Jenseits der Gernze von Markus Pristovsek


RBO Regional Bus Oberbayern stand auf der Haltestelle. Da auch Oberbayern fast völlig automobil war, fuhr der Bus nur viermal täglich. Und um die Sache besonders spannend zu machen, lag die Straße in den Wolken, vielleicht 20 Meter weit konnte man sehen. Bei jedem Scheinwerferpaar, das sich näherte, war man bereit auf die Straße zu springen, um einen vermeintlichen Bus zu stoppen.

Die Minuten verstrichen mit dieser Art nervenzerrüttendem Warten. An der Bushaltestelle hatte sich nun schon ein kleines Grüppchen gescharrt, doch obschon 20 Minuten verstrichen waren, kam noch immer kein Bus. Langsam machte sich Nervosität breit. Als der erste wieder gehen wollte, schlich endlich der Bus heran.

Es war ein schöner Reisebus. ,,Im Auftrag des Regensburger VV" stand an der Frontscheibe und klein darunter das Ziel: Straubing. Er quetschte sich mit seinem Gepäck hinein und ging ganz nach hinten, nachdem die acht Mark Fahrgeld berappt waren. Er machte es sich gemütlich, während der Bus durch den Nebel auf kleinen Straßen Straubing entgegenkroch.

An der nächsten Haltestelle stieg noch wer zu, grüßte freundlich den Fahrer (werktäglich 11.40 immer Franz) und ging dann nach hinten. Konnte man es vorher bei dieser grünlichen Not-Nacht-sonstwie-Beleuchtung nur erahnen, so erwies sich die Gestalt als ein etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen. Dies war ziemlich ungewöhlich, für gemein reisen hier so junge Mädchen immer mit ihrer Mutter, überdies wäre jetzt Schulezeit.

Sie wollte sich auf die andere Seite auf die letzte Sitzreihe setzen. Doch da lag sein Gepäck. Sie fragte höflich, also machte er sich daran, es eine Reihe nach vorn zu schaufeln. Dabei sah er ihr in das Gesicht und lächelte. Sie beantwortet das Lächeln. Er erschrak so sehr, dass er den schweren Rucksack wieder fallen ließ. Sie bekam in voll ab.

Sie fauchte ihn erst an und schimpfte: «Idiot, bist wohl meschugge?»

«Entschuldige, ich meine, äh, uff» Denn als sie lächelte, da hatte er in ein Raubtiergebiss gesehen. Und als er sie genauer ansah, entdeckte er noch mehr tierische Attribute: Sie hatte spitz zulaufende Ohren und einen Katzenbart.

Sie lachte. «Achso. Kennst du mich gar nicht? Bist du neu hier?»

«Tourist»

Sie sah auf den Rucksack und die Skier. «Ich hätte es mir denken müssen. Ich bin die Katja.»

«Fredor. Wie, ähm, hattest du das seit der Geburt?»

«Nein. Ich will dir alles erzählen. Aber du must versprechen, es weiterzuerzählen. Ok, also, fast könnte man sagen, es war einmal. Aber Märchen gehen für die Guten gut aus, und in dieser Geschichte gibt es zuviel Gute. Oder zuwenig.

Vor zweiundvierzig Jahren begann das amerikanische Militär Experimente mit dem Ziel, Menschen mit Teilen von tierischen Erbgut zu, naja, züchten. Wider erwarten gelangen diese Experimente recht gut, wenn nicht viel mehr als die halbe Erbmasse in die Zellen eingeschleust wurde. Sieben Opfer erreichten die Pubertät und drei überlebten auch sie, als Menschen. Darunter mein Vater und meine Mutter.

Von diesen drei Überlebenden stammen etwa dreißig menschliche Kinder, etliche Schneeleoparden und ungezählte Leichen. Die ersten Leihmutterexperimente wurden übrigens ebenfalls in dieser Station gemacht. Wir dreißig wurden ganz normal aufgezogen, doch wir hatten jeweils das ganze Erbgut von Mensch und Schneeleopard in unseren Körpern. Bis wir acht waren, merkte man es nur bei zweien.

Dann zum Glück kam das Ende des kalten Krieges, und die Militärs verstreuten uns in alle Welt, um ihre Sauerei zu vertuschen.»

«Aber das ist doch schon fast zwanzig Jahre her.»

«Ja, es gibt schließlich auch noch einen Teil zwei. Wie man aus anderen Kombinationsversuchen wusste, welchseln in der Pubertät die Gene ihre Funktion, die stillen Teile werden aktiv und legen die schlafenden still. Tiere verloren das Fell und wurden menschlicher und Menschen, naja. Man kann da nur eines tun: die Pubertät unterdrücken. Wie alt bin ich?»

«Aussehen tust du wie naja so sechzehn.»

«Ich bin achtundzwanzig. Seit dreizehn Jahren von Pillen abhängig.»

«Wirst du sonst völlig zum Tier?»

«Ich denke nicht völlig. Den einzig Überlebenden, den ich seitdem gesehen habe, lebt in einem Käfig in der Militärakademie irgendwo Wisconsin. Er wollte die Pillen nicht. ,,Ich pfusche der Natur nicht ins Handwerk!", hatte er immer wieder gesagt. Dabei waren wir alle schon verpfuscht. Sein Körper war in Fell gehüllt, wie Schneeleopard. Seine Hände waren verkrümmt und seine Arme und Beine geschrumpft. Ich habe ihn nur noch an den Augen erkannt. Und er hatte den Verstand verloren, er gebärdete wilder als jedes Lebewesen, was ich bisher gesehen hatte.» Sie schluckte. «Dieser Idiot, er hätte nur die Pillen nehmen müssen, dann könnte er heut noch neben mir sitzen.»

«Ich würde gerne deine Ohren berühren.»

«Tu das. Und sieh hier.» Sie krempelte ihren Ärmel etwas hoch. Darunter war ein Fleck dichtes weißes Fell mit schwarzen Tupfen zu sehen und zu fühlen. Es war zweifelsfrei echt. «Es wird immer schlimmer, immer mehr. Der Natur kann man halt nicht ungestraft ins Handwerk pfuschen. Wir büßen für unsere geistigen Väter.»

«Bist du religiös?»

«Kann ich das? Wenn der Pfarrer sagt, ich sei Teufelswerk? Nein, an Gott zu glauben habe ich aufgehört. Ich hoffe auf die Macht der Medizin. Aber mein Arzt will mir keine höheren Dosen verschreiben. Er muss mir einfach mehr geben, deswegen fahre ich heute nach Bogen, denn ich merke, wie sich mein Körper wieder verändert. Es tut unglaublich weh, aber ich bekomme dagegen Morphium, so viel, dass ich neulich, als ich mich verbrannte, es erst gemerkt habe, als es stank. Hier, sieh meinen Finger.»

Ich schluckte. «Ich meine, warum weiß niemand davon?»

«Jeder hier weiß es, aber verdrängt es. Ich sei für meine Sünden bestraft worden, sagen viele. Naja, so richtig glaubt mir keiner. Du glaubst mir doch?»

«Ja, freilich, wie kann man deine Gestalt nur verleugnen, wenn man dich sieht. Und wieso schweigt dein Arzt?»

«Blöde Frage, er hat natürlich Angst um seinen Ruf, denn die Militärs werden natürlich sagen: Unmöglich. Und die Lehrbücher sagen das auch. Aber er hat einen wissenschaftlichen Artikel geschrieben. Die Militärs haben ihn gelesen. Er hat alles so formuliert, als läge dies schon weit, weit zurück. Der Bericht wurde genehmigt. Aber irgendwann werden Journalisten nachspüren und dann kommt endlich die ganze Wahrheit ans Licht.»

Ihm fehlten die Worte. «Wie kann man nur?»

«Gib's zu, es ist auch faszinierend. Ich habe ihnen dafür längst verziehen, wütend bin ich nur, weil sie mir nicht helfen können und wollen. Denn ich habe Angst, seit zwei Jahren kamen keine Briefe mehr von den anderen, also bin ich das letzte Zeugnis für ihre Untaten. Sie hassen mich.»

«Sie haben sie umgebracht?»

«Schmarrn. Das tut schon die Natur. Ich habe, fürchte ich, auch nur noch zwei oder drei Monate als Mensch. An dem Morgen, an dem ich nicht mehr sprechen kann, werde ich mich umbringen.»

Er schluckte. «Oh mein Gott, das ist ... Wahnsinn. Und man kann dir gar nicht helfen.»

«Doch. Erzähle dies allen, die du kennst. Und schreib mir, denn je mehr mich kennen, desto mehr erfahren von der Schweinerei. Wer weiß, was sie sonst noch alles verbergen. Ok, ich muss gleich raus. Hier hast du meine Adresse, schreib mal. Tschüß»

«Tschüß»

* * *

Hier ist also die ganze Geschichte. Der Brief, den er ihr geschrieben hatte, kam mit dem Vermerk: ,,Empfänger verstorben" zurück.


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