Nutzung solcher Container eingereicht.

Nun wußte jeder, was er war! Und eins und eins zusammenzuzählen war weißgott nicht schwer. Er sah auf die neue Uhr, die Marszeit zeigte. Es war Zeit, sich mit dem Menschen zu treffen, der ihm seine Wohnung zeigen sollte.

 
Die Wohnung lag ziemlich entfernt von dem eigentlichem Zentrum, in einem neuen Stadtteil, erst vor kurzem aus dem Fels modelliert. Seine Straße hieß Pegasusweg. <Na kein Wunder, daß sie hier Einhörner finden.>

Sein Begleiter zeigte ihm alles. Bevor er gehen wollte, fragte er ihn nach dem Einhorn. Er selber habe es nicht gesehen, aber er werde einen Biologen vorbeischicken, der es gut kenne. Erst als er das weiche Bett ausprobierte, merkte er, wie müde er war ...

... und wurde er vom Klingeln des Koms wieder wach. «Hier Fredun», meldete er sich ins Dunkle.

«Ist Julian da?»

«Bin am Apparat.»

«Ich bin Jarosch. Du willst wegen dem Einhorn mit mir reden?»

Sofort war er hellwach. «Moment, ich muß nur kurz 'ne Karte einschieben.» Er kramte.

«Ach was, in einer halben Stunde komme ich vorbei, Ok?»

«Hmm, klar, Ok»

«Ciao»

Langsam kam er zu sich, als geübter Morgenmuffel dauerte es immer eine knappe Viertelstunde. Dann zog er sich schnell an und bereitete alles für ein Gespräch vor. Kurz bevor die halbe Stunde um war, fielen endlich die Brötchen aus der zentralen Versorgung. So kam es, daß er noch kaute, als Jarosch eintrat.

«Achso, hättest ja was sagen können.»

«Ist egal, ich habe eh verschlafen. Sie, äh, Du weißt warum ich hier bin?»

«Du bist neu? Dann bist du der Psycho- und Ökologe. Nun, wahrscheinlich interessiert dich das Einhorn.»

«Das was vom Mars an Nachrichten kam, hat auf der Erde ganz schön Staub aufgewirbelt. Es gibt sogar ein paar Spinner, die sagen, es wäre ein Zeichen Gottes; wenn auch der hiesige Vertreter eine andere Meinung vertrat.»

«Alle sind Spinner, jeder auf seine Art. Wahrscheinlich mußt du es sehen, um zu glauben, obwohl es dich gerettet hat.»

Er hob überrascht die Augenbrauen. «Ich hatte soetwas geträumt.»

Sein Gegenüber schwieg. Aber nicht wegen seiner Bemerkung, vielmehr dachte er nach.

«Heute ist der 685. 199. In zwei Tagen beginnt das dritte Jahrhundert auf dem Mars. Das ist vielleicht eine Gelegenheit. Ich habe einen Idee. Tut mir leid, ich muß gleich wieder weg. Aber nimm dir die Nacht von 687. zum 1. frei. Bis bald.»

«Bis bald.» Er war perplex, was sollte dies? Aufklärung hatte auch dieses Gespräch nicht gebracht. Seufzend schaltete er den Rekorder aus.

 
An diesem Vormittag besuchte er das ökologische Labor der Station. Ein junger Assistent führte ihn herum.

«Hat man Spuren von Stoffwechselaustauschprodukten des vermeintlichen Einhorns festgestellt?»

«Nein. Skeptiker müssen nicht daran glauben. Selbst was man sieht kann ein Traum sein, zumindest waren einige große Geister dieser Meinung. Aber zu Spuren, ich denke bei der riesigen Fläche, wäre ein Nachweis von solchen Spuren höchst unwahrscheinlich.»

«Hast du es gesehen?»

«Nicht richtig, nur einmal von weitem, als wir Videos machen wollten. Doch das, was wir filmten hätte alles sein können. Obwohl ich nicht den Konjunktiv benutze, gehöre ich zu den Skeptikern. Man muß sich bei derartig vielen Sichtungen allerdings fragen, wer denn nun spinnt.»

«Sei beruhigt, du bist ok. Und der Rest wohl auch, auf der guten altem Erde gibt es ja seit Jahrhunderten das Ungeheuer von Loch Ness und ähnliche Scheußlichkeiten, die jedes Sommerloch wiederkehren.

Gibt es bessere Videoaufzeichnungen als die, die zur Erde geschickt wurden?»

«Nein, Leuten mit Kamera wich es aus. Aber es gibt gute Skizzen.»

Er führte ihn in einen Raum, dessen Wände mit farbigen und schwarzweißen Skizzen angefüllt waren. Das Wesen, das dort abgebildet war, war kleiner als ein Pferd, fast ponygroß, aber viel zierlicher. In den Proportionen ausgewogen, mit viel Mähne, auch an den vier Beinen. Dann waren Hufskizzen.

Jeden Fantasyroman könnte man mit einer Collage aus den Skizzen hervorragend illustrieren. Etwas anderes hätte ihn auch verwundert.

«Hat es einen Namen?»

«Nein, obwohl es ziemlich intelligent ist, hat es keinen. Die Leute geben ihm zwar allerhand Namen, doch es nimmt keinen an. Sein Geschlecht ist übrigens nicht feststellbar.»

«Hat es je erzählt, woher es kommt?»

«Nein, aber auf dem physikalischen Weg, so wie du, kann es den Mars wohl nicht erreicht haben. Sonst wüßte die ISA davon und du wärest nicht hier.»

Dann wandte sie sich mehr dem ökologischem Teil der Station zu. Mittlerweile hatte sich eine Art Gleichgewicht eingerichtet, das lag sogar etwas zu ihren Gunsten, so daß sie jährlich expandieren mußten und konnten. Soweit sehr verheißungsvoll.

Danach machten sie eine Führung durch die Gewächshäuser. Fantastisch, mehr als vierzigtausend mehrzellige Arten gab es hier schon, mit jeder neuen Ladung wurden es mehr.

Um fünf, die schwache Sonne stand schon tief, waren sie fast fertig. Die schönste Landschaft war der Wald. Dort wollte er sich noch ein wenig umsehen. An einen Baumstamm gelehnt, beobachtete er Vögel. Trotz der geringeren Marsschwerkraft hatten es die Vögel in der halb so dichten Luft schwer zu fliegen. Aber sie waren zutraulich gegenüber allem, was nicht wie eine Katze aussah.

Er hatte sich immer noch nicht an die zusätzlichen 49 Minuten gewöhnt, die der Marstag länger als der Erdtag war und so nickte er wieder ein. Kurz vorm Aufwachen träumt er wieder vom Einhorn.

Es stand vor ihm, schneeweiß, fast als leuchtete es von innen heraus. Ein Glücksgefühl erfüllte ihn.

,,Nun Julian, hier bin ich. Morgen am Sonnenuntergang"

Er wachte auf, als eine Meise in sein Ohrläppchen pickte. Schon wieder verschlafen, noch dazu draußen. Etliche Schleimspuren von Schnecken zogen sich über sein Bein. Seine frischen Sachen waren klamm. Idiotie, hier zu schlafen.

Wenn sich allerdings alle Träumer so wie er gefühlt hatten, dann konnte er die Faszination Einhorn verstehen.

Um viel Erfahrung reicher, machte er sich nach seiner Wohnung auf.

 
Der Tag war mit einer Sichtung allen Materials, das irgendwie zum Thema gehörte, verbunden. Ihm war ein Büro bei den Ökologen gegeben worden. Dort sammelte sich in verschiedenen Stößen das gesamte Material. Im ganzen waren es bestimmt 500 Seiten Ausdrucke. Zum größten Teil entstammten sie zwei privaten Einhornforschern.

Er hatte beide interviewt. Beide hatten es nur ein oder zweimal gesehen, nervten jedoch alle Leute mit direktem Kontakt, alles aufzuschreiben, sammelten Zeitungsartikel.

Es war wirklich alles dabei, von Schund und Aberglaube bis zu Anatomie und Verhaltensphsychologie. Sogar ein kurzer Aufsatz ,,Sind Einhörner intelligent?" war dabei. (Dabei wurde auch dort in der Einzahl geredet. Außerdem kam der Autor zu dem Schluß, daß die Menschen nicht intelligenter als das Einhorn seien, was wohl die Frage nicht beantwortete.)

Seine Versuche, Termine mit den Leuten zu bekommen, die mit dem Einhorn kommuniziert hatten, waren insoweit erfolglos, als frühestens ab dem 2. 200 Zeit wäre. Die meisten steckten in den Feierlichkeiten zur Jahreswende, auch Jarosch hatte keine Lust, Einhörner um Mitternacht zu jagen, obwohl er ihn erst so enthusiastisch gebeten hatte freizunehmen.

Also beschäftigte er sich weiter mit der Literatur.

Zwischendrin platze die neuste Meldung herein. Die Atmosphäre hatte jetzt 52% CO2, 45% O2, 1,7% N2, 0,8% Ar, 0,3% H2 und ein paar Spurenelemente. Die Luftfeuchte betrug atemberaubende 98% relative Feuchte, was bei der dünnen Luft von 1250 Pascal natürlich immer noch fast nichts war.

Tagsüber hatten sie 259 Kelvin erreicht, für morgen waren 247 Kelvin angesagt, es sollte aufklaren und die Winde einschlafen.

 
Es war Morgen. Es hatte der letzte Tag im zweiten Jahrhundert der Marszeitrechnung begonnen. Heute würde es sich entscheiden, ob man die Hälfte der Station zur Kur auf die Erde oder ob man die Erde hierhin schicken müßte.

Er begann den Morgen mit dem Studium der neusten Ausgabe des Orbit, der besten Zeitung im Sonnensystem, herausgegeben von dem Verlag im Meer der Stürme.

Er hatte in den fünf Tagen, die er jetzt hier war nichts versäumt. Auf der Erde war gerade Ferienzeit auf der Nordhalbkugel, die Zeit in der sogar der Ausdruck des Orbits dünner wurde, wenn man wie er eine Zeitung aus Papier haben wollte.

Er schlenderte durch die Stationstunnel. Heute hatte er Zeit, es war Feiertag. Er würde nur von 11 bis 16 Uhr Notdienst in der Ökologie machen.

Tatsächlich war dies sein erster verantwortungsvoller Job auf der Station. Es machte ihm Spaß, doch pünktlich um 16 Uhr befiel ihn eine leichte Unruhe, als seinen Ablösung sich um ein akademisches Viertel verspätete, hier durchaus nichts ungewöhnliches.

Er jedoch machte sich in das Waldhaus auf. Dort suchte er die Ecke aus, wo eine Felsnadel in das Gewächshaus integriert worden war. An einen Baum gelehnt sah er nach draußen, in die sinkende Sonne. Doch obwohl der Himmel fast blau wurde, da der Staub sich endlich legen sollte, kam es ihm vor, als bliebe die Sonne verschleiert.

An der Wand des Canyons staute sich tatsächlich eine Wolke. Eigentlich logisch, bei so hoher Feuchte und derartig vielen Kristallisationskeimen in der Luft. Dennoch war eine Wolke für den Mars ein höchst ungewöhnliches Ereignis.

Fasziniert starrte er in den Himmel, durch die Glasrechtecke.

Da spürte er neben sich etwas. Er drehte sich um. Dort stand es, leibhaftig neben ihm. Und es setzte sich nieder, sah nach draußen und dann ihm in die Augen.

«Der erste Schnee kommt spät im Jahr.»

Und wirklich, draußen schneite es auf den roten Marssand.


1.1.3561, auf den Planeten NGC 74/65781 II

Das Jahreswendfeuer knackte laut. Der Erzähler hatte gerade geendet. Dann spürte er es. ,,Still!" Raunte er. ,,Seht, dort drüben ist ein Einhorn." Doch es war schon weg.

Lange sprach keiner. Dann fragte der kleinste: ,,Sind die Einhörner den Menschen immer gefolgt."

,,Ja, sie waren immer da. Nur manchmal war unser Herz zu kalt, sie zu bemerken."


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