Träge fließen die Tage von Markus Pristovsek


Teil 1
Aus der Vergangenheit ...

All ... ... und Erde Gäste Unterwegs Burns

Teil 2
... durch die Gegenwart ...

Kinder & Fohlen Flickers Auszug Nachtzentaur Verschiedene Sire Aufruhr

Teil 3
... ein Aufbruch ...

Frieden Aufbruch
Von den Sternen Geborener
kehrst zu den Sternen du zurück.
altindischer Wede

Kinder & Fohlen

Raissa, Jacko saßen zusammen mit Masoud und Jennifer in einem Turmzimmer und tranken Nachmittagstee. Draußen klopfte, wie hier so oft, der Regen gegen die Scheiben. Den Wiesen und dem Wald bekam es gut, doch die Gemüter litten unter dem trüben Wetter. Es war der 7.1.3424, in einer Woche war der Jahrestag ihrer Landung. Ein Gast und fünf KIs hatten sich angesagt.

Sie diskutierten, wie sie den Jahrestag begehen sollten. Jacko wollte unbedingt auch die Zentauren dabei haben, zumindest Felo und Tariff. Jennifer war nicht begeistert, konnte ihn aber verstehen. Masoud war ein erbitterter Gegner. Er hätte gerne gewusst, warum die KI die Zentauren so hasste. Es schien ein völlig irrationaler Punkt zu sein, Masoud konnte selber nicht sagen, warum kein Zentaur näher als zwei Kilometer an ihn heran durfte. Vielleicht ein Schutzmechanismus, fest verdrahtet aus Kriegszeiten, vermuteten sie gemeinsam. Es schien seltsam, eine KI mit Xenophobie. Sie mussten es akzeptieren.

Also mussten sie ohne die Zentauren feiern. Und wie sollten sie feiern? Sie hatten überlegt, ein Shuttle herfliegen zu lassen. Doch wozu, es wäre drinnen zu eng gewesen. Der nächste Vorschlag war, einen Sternenbogen als holografische Projektion in einer dunklen Kammer aufzubauen. Vielleicht könnten sie dann noch andere Szenen von dem vielen Material zeigen, dass sie aufgenommen hatten.

Weit nach Mitternacht hatten sie endlich den groben Rahmen abgesteckt.

 
Die Feier war voller Erfolg gewesen. Als die Ankündigung bekannt wurde, kamen schließlich über siebzig KIs und zwei echte Menschen. Die Feier wurde für die Nachwelt sogar aufgezeichnet. Erst um zwei Uhr nachts startete das letzte Flugzeug, und es wurde wieder still auf der Burg. Todmüde gingen sie auf ihr Zimmer.

Sie lagen im Bett. Jacko wirbelten die Gedanken durch den Kopf: «Ich habe immer noch ein schlechtes Gefühl den Zentauren gegenüber. Wir haben sie schon länger nicht besucht, dabei hätte Felo ihr Kind eigentlich schon bekommen sollen. Wir haben nicht einmal gesagt, dass wir sie gerne eingeladen hätten, es aber unmöglich war.»

«Hmm?» Raissa wälzte sich herum.

«Ach nichts.»

 
Am Morgen stand sein Entschluss fest. Es goss in Strömen, doch er sattelte Jasmine und ritt in den Schneeregen hinaus. Er trieb Jasmine ein wenig an, aber sie hatte durchaus eigene Vorstellungen von einem angenehmen Tempo. Doch auch sie liebte das Wetter keineswegs, und so waren sie bald an dem Pfad, der zu den Zentauren führte. Der Weg war jetzt bis zum Waldrand gepflegt, sogar einen Wegweiser ,,Zikaku (Salem) 56 Miles (entering centaur region)" gab es.

Die Hütte war schnell erreicht. Sie hatten sie im Herbst vergrößert, hatten auf der einen Seite sogar einen Unterstand für ein Pferd unter dem Überdacht gebaut. Dorthin führte er Jasmine, dann klopfte er an die Tür. Es war alles still, also trat er ein. Die Glühlampe funktionierte nicht, nach dem tagelangen Regen waren die wohl Akkus leer, die Solarzellen waren bei diesem Wetter nutzlos. Er zündete eine Lampe an.

Es hatte der Hütte gut getan, dass Tariff Gesellschaft hatte. Die Wände waren jetzt teilweise verputzt. Mehrere Hologramme hingen an der Wand, sogar der Sternbogen fand sich. Den hatte er Felo zum Geburtstag geschenkt. Der großer Raum hatte mehr Möbel bekommen, eine ganze Regalwand war aus dem einen Regal geworden, das musste ganz neu sein. Die mitgebrachten Lebensmittel sortierte er in den neuen Schrank -- er selber hatte ihn zusammen mit Tariff noch im Herbst gezimmert. Im Herd brannte Feuer, das hatte er auch schon von draußen bemerkt, aber es war niemand da. Er warf eines der mitgebrachten Briketts in den Herd. Die beiden anderen legte er daneben.

Neugierig trat er durch den Vorhang in den niedrigeren Nachbarraum. In viele Decken eingewickelt, lagen dort zwei Zentaurenfohlen. Felo hatte Zwillinge bekommen! Sie konnten höchsten zwei Wochen alt sein, jedenfalls wenn alles nach Plan gelaufen war; doch wären sie Menschen, dann hätte er sie auf fünf oder so geschätzt, wenn sie auch kleiner waren. Beide schliefen fest.

Leise schlich er wieder aus dem Raum. Er hatte Kuchen und Tee dabei, den er jetzt zustellte.

Endlich ging die Tür auf. Tariff kam völlig durchnässt herein. «Jacko!», rief sie und quetsche ihn fast aus. Dann hing sie die nassen Sachen auf eine Haken am Ofen. Er rieb sie mit einem Handtuch ab. Es roch intensiv nach Lavendel, wirklich ein seltsamer Duft für diese Hütte, aber dem Sire Tariff durchaus angemessen. (Auch wenn er das nie laut sagte, er kannte Tariff dafür zu gut.)

«Felo kommt bald. Sie hat eine zweite Kiepe Holz. Das Wetter ist wirklich mies. Schon die dritte Woche nur Regen, die Wege werden unpassierbar, manche der Brücken sind weggeschwemmt. Um so mehr freue ich mich, dass du gekommen bist.»

«Weißt du, vorgestern war der erste Jahrestag unserer Landung. Ich hatte vorgeschlagen, euch einzuladen, aber die Schloss-KI ist xenophob. Eine KI mit psychischen Problemen.»

«Es macht nichts. Viel wichtiger ist, dass du hier bist. Ich freu mich ja so.» Unvermittelt brüllte sie los: «Flicker und Tjanzer, los aufstehen, euer Vater ist zu Besuch.» Er wäre vor Schreck fast hingefallen. Es klingelte noch in seinen Ohren, Tariff konnte reichlich laut sein. Sie lächelte. «Komm herüber, deine beiden Kinder müssen doch ihren Vater begrüßen.»

«Es sind eher deine, als meine; vielleicht drei der vierunddreißig Chromosomen sind noch von mir.»

«Und von Felo? Nein, es sind unsere Kinder, sie haben deinen Nachnamen bekommen. Wir haben ja auch gar keinen. Komm geh' rüber, begrüße sie selber!»

Er sah sie ungläubig an: «Sie können schon reden? Aber sie sind höchstens zwei Wochen alt, oder?»

«Sie sind fast zwei Monate alt. Unsere Nachricht kam wohl nicht an. Jetzt verstehe ich, warum du nicht kamst. Ich hatte mir schon so was gedacht.»

Zwei Monate! Kurz nach dem letzten Besuch. «Es tut mir Leid. Du hattest zwar vermutet, dass es Zwillinge werden sollten, aber wären sie nicht erst jetzt fällig geworden?» Verdammt, was war denn da nun schon wieder schiefgelaufen? Zwei Briefe hatten sie bekommen, Tira lieferte sie immer bei ihren Geschäften mit Bürgern ab und nahm ihre Antworten entgegen. Vielleicht sollten sie einen Briefkasten am Waldrand aufstellen, kam es ihm in den Sinn.

Sie führte ihn in das andere Zimmer. Die beiden Zentaurenfohlen standen auf ihren dünnen Beinen und rieben sich die Augen. Sie waren beide ganz weiß, einer hatte wie Felo schwarze Hufe und einen fast menschlichen Oberkörper. Beide hatten von ihm das Gesicht, wie Tariff meinte. In dem Raum lag ein leichter Lavendel- neben dem normalen Schweißgeruch.

Sie sahen mit aufgerissenen Augen erst zu Tariff, dann zu ihm und wieder zu Tariff. Er kniete sich hin, so dass er mit ihnen auf Augenhöhe war. «Ich heiße Jacko van Klemt», sagte er.

Der erste kam auf ihn zu. «Du Papa?», fragte er. Eine Hand fuhr über sein Gesicht. «Ja, ich bin auch Vater. Wie heißt du?»

«Flicker van Klemt», sagte der Kleine mit den schwarzen Hufen stolz.

Nun kam auch der andere an und drängelte. «Tjanzer van Klemt. Papa?»

«Kommt Kinder, holt euch meine Milch, Felo kommt später.» Die beiden kamen zu Tariff und nuckelten an ihren zwei Zitzen herum, während sie ungerührt am Küchenbord stand und den Tee abgoss. «Wie schön, du hast Kuchen mitgebracht. Schade, dass die Kleinen noch keinen bekommen dürfen. Die sind immer hungrig, und von mir bekommen sie zuwenig. Felo hat auch nicht so viel, diese menschlichen Busen sind zu klein, naja, aber was erzähle ich das dir, du hast ja von ihrem Busen getrunken.»

Es lag keine Verachtung mehr in ihrer Stimme. Dennoch wurde Jacko rot und stammelte einige unzusammenhängende Silben.

Als abzusehen war, dass keine Antwort kommen würde, fuhr sie unberührt fort. «Wirklich unpraktisch. Vielleicht könntest du Trockenmilch mitbringen, wenn du das nächste Mal kommst, das wäre dann auch was für die Kleinen. Möhrenbrei mögen sie leider gar nicht.» Sie lange kurz nach hinten, zog Flicker weg: «Es reicht.»

«Papa trinken?», maulte er.

Er musste lächeln. Doch bevor er etwas sagen konnte, hatte Tariff eingriffen: «Nein», sagte sie resolut. «Papa ist Menschenmann. Ihr könnte von ihm nicht trinken.»

«Durst, Tariff», maulte jetzt auch Tjanzer.

«Gleich. Draußen ist ein Pferd. Kommt, geht kurz mit Papa gucken.» Zu Jacko gewandt fügte sie noch hinzu: «Ich decke so lange. Sie brauchen ein wenig Abkühlung. Pass auf, dass sie sich nicht zu dreckig machen. Und nicht zu lange, ihr Fell ist noch dünn.»

Fast hätte er ,,Ja, Mama" gesagt. Mit gemischten Gefühlen ging er hinaus. Als er die putzigen Zentaurenfohlen mit ihren langen dünnen Beinchen und dem Babyflaum herumtollen sah, da lachte ihm das Herz. Natürlich liefen sie erst einmal los. Aber noch konnte er leicht mit ihnen mithalten. Zweihundert Metern war weit genug, fand er. «Halt! Flicker und Tjanzer, Halt!» Sie wollten nicht hören, doch es gelang ihm, sie zu fassen. Und noch konnte er zum Glück beide halten.

Gezwungenermaßen blieben sie stehen und maulten. Doch schnell war das wieder vergessen, als er ihnen Jasmine zeigte. Jasmine war sehr gutmütig, ließ sie sogar trinken. Was hatte er für eine Angst dabei! Endlich waren sie satt und auch müde. Flicker schlief fast im Stehen ein und wäre fast eingeknickt. Er wollte ihn erst tragen; doch abgesehen von dem Gewicht, wollte dann auch Tjanzer getragen werden. In der Wärme der Hütte schliefen sie dann sofort ein, noch während Tariff und er sie säuberten.

 
An diesem Abend stand sein Entschluss endgültig fest. Es dauerte lange, bis Raissa endlich überzeugt war, doch er war ein Bürger, also trieb er das ganze voran. Mit dem Besuch von Raissa bei Flicker und Tjanzer bröckelte auch ihr Widerstand endgültig dahin. Sie würden die von der vereinigten Räten der Länderbünde von Nord-, Mittel- und Osteuropa sowie der britischen Inseln vorgesehene Entlohnung für ihren Flug doch bekommen: ihr eigenes Haus, näher bei den Zentauren. Bald hatten sie einen geeigneten Standort gefunden. Es würde direkt an der Küste liegen, immerhin noch fünf Kilometer von den Zentauren entfernt. Weit genug, dass keine KI daran Anstoß nehmen konnte.

Im Sommer kam das Bauschiff. Es goß ein Fundament und darauf wurden die vorgefertigten Wände befestigt. Gegen Herbst konnten sie einziehen. Das Haus war einem schwedischen Holzhaus nachempfunden, rot mit großen Fenstern und weißen Fensterrahmen, das Dach war mit Holzschindeln gedeckt. Von der Vordertür ging es auf die Felsen hinaus, ein Steg führte in den Pazifik.

Die Zentauren kamen so in den Genuss eines richtigen Stromanschlusses, den sie von Raissa und Jacko zur Hütte legten. Die Zentauren revanchierten sich, in dem sie halfen, einen großen Garten anzulegen. Den Weg zwischen beiden Häusern wurde mit Bohlen befestigt und teilweise mit Kies ausgeschüttet. Einmal im Monat besuchte sie Jennifer, auch Masoud war ein paar Mal da. Aber täglich sahen sie die Zentauren, mal bei ihnen und mal bei sich zu Hause.

Bei so viel Nähe und Nachbarschaft blieb ein Problem: Wie stellten sie sicher, dass sich Zentauren und KIs nicht begegneten? Die Lösung, immer vorher anzurufen, war zwar nett, scheiterte aber an zu wenigen Computern. Schließlich hatte sie die geniale Idee, Flaggensignale zu geben. Wehte an dem weißen Fahnenmast vor dem Haus die schwedische Europaflagge, dann war eine KI zu Gast. Und keine KI besuchte sie unangemeldet, sie hatten deswegen Händlerstatus bantragt und bekommen, auch wenn sie gar nicht handeln wollten.


 
Es war dunkel, nur von fern sah man Feuerschein. Fast automatisch ging Tjinka zwischen den Bäumen hindurch. Dabei krachten natürlich reichlich Äste, und er schürfte sich die Seite noch mehr auf. Doch umdrehen konnte er sich erst recht nicht, er konnte nur voraus. Dann wurde der Wald lichter, er sah jetzt das Ziel: An einem Lagerfeuer lag halb ausgestreckt ein großer brauner Zentaur. Er hatte ihn natürlich gehört und winkte ihm zu.

«Komm näher, wer immer du auch bist. Ich heiße Taljot(sie).» Sie musterte ihm. Ein sehr dreckiger, kleiner aber kräftiger und vermutlich fast volljähriger blauer Zentaur stand da. Er hatte schon mehrere Narben, ein große war zwischen den Vorderbeinen, wie von einem schlecht angepassten Geschirr. An vielen Stellen wuchs das Fell büschelhaft, herauf bis zu den Knien war er von Wunden und Kratzern übersät. Der Körper war aufgedunsen, er zitterte leicht. Er war nackt. Sie fröstelte bei seinem Anblick.

Erleichtert fiel er mehr zu Boden, als dass er sich legte. Sie sahen sich nur einen Moment in die Augen. Er bot einen schrecklichen Anblick so zerkratzt, verfilzt und verdreckt, wie er war. Aber auch ihr war die Wildnis deutlich anzusehen.

Er war froh, wieder mit einem Zentaur zu reden. So konnte er den Fluss der Worte kaum stoppen, obwohl er eigentlich nicht mehr reden sollte: «Ich bin Tjinka(er), eigentlich schon seit zwei Wochen. Das heißt, offiziell bin ich gar nichts, ohne ID. Ich meine, ich bin schon volljährig und so, das schon. Aber ich bin blau, wie du siehst, mein Fell hat ein schönes Stahlblau. Nicht so praktisch wie weiß, gebe ich gerne zu. Aber bei uns in der Siedlung waren fast alle blau, bis auf die Familie, der der Boden gehörte. Für sie haben wir gearbeitet, das heißt eigentlich für uns, doch wegen der Schulden haben sie fast alles bekommen. Sie waren braun, wir sollten sie trotzdem Sire nennen.»

Sie hörte ruhig zu. Er stützte sich eine Moment ab. Es war in dem schwachen unsteten Licht schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie reichte ihm einen Becher Tee. «Die Narbe zwischen den Vorderläufen ist sicher ein Zeugnis davon. Tatest du es?»

«Was?»

«Hast du die Braunen Sire genannt?»

«Nein, ich hab es nie getan, wir sind alle freie Zentauren, welche Farbe wir auch haben. Oder etwa nicht? Nein, die Zentauren haben gekämpft für die Freiheit, auch die Blauen hatten gekämpft. Ich weiß nicht soviel, wie das genau war, als wir noch Sklaven waren. Die sagen immer: ,,Sie waren grausam." Die Menschen natürlich. Wenn ich dann frage, was sie getan haben, dann wissen die immer keine Antwort, nur ,,Sie haben uns wie Tiere behandelt." Schön, und unsere Sire? Die geben uns nicht einmal eine ID. Dabei sind sie doch dazu verpflichtet, hatte mir einmal jemand gesagt.» Er blickte sie fragend an.

Sie schien seine Geschichte wirklich zu interessieren. «Ja, doch was nützt das, wenn ihr sie trotzdem nicht bekommt. Du bist deswegen weggelaufen?»

«Am Tag nach meiner Volljährigkeit. Habe mich seitdem mit Blättern und Gras durchgeschlagen.» Das erinnerte ihn wieder an den schrecklichen Geschmack und vor allem an den schrecklich aufgeblähten Bauch. Plötzlich spürte er wieder jede kleinste Unebenheit. Er musste aufstoßen, ihm wurde davon übel. Schnell fügte er hinzu: «Besser als wieder für die Sire zu arbeiten ist es aber doch.»

«Du hast das Gras vermutlich nicht gemahlen? Den Fehler machen viele. Ich werde dir etwas dagegen kochen. Haben sie dich einfach gehen lassen?»

Es dauerte immer einen Moment, bis die Worte bei ihm ankamen. «Sie wollten mich natürlich nicht gehen lassen, meine Eltern nicht, erst recht nicht diese eingebildeten Sire. Sie sagten, ich müsse erst die Schulden meiner Eltern bezahlen, dann bekäme ich auch meine ID.»

Sie schnaubte. «Genauso hatten es damals die Menschen mit den Zentauren gemacht. Haben deine Eltern eine ID bekommen?»

Er blickte einen Moment verwirrt drein. «Äh, nein, ich meine, wenn sie Schulden hatten -- ich meine, sonst hätte ich ja keine Schulden?»

«So einfach ist es auch nicht.» Sie seufzte. «Schulden dürfen nur innerhalb der gleichen Generation vererbt werden. Wenn deine Eltern tatsächlich echte Schulden haben, dann bist du trotzdem frei.»

Er strahlte: «Genau das habe ich mir auch gedacht. Ich bin auch so los, die ersten zwei Tage bin ich, solange ich konnte, galoppiert. Dann habe ich das erste Mal geschlafen. Erst als ich aufwachte, merkte ich, das ich die Gegend überhaupt nicht kannte. Naja, und so bin ich dann weiter gezogen, solange es ging an Äckern.»

«Und hast du ein Ziel?» Sie rührte in dem Topf, den sie vorhin auf das Feuer gestellt hatte.

«Ich würde gerne Sire Rigan mit seinem Gefolge, der blauen Felo und dem Mensch Jacko kennenlernen. Der erste Sire, der wieder hierher kam, vielleicht kann dieser die Sklaverei beenden.»

«Ich fürchte, ich weiß nicht ganz, was du meinst. Du musst wohl etwas mehr erzählen, damit ich das verstehe.» Tjinka sah sie verwundert an. «Na los, ich bin nur ein alter Tramp, ich höre selten was Neues», ermuntere sie ihn (obwohl natürlich kein vernünftiger Zentaur das einem Tramp abnehmen würde).

«Ich weiß nur ganz wenig. Vor dem Kometen ist doch das erste Zentaurenschiff gelandet, mit den Sire. Und die Menschen haben sie eingefangen, haben sie gezüchtet. Nur die Triade Tjess entkam. Du kennst die Geschichte nicht?» Er sah sie ungläubig an.

«Erzähle sie einfach. Ich werde dir danach sagen, was ich weiß.»

Unsicher fuhr er fort: «Naja, die drei Sire versteckten sich so gut es ging vor den Menschen und sammelten Zentaur in dem Wäldern. Sie überfielen einzelne Dörfer, bald waren es vierzehn Zentauren. Ihre Anführer war die Triade, Sire Robin, Rary und Tom. Ihr habt wirklich nichts davon gehört?»

«Doch, schon. Geschichten von Robin kenne ich.» Allerdings verschwieg sie ihm, was sie wirklich wusste. Die Idee, aus Robin Hood den Zentauren Sire Robin zu machen, fand sie zu gut.

«Die Menschen ließen die Zentauren schwer arbeiten, so schwer, bis sie blau anliefen, wie Stahl, der zu heiß wird. Doch dann kam der Tag, als Robin aus den Wäldern kam, Hunderte von Zentauren folgten ihm, und sie verjagten die Menschen endgültig, um frei zu leben.

Naja, und so vor einem Jahr kam dann wieder ein Raumschiff, das was nach den ersten Sire suchte. Die Menschen haben es natürlich verdreht und behauptet, das Schiff wäre von ihnen. Sire Rigan konnte ihnen aber entkommen, Jacko hatte dabei geholfen. Dafür durfte er sich anschließen. Auch Felo, ein Zentaur, der von Menschen geboren wurde und Tira, ein Handelszentaur haben sich ihr angeschlossen. Doch die meisten glaubten Sire Rigan nicht, also ist dieser wieder zu dem Schiff gegangen und repariert es. Ich will mich ihnen anschließen.» Er sprach aus tiefster Überzeugung.

«Ich habe eine andere Geschichte gehört. Aber es ist gut, ein Ziel zu haben. Es gibt einen kleinen Haken.» Sie sah ihn mitleidig an. «Weißt du denn, wo sie wohnen?»

Die Frage war ihm sichtlich peinlich. «Im Nordwesten wird gesagt.»

Sie lächelte. «Gut, ziemlich genau dreitausend Kilometer weiter im Nordwesten gibt es die Siedlung Zikaku. Dort in der Nähe ist ihr Haus.» Sie machte eine längere Pause. «Wenn du willst, werde ich dich ein Stück begleiten.» Er war mit einem Satz bei ihr und umarmte sie, dabei lag sie immer noch. Sie ließ es eine ganze Zeit lang geschehen, dann nahm sie seine Arme weg. «Komm, jetzt ess erst mal die Buchenblättersuppe mit meinen Geheimkräutern. Danach werden deine Blähungen etwas nachlassen. Und das nächste Mal kaust du richtig, wenn du Grünzeug futterst.»

Die Suppe schmeckte lecker. Gierig aß er sie auf. Inzwischen versuchte sie vorsichtig, sein Weltbild wieder etwas zurechtzurücken. «Hast du je von der Kolonie Kiamba gehört?»

Er sah verwirrt zu ihr, schüttelte langsam den Kopf.

«Es sind Menschen, die wie Zentauren leben. Sie treiben Ackerbau zusammen mit Zentauren. Dort kann man dir richtig helfen, ich bin nur ein Tramp. Und dort kannst du dann auch deinen Eltern helfen, dass die Braunen ihre Sklaverei beenden müssen. Das ist doch sicher sehr wichtig?»

Er war gerade fertig und stellte den Topf hin, sah sie an: «Natürlich, wenn das geht. Aber danach»

Sie legte die Hand auf seine Schulter. «Danach bist du richtig frei. Doch zuerst solltest du rasten. Drei Tage mindestens, denn wenn jetzt der Regen kommt, und das wird er bald, dann wirst du richtig krank. Leg dich hin.»

Doch er hörte es schon nicht mehr, er schlief fest. Der Kräutersud wirkte schon. Sie legte eine Decke über ihn.


 
Flicker kam angaloppiert. Es sah lustig aus, wenn er so schnell lief. Er war jetzt ein Jahr und einen Monat alt. Zum Winterbeginn hatte er sein erstes richtiges Fell bekommen. Auch sah man jetzt, dass er von Felo den geteilten Schweif geerbt hatte. Es war das kräftigere der beiden Fohlen, zumindest sah es so aus. Vielleicht war Tjanzer auch nur fauler, jedenfalls lief Flicker öfter als Tjanzer zu ihrem Haus. Außerdem war ausgerechnet er, der Mensch Jacko, Flicker größtes Vorbild.

«Papa, Papa», rief es auf Englisch. Zu ihnen sprach es immer Englisch, es sprach es fast besser als Zentaurisch. «Papa, Besuch. Komm, schnell.»

Dabei konnte Jacko mittlerweile gutes Zentaurisch: «Besuch? So eiliger Besuch? Wer denn?» Er legte die Gartenschere aus der Hand. Welcher Besuch könnte es eilig haben? Und warum sollte ein Besucher von Tariff oder Felo ihn so dringend sprechen wollen? Flicker hatte sicher etwas missverstanden. «Wer denn?»

«Es war» Flicker wedelte mit den Armen in der Luft. Vor Aufregung wechselte es wild zwischen Zentaurisch und Englisch hin und her. «Felo sagte, er ist, schwierig, vergessen, sagen, schnell, trabe zu euch. Es ist, vergessen, es ist aber wichtig. Komm!»

«Schon gut, ich komme gleich.» Er ging in das Haus, legte die Gartenschere an ihren Platz, holte sich ein Regencape für alle Fälle und schrieb einen Zettel für Raissa, die gerade zu Besuch bei Jennifer war. Dann ging er wieder heraus. Flicker tänzelte draußen unruhig. Wie ein Hund, lief es am Anfang immer ein Stück voraus, und wenn Flicker dann bemerkte, dass er nicht schneller lief als vorher auch, wartete es oder kam wieder zurück. Schließlich lief Flicker unruhig neben ihm her.

Als sie noch einen guten Kilometer weg waren, da galoppierte Flicker voraus, um Bescheid zu sagen. Doch es regnete nicht, es stürmte nicht: Also gab es keinen Grund zur Eile, entschied Jacko. Fröhlich ging er mit seinem Tempo weiter.

Sie standen alle vor der Hütte: Tariff, Felo, Tjanzer, Flicker und Tira, wie schön ihn zu sehen, und ein Fremder: der Grund für die Eile, vermutlich. Sie begrüßten sich herzlich, schließlich stellten sie den Fremden vor: Er hieß Tjebendrik(sie). Sie hatte sich Tira angeschlossen, um zu Tariff zu kommen. Doch eigentlich wolle sie ihn, Jacko, sprechen, allein oder auch mit Tariff zusammen.

Sie gingen etwas abseits, liefen schweigend nebeneinander. Schließlich begann Tjebendrik: «Ich weiß nicht, wieviel du über die Zentauren weißt, immerhin kennst du Tariff, wobei es jedem Zentauren unverständlich bleiben wird, warum du Felo ihr vorgezogen hatten; aber deswegen bin ich bestimmt nicht hier. Wie gut kannst du schweigen? Gegen Bürger und gegen Zentauren leider auch. Di darfst nichts erzählen von dem, was ich dir anvertrauen soll. Kannst du das?»

Er war ziemlich verwirrt von dieser konfusen Eröffnung. Sie liefen ein Stück weiter. «Ich denke schon. Ich hoffe aber, dass ich nichts von schrecklichen Massakern hören werde.»

Tjebendrik blieb einen Moment stehen, sie war völlig perplex. «So weit ich weiß, wird nichts dergleichen verheimlicht. Frag Tariff. Ich wollte auf etwas anderes heraus: Du weißt, dass es einige KIs gibt, die den Zentauren dienen?»

Er nickte. Tjebendrik fuhr fort: «Die Bürger glauben, es sind drei. Tatsächlich, sind es zwei mehr. Wir haben ein großes Geheimnis daraus gemacht wieviel es wirklich gibt.» Sie lächelte. «Vielleicht ist fünf auch falsch. Es ist fast eine Legende geworden. Eine davon lebt angeblich unerkannt unter Bürgern.»

«Ein Spion? Sie wollen mich als Spion?»

«Nein, lass mich ausreden. Ihr seid dazu als zu zentaurenfreundlich bekannt. Die KIs sind das, was man eine Regierung nennen könnte. Ihnen stehen drei Sire und ein zehnköpfiges Beratergremium zur Seite. Die KIs möchten mit dir reden. Ich habe einen Brief von ihnen. Du musst darauf bitte noch heute antworten, ich werde ihn dann wieder mitnehmen. Ich selbst weiß nicht, was in diesem Brief steht.» Sie holte aus ihrer Satteltasche den Umschlag. Er war mit drei Siegeln versiegelt. Auf dem Umschlag stand: ,,Für Jacko van Klemt."

Tariff wollte sich gerade abwenden und der weglaufenden Tjebendrik folgen, doch er hielt sie am Ärmel fest: «Warte. Du bist doch ein Sire. Bist du dann auch ein Teil der Regierung?»

Sie seufzte resigniert. «Ich war es. Hätte das Amt irgendwas bedeutet, hätte ich etwas bewegen können, dann wäre ich nicht davongelaufen. Zeig doch mal den Brief.» Er reichte Tariff den Umschlag. Sie hielt ihn deutlich vor sich: «Du siehst drei Siegel. Eines ist das Siegel des Volkes, das sind die zehn Berater. Die werden ernannt. Ganz rechts ist das Siegel des Geistes: die drei KIs. In der Mitte ist das Siegel der Schönheit, das Siegel, das die weißen Zentauren bewahren. Allein diese Bezeichnung sollte dir genug zu den Möglichkeiten der Sire sagen. Wenn du willst, helfe ich dir bei einer Antwort.»

«Dazu müssen wir erst einmal feststellen, was drinsteht. Bitte bleib einfach, Ok?» Er öffnete den Brief. Es war handgeschriebenes Zentaurisch. Der Inhalt war nach dieser großartigen Ankündigung eine Enttäuschung:

,,Herzliche Grüße im Namen der amerikanischen Zentauren! Wir würden gerne regelmäßig mit dir Verbindung halten. Stimmst du telefonischen Kontakten zu? Ich bitte dich, niemanden zu erzählen, dass ihr Kontakt mit den KIs habt. Es sind auch so schon die wildesten Gerüchte im Umlauf. In einer Geschichte ist Sire Rigan, oder Tariff, ein Erlöser, eine Gestalt ähnlich des Jesus oder Mohammeds der alten Kirchen geworden. Ich weiß nicht, was Tariff tun wird, wenn er auf diese Weise wieder in die Politik hineingezogen wird.

Grüß bitte Tariff von Sire Raldron. Sag Tariff, Sire Raldron würde alles tun, damit der schönste, schnellste und klügste Zentaur, der je das Licht der Welt erblickt hat, wieder zurückkommt. Er hat erkannt, wie dumm er war."

«Stimmt es? Sire Rigan?» Antwort suchend sah er zu Tariff, doch diese warf ihm so böse Blicke zu, dass er schluckte. «Sie haben es tatsächlich gewagt, den Namen Rigan zu verwenden? Zeig her!» Sie riss ihm den Brief aus der Hand: «Diese Schweine, ich»

«Halt!», rief Jacko dazwischen. «Bitte, es tut mir Leid. Ich verstehe es zwar nicht, aber wenn du nichts erzählen willst, dann»

«Da gibt es nicht viel zu erzählen. Jeder Sire bekommt spätestens bei der Ernennung einen Sire-Namen, einen der mit R beginnt.» Sie seufzte. «Lehn es bitte ab. Regieren ist ein schmutziges Geschäft, und genau das tust du, auch wenn du nur berätst. Und dir fehlt die zwischenliegende Geschichte. Reich ihnen den kleinen Finger, und sie ziehen dich über den Tisch. Und denk an die Fohlen! Was ist das für eine Familie, wo zwei Väter regieren sollen?»

Er sah es entschieden weniger dramatisch: «Was ist an einem Telefon so schlimmes? Man braucht ja nicht immer abzuheben.»

«Und wozu überhaupt ein Telefon? Was gibt es so eiliges, das man nicht mit einem Brief klären könnte? Bitte, lehn ab. Ich hab Angst, wieder in die ganze Politik hineinzugeraten. Denk an die Warnung im Brief. Wenn die KIs schon warnen! Stell dir vor, sich ständig verstecken zu müssen. Denk an Flicker und Tjanzer.»

Er musste lächeln. «Weißt du Tariff, du warst bestimmt ein guter Politiker, so gut wie du Leute überreden kannst. Aber du hast Recht, was gibt es so eiliges, das man nicht per Brief erledigen kann, es sei denn, um im Tagesgeschehen mitzumischen. Gegen etwas Post hast du aber wohl kaum etwas einzuwenden?»

Er schrieb fünf Zeilen. Sofort machte sich Tjebendrik mit der Antwort wieder auf den Weg. Endlich konnten sie das Wiedersehen mit Tira feiern.


 
Tjinka hatte sich erstaunlich gut erholt. Während er drei Tage geschlafen hatte, hatte Taljot das verfilzte Fell ausgebürstet. Die Wunden heilten schnell waren, das Fell war dicht und gleichmäßig und verdeckte viel. Die Mähne stand sogar fast eine Handbreit hoch, wenn sie gut gebürstet wurde.

Taljot lehrte ihn, Gras und Blätter richtig zu kauen. Jetzt wo sie wieder Gesellschaft hatte, jagte sie auch häufiger Kaninchen. All das hatte aus dem zerschundenen, aufgedunsenen und schmutzigen Zentaur einen immer noch kleinen, etwas mageren aber kräftigen und trotz allem, recht attraktiven jungen Zentaur gemacht. Nur war er blau; außerdem hatte sie schon ein Kind, womit alles in dieser Richtung frühzeitig geklärt war.

Es regnete in Strömen. Sie waren nass bis auf die Knochen. Dennoch war er guten Mutes, er lief immer noch nackt herum. Wie die Blauen soviel innere Hitze haben konnten -- sie fror.

«Es ist ein großes Glück, dass ich dich gefunden habe. Ohne dich wäre ich längst wieder auf dem Hof», sagte er wieder einmal.

Sie murmelte etwas unverständliches.

«Ich kann es einfach nicht oft genug sagen: Du bist so schön, angesehen und weißt so viel.»

«Es reicht wieder. Ich bin achtunddreißig, ich bin bestimmt nicht mehr schön und erst recht nicht angesehen. Wir sind Tramps, falls du dass vergessen hast. Wir sind der Abschaum der Gesellschaft. Du bist in schlechte Gesellschaft geraten.»

«Es macht Spaß, Abschaum zu sein.» Er fiel in leichten Trab.

Sie seufzte. Verdammt, der Kleine musste endlich das richtige Leben kennenlernen. Und dabei war er ausgerechnet auf so einen alten Tramp wie sie gestoßen. Sie beschleunigte auch.

 
Zwei Tage später waren sie in Kiamba. Der erste Mensch, den Tjinka sah, war ein Schock für ihn. Er ritt auf einem blauen Zentaur. Abwartend blieben Taljot und Tjinka stehen.

Wenige Schritte vor ihnen sprang der Mensch vom Zentaur. Beide waren ungefähr so groß wie Tjinka. Der Mensch und der andere Zentaur hatten beide das gleichen Hemd an, beim Menschen jedoch war es so lang wie ein Mantel. «Sie tragen eine Kutte, es sind Mönche», raunte sie ihm zu. Dann standen sie sich gegenüber.

«Willkommen in Kiamba», begrüßte sie der Mensch in akzentfreien Zentaurisch. «Ich bin Pete Smith(er) und sie ist mein Partner Tjankot(sie). Der dritte Partner aus unserer Triade, Tjikki(er) ist im Dorf.»

«Ihr seid gerne unsere Gäste. Wie heißt ihr denn?», fragte jetzt der Zentaur.

«Ich bin Taljot(sie) und das ist Tjinka(er). Wir nehmen eure Gastfreundschaft gerne an», antworte Taljot für sie beide, da Tjinka keine Anstalten machte zu reden. Er machte nicht einmal ein freundliches Gesicht.

Der Mensch stieg wieder auf. «Ich weiß, manche Zentauren empfinden Menschen zu tragen als Rückfall in die Sklaverei», sagte Tjankot zu Tjinka. «Doch ich lasse Pete gerne reiten, schließlich sind wir Partner. Außerdem würde es sonst länger dauern, bis wir am Heim wären.»

Tjinka hörte nicht recht zu. Sie liefen los. Taljot und Tjankot liefen nebeneinander, Tjinka lief immer voraus und wartete dann auf sie, um so seiner Verachtung für die wegen des Menschens langsamere Tjankot Ausdruck zu verleihen.

«Schade, dass ein so schöner Zentaur wie er so viele Vorurteile hat», sagte Pete.

Taljot antwortete für Tjinka. «Er ist erst vor kurzem der Sklaverei unter Zentauren entflohen. Er hat sonst kaum etwas von der Welt gesehen. Gebt ihm etwas Zeit.»

«Aber hübsch ist er wirklich. Er wird die Fantasie einiger Zentauren auf Trab bringen.» Tjankot kicherte.

 
Als sie in die Kolonie kamen, da hatten sich die anderen schon im Haus des Reisenden versammelt. Es waren drei Menschen und Pete, doch siebzehn Zentauren. Taljot war eindeutig der stattlichste von allen, der Rest hatte als Vorfahren nur Menschen und blaue Zentauren gehabt. Sie waren alle nicht größer als Tjinka, alle hatten sie spitze Ohren, schwarze Hufe und geteilte Schwänze. Doch keiner war so kräftig wie Tjinka, aber ein Zentaur ragte dennoch aus ihnen heraus: er hatte ein Fell wie Gold.

Beim Hineingehen begegneten sich die Blicke des goldenen Zentauren und Tjinkas. Tjinka stürzte fast, musste sich mit den Händen abstützen. Auch der goldene Zentaur kam mit gefesselten Blick auf sie zu. «Ich bin Tjina(sie).»

Da Tjinka nur den Mund auf und zu machte, antwortete Taljot: «Ich bin Taljot(sie) und das ist Tjinka(er).»

Als Tjina das hörte, da veränderte sie ihr Lächeln noch mehr.

«Glb», sagte Tjinka. Er versuchte es noch einmal. «Ich bin, äh, Tjina, du.» Er verstummte. «Siehst schön aus», sagte er schließlich.

 
Taljot blieb noch drei Tage. Als bekannt wurde, dass Tjina schwanger war, da verließ sie die Kolonie wieder still und leise, wie es eben die Art eines Tramps war.

 
Die Lebensweise der Kolonie hatte Tjinka nie richtig akzeptiert, dennoch hatte er sich einigermaßen eingelebt. Die anderen akzeptierten ihn ohne Vorbehalt, schließlich gab es hier nur blaue Zentauren, und er war der Stärkste von allen. Doch es fiel Tjinka nicht leicht, das Reiten der Menschen auf Zentauren, die Arbeit von Zentaur und Mensch gemeinsam für das Wohl des Hofes zu akzeptieren. Aber schwere Landarbeit, das war er gewohnt, und so zog er mit dem Pflug Bahn um Bahn die Furchen.

Als das Frühjahr kam, wechselte Tjinka, von der schwangeren Tjina angesteckt, in die weibliche Phase. Es war das erste Mal, seltsamerweise empfand Tjinka es als Belastung. Sie wurde noch mürrischer, arbeitete noch verbissener. Doch die Lobe der anderen gingen an ihr vorbei.

Es war Erntedank. Der Sommer war gut gewesen, die Ernte reichlich. Es war ein ausgelassenes Fest. Sogar Tjinka taute auf und feierte mit, auch wenn sich Tjina früh mit Kopfschmerzen verabschiedete. Tjinka jagte mit den anderen einmal um das Feld; die schnellste war sie nicht. Dafür schlug sie jeden anderen Zentaur beim Tauziehen.

Als sie im Morgengrauen in das Haus, das Tjina und sie bewohnten, zurückkehrte, da war Tjinas Leichnam schon kalt. Schreiend galoppierte sie, ohne sich umzudrehen, in die Wildnis hinaus.


 
Das Frühjahr kam. Flicker hatte es sich in den Kopf gesetzt, genauso stark wie Jacko und Raissa zu werden. Es versuchte Klimmzüge an Ästen und lief öfters mit einen Stein als Gewicht herum. Als jedoch auch nach zwei Wochen Jacko es immer noch beim Ringen schlug, schliefen diese Aktivitäten wieder ein. Dafür tobte es zusammen mit den anderen Zentauren und den Menschen ihre Kraft auf den Felder aus.

Es war Mai, als wieder ein Brief eintraf. Er war allein mit dem Siegel des Geistes verschlossen. Doch war der Inhalt keineswegs überraschend: Er wurde um einem Bericht ihres Raumfluges gebeten. Es könne ruhig etwas dauern, aber wenn es ginge, dann so umfassend wie möglich. Raissa zog die Arbeit an sich; in ihr war die Wissenschaftlerin nicht verschwunden. Schließlich waren die Ergebnisse ihrer Reise bisher nicht systematisch ausgewertet worden. Es wurde Sommer, doch war bei der Fülle an Messungen, die sie während des Fluges gemacht hatten, noch kein Ende abzusehen. Also schrieb sie einen freundlichen Brief, dass es wohl noch ein wenig dauern würde. In einem Raum im Haus wurden einige Computer, Drucker, Projektoren und anderes Gerät gestellt. Hier verschwand Raissa für ganze Tage.

So recht konnte er sich nicht für den ganzen Datenwust begeistern; er war mehr ein Mensch der Praxis. Und so baute er lieber kleine Spielereien für Flicker und Tjanzer. Sein größer Stolz war ein ferngesteuertes Segelboot. Aber genauso gern spielte er einfach so mit den beiden Fohlen. Am besten ging Einkriegen in einem beschränkten Gebiet; der Vorteil der Zentauren, schneller laufen zu können, wurde dann durch die bessere Beweglichkeit des Menschen kompensiert. Alle hatten dieselben Chancen. Fast genauso gut waren Ballspiele geeignet.

Und Flicker war kitzlig. Wenn er das Fohlen zwischen den Vorderbeinen erwischen konnte, dann sank Flicker fast reflexartig in die Knie. Es versuchte, sich zu wehren, doch meistens wälzte es sich dann laut lachend auf dem Boden und schlug mit Vorderbeinen und Armen um sich. Jacko musste aufpassen und einmal hatte er auch einen Tritt abgekommen. Trotzdem konnte er so Flicker immer noch niederringen.

Als es Winter wurde, begann Flicker wieder mit seinem Krafttraining. Daraufhin fing Tjanzer an, weite Dauerläufe zu machen. Diesmal hielten sie länger durch. Jetzt stachelten sie sich gegenseitig an. Rief Flicker: «Ich bin viel stärker als du!», dann konterte Tjanzer: «Zeig's mir!», und lief weg, so dass Flicker es nicht einholen konnte. Als erneut das Frühjahr kam, da begann sich bei beiden Wirkung zu zeigen. War Flicker schon immer etwas kräftiger gewesen, so sah man es jetzt sofort. Dafür ähnelte Tjanzer jetzt umso mehr der eleganten Linie von Tariff.

Im Frühjahr war Raissa endlich mit der vorläufigen Auswertung alle Daten fertig geworden. Sie schrieb einen über fünfhundert Seiten langen Bericht, dazu gab es viele viele Daten, Holos, Diagramme. Sie schickten es los. Dazu gab es Kopien von allem, was sie überhaupt an Material hatten, auch von Belanglosen, von den ,,Regeln über den Sprechfunkverkehr im erdnahen Weltraum" bis zu Holos von ihren Großeltern. Selbst komprimiert waren es gut hundert Kilo. Den Kurier mussten sie im voraus bezahlen.


 
Tjinka war nach Osten galoppiert. Sie merkte es erst, als sie wieder an einen der bekannten Plätze kam, einen See, den sie auch mit Taljot besucht hatte. Ihr Ziel war klar, sie würde die Sklaverei ihrer Eltern beenden. Nur die Mittel dazu waren ihr nicht klar.

In der Kolonie hatte sie einen Brief an die KIs geschrieben. Doch er war nie beantwortet worden. Sie musste die Sache also selbst in die Hand nehmen. Unschlüssig näherte sie sich mit weiten Umwegen dem Hof.

Der Winter war schneller. Er kam über Nacht. Sie torkelte durch den Schneesturm, fand zum Glück bald einen Hof. Man war nicht erfreut, ließ sie dennoch herein.

Sie hatte sich entschieden: Sie würde den Winter auf dem Hof mit ihren Eltern verbringen. Vielleicht kam ihr bis dahin eine Idee.

 
Es war noch einen gute Woche direkter Weg. Gut vier Wochen vor der Wintersonnenwende tauchten die vertrauten Umrisse des heimatlichen Hofes auf. Alle dachten, sie wäre wegen des Wetters zurückgekehrt. Immerhin erinnerten sie sich. Auch ihre Eltern freuten sich, schimpfte aber zugleich mit ihr, dass sie sie so einfach in Stich gelassen hatte.

Die braunen Sire freuten sich nicht. Die Sire wollten ein Exempel statuieren. Sie wurde öffentlich ausgepeitscht. Fünfzig Peitschenhiebe, der Rücken war blutig, ihre Mähne zerfetzt. Doch sie schrie kein einziges Mal, aufrecht ging sie nach Hause, wo sie zusammenbrach. So würden sie sie nicht brechen können. Ihre Pläne für die Braunen enthielten inzwischen auch Mordgedanken. Sie freute sich auf das Frühjahr.


 
Außer einem Brief des Dankes erhielten die Bürger van Klemt keine neue Post der KIs mehr. Auch sonst hatten sie Ruhe, nur selten kam ein Bürger oder eine Bürger-KI, etwas öfter ein Zentaur vorbei. Für die Zentauren waren sie vielleicht zu abgelegen, noch dazu war für einen normalen Zentauren die Aussicht, einen abtrünnigen Sire und eine blaue Mutation zu treffen alles andere als verlockend. Eher lockte einen Zentauren die Aussicht, mit einem Weltraumfahrer zu reden. Die Befürchtungen der KIs schienen in diesem Umfang grundlos.

Regelmäßig im Frühjahr kam Tira für zwei Wochen zu Besuch. Er reiste jetzt viel herum, aber seit er in Südkalifornien war, verließ er den Süden nur noch ihnen zuliebe.

Es war im Frühjahr, sie erwarteten bald wieder Tira, als sie von fern Hufgetrappel her hörten. Jacko war zusammen mit Flicker auf dem Feld, um Rüben zu ernten. Sofort unterbrachen sie und liefen zur Hütte. Flicker war jetzt viel zu schnell für ihn. Doch ein Stück vor der Hütte wartete es auf ihn.

«Was ist?», keuchte Jacko.

«Hörst du? Tariff streitet mit jemand Unbekannten.»

Tatsächlich, deutlich war die laute Stimme von Tariff zu hören. Als sie näher kamen, waren andere leise Stimmen zu hören. Jemand weinte. Die Situation war merkwürdig. Leise schlichen sie zur Rückseite der Hütte.

«Bitte, wenn du es uns nicht zeigen kannst, weil die Menschen es haben, dann gib es doch wenigstens zu. Bitte», sagte eine flehende Stimme.

«Geht es nicht in euren Schädel hinein. Ich weiß es nicht! Auch wenn ihr das zehnmal nicht glauben wollt, es ist so. Ich war nie im All! Fragt die KIs, fragt Jacko», sagte Tariff, immer noch recht laut.

«Ich werde nie einen Menschen fragen! Was wissen die schon?», sagte eine verächtliche Stimme.

Tariff wurde wieder laut: «Ihr Hohlköpfe, fragt einen Menschen. Menschen, und nur Menschen waren wirklich im All. Wer hat euch denn Geschichte gelehrt? Und von Robin Hood habe ich viel gehört. Eine antike Sage, mehr als zweitausend Jahre alt. Älter als jeder Zentaur, falls ihr das begreift.»

Mit verheulter Stimme meinte jemand: «Man hat das Gefühl, du bist ein Mensch.»

Tariffs Stimme überschlug sich: «Das reicht. Raus! Lasst euch hier nicht wieder sehen. Ich bin immer noch ein Sire, auch wenn ihr das vielleicht nicht wahrhaben wollt. Wenn ihr religiösen Fanatiker, wenn ihr überhaupt wisst, was das ist, wenn ihr mich als Menschen erleben wollt, dann werde ich für euch eine Ausnahme machen und auf Zentaurenjagd gehen. Ich zähle bis Zehn. Eins, Zwei, ... »

Sie hörten, wie sich die Tür öffnete. Sehen konnte sie die anderen erst, als sie fluchtartig davongaloppierten. Ein stattlicher brauner und ein schwarzweißer Zentaur verließen sie recht hastig.

Sie gingen um die Hütte herum. Tariff stand immer noch mit dem Bogen in der Hand da. Er zitterte, ließ ihn schließlich sinken und sah zu ihnen. «Es ist unglaublich. Ich bin schon wieder berühmt, wo ich doch nur friedlich wie jeder andere auch leben will.»

«Auf die beiden hast du keinen so friedlichen Eindruck gemacht. Die werden wohl nicht so schnell wieder kommen», sagte Flicker mit etwas Stolz auf Tariff.

«Mit etwas Glück werden dann auch abschreckende Gerüchte verbreitet. Was waren es denn für Besucher?», fragte Jacko.

Tariff packte den Bogen weg. «Kommt herein, ihr werdet es kaum glauben. Komm Flicker, du wirst heute einen Mythos kennenlernen. Das ist eine Geschichte, die so alt ist, dass sie wahr sein könnte, aber es nicht ist. Diese geht um die Herkunft der Zentauren. Du weißt doch noch, wo wir herkommen?»

Flicker nickte. «Ja Tariff, die Zentauren wurden vor langer Zeit von den Menschen gemacht.»

«Genau.» Tariff machte eine kurze Pause. «Manche wollen das aber nicht glauben. Sie sagen, die Zentauren sind aus dem All gekommen.»

«So wie Jacko und Raissa?»

Jacko seufzte. «Nein, Flicker, ich habe es dir doch schon oft erzählt. Wir sind auch von der Erde. Im All vergeht die Zeit ganz anders als auf der Erde.»

«Es ist auch egal», unterbrach ihn Tariff, shcließlich war Flicker entschieden zu jung für Relativitätstheorie. «Jedenfalls glauben manche Zentauren, dass alle Zentauren von einem Raumschiff stammen, dass die Menschen vor vielen Jahrhunderten abschossen hätten. Bei dem Kampf wurde dann die Erde verwüstet. Oder sie erzählen, die Zentauren haben ihr Raumschiff geopfert, um den Komenten fast zu zerstören und so die Erde zu retten.» Sie sah den fragenden Ausdruck auf Flickers Gesicht. «Egal, die Zentauren verloren damals also ihr Raumschiff und vorher hatten sie noch einen Notruf abgesetzt. An den Heimatplaneten aller Zentauren. Das ist natürlich nicht wahr, aber manche Zentauren glauben es trotzdem.»

«Sie wissen, dass es falsch ist und glauben es trotzdem?» Flicker war verwirrt.

«Sie wissen nicht, sie glauben. Die Leute wollen, dass es wahr ist. Sie sagen, es ist schon so lange her, warum soll es nicht so gewesen sein. Irgendwann glauben sie, dass es wirklich so war und erzählen es weiter. Ihre Kinder haben dann nie die wahre Geschichte gehört, und so halten sie die Geschichte vom Raumschiff für wahr, auch wenn sie das nicht ist. Solche Leute haben erzählt, ich sei mit einem Raumschiff hier gelandet, um die Zentauren hier zu besuchen und ihnen zu helfen. Wie sollte ich ihre Fragen beantworten und ihre Wünsche erfüllen, wo ich doch nicht der bin, von dem sie dachten, der ich sei. Verstehst du?»

«Nicht alles. Waren die Zentauren denn böse?»

«Nein, nur dumm. Sei beruhigt, du wirst es später noch verstehen. Jetzt gibt es erst mal warmen Kuchen, wenn ihr schon so früh kommt.»


 
Im gleichen Winter starb Tjinkas Mutter, und ihr Vater wurde so krank, dass er sich kaum mehr bewegen konnte. Jetzt musste Tjinka für ihn sorgen. Sie begrub ihre Mordgedanken. Und sie beschloss, männlich zu bleiben, egal was sie wirklich war. Ihr Körper zog schließlich nach.

Jahr für Jahr zog Tjinka(er) nun seine Bahnen, drückte sich vor keiner Arbeit. Im Gegenteil, gerne übernahm er schwere langweilige Arbeiten. Während er schweigend schweren Lasten zog oder gar im Laufrad der Pumpe trabte, da ging sein Geist auf Reisen. Die Lobe der anderen erreichten ihn nicht, er gehörte nur noch körperlich zu ihnen. Für die anderen war er nur der gute Geist von Garadon.

Nicht dass er sich vernachlässigte. Die ganze Arbeit hatten seinen Körper gestählt, nicht wenige versuchten, ihn als Partner zu gewinnen, aber er nahm ihr Werben nicht einmal wahr.

Schließlich, Tjinka war achtzehn, nach einem endlos scheinenden Winter, starb sein Vater an einer einfachen Erkältung. Tjinka trauerte nicht richtig: Sein Fell verlor die Farbe, bis es nur noch helles Blaugrau war, und ließ so erahnen, was in ihm vorging. Er tat eine Woche lang einfach nichts mehr, sprach nun nicht einmal ein einziges Wort. Drei Tage vor der Tagundnachtgleiche zog er aus und holte so viel Brennholz ein, dass es einen weiteren Winter halten würde. Alles stapelte er für die Sire an der Längsseite des Hofes, nur wenig behielt er für sich.

 
Es war die Nacht der Tagundnachtgleiche. Das brennende Anwesen von Garadon lag hinter ihm. Als Tjinka sicher war, dass das Feuer nicht mehr zu löschen war, lief er weg. In dem Chaos hatte man ihn wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, und wenn man sein Fehlen endlich bemerken würde, nun vielleicht dachte man dann, er wäre in den Flammen umgekommen. Nun waren die blauen Zentauren frei, auch seine Eltern, wenn sie diese Chance hätten nutzten können. Doch hätten sie gewusst, dass er das Feuer gelegt hatte, sie hätte ihn vermutlich sogar verraten.

Tjinka war heute in den Flammen gestorben. Mit jedem Hufschlag ließ er mehr von seinem alten Leben zurück. Ein letztes Mal dachte er an alle, die heute für immer zurückblieben. Nur Tjina, wie hatte er Tjina geliebt! Tjina aber hatte ihn damals verlassen. Immer noch machte er sich Vorwürfe, dass er damals auf dem Erntedankfest war, während sie zu Hause starb. Arbeiten also Laufen bis zur Erschöpfung half auch jetzt.

Am Morgengrauen war er weit genug weg, fand er. Er machte sich ein nettes Frühstück, wie er es von Taljot gelernt hatte. Dann beschloss er, ein wenig zu schlafen.

«Hallo?» Sanft stieß ihn jemand mit dem Huf in die Rippen. «Bist du verletzt? Kann ich dir helfen?»

Er blinzelte. Er lag in der prallen Mittagssonne und schwitzte. Um etwas zu sehen schirmte er die Sonne mit einer Hand ab. Ein blauer Zentaur stand vor ihm, viel jünger als er, ein Fohlen noch, vielleicht gerade elf. Er trug ein schweres Geschirr, dabei war er eher zierlicher gebaut. «Hallo. Ich war nur müde, das ist alles. Mir fehlt nichts.»

«Du siehst so seltsam aus. Ich habe noch nie eine Zentaur mit einem solchen Fell gesehen.»

Tjinka sah sich zum ersten Mal seit langen wieder bewusst an. Er erschrak, als er sah, wie das Fell ausgeblichen war. «Das ist eine traurige Geschichte, die ich dir nicht erzählen möchte.» Er stemmte sich auf alle Viere.

«Komm mit mir, wenn du mir hilfst, das Feld fertig zu pflügen, dann kannst du mit uns essen. Es ist nicht weit. Ich bin Tjalit(er).»

Tjalit prahlte wohl ein wenig zu früh mit diesem Attribut. Aber egal, es war kein allzu schwer verdientes Essen. «Sehr nett, ich helfe dir. Nenn mich Tom(er)», fügte er nach kurzem Zögern hinzu. «Wie einer der Partner von Robin Hood. Kennst du die Geschichte von Robin?» Er hatte zwar mittlerweile erfahren, dass es nur eine alte Sage war. Doch gefiel es ihm immer noch; und steckte in alten Sagen nicht immer ein wahrer Kern?

Tjalit schüttelte den Kopf. «Ich kenne sie nicht. Aber vielleicht wollen noch mehr davon hören», fügte er schüchtern dazu.

Er lächelte. «Nein, dann kannst du sie ihnen erzählen. Komm, leg mir das Geschirr an.»

Sie legten sich abwechselnd in das Geschirr und bewegten die Egge über das Feld. Wenn Tjalit zog, erzählte Tom ihm eine Geschichte. Zog Tjinka/Tom, so erzählte Tjalit von seinem Leben auf diesem Anwesen. Es ähnelte ziemlich genau Tjinkas altem Leben. Sein Entschluss stand fest -- irgendwie würde er auch diese Zentauren befreien.

 
Es war auf dem zwölften Hof, den Tom und seine beiden Mitstreiter befreiten. Drei Jahre lief es immer nach dem gleichen Schema: Sie boten sich als Helfer an, spionierten alles aus. Dann begannen sie, auf den Rest einzuwirken. Schließlich war alles bereit und das Haus der Sklavenherren sollte brennen.

Aber diesmal waren sie verraten worden: Als sie Feuer legten, da waren sie schon umstellt worden. Das Feuer wurde gelöscht, sie wurden angegriffen. Tjalit hatten sie sogar erschossen. Nur er, Tom, und Filo hatten überlebt. Er konnte nicht richtig laufen, ein Pfeil hatte ihn am Hinterlauf erwischt. Irgendwas hatte ihn auch am Kopf getroffen, Blut lief ihm in die Augen, auch an den Händen blutete er. Filo hatte Lungendurchschuss, aber der Pfeil war nicht stecken geblieben. Todesangst verlieh ihnen ungeahnte Reserven. Filo brach zehn Kilometer weiter zusammen. Auch er konnte nicht mehr, seinen linken Hinterlauf schleppte er nur hinter sich her. Die linke Hand war taub. Kurz danach verlor auch er das Bewusstsein. Vor der Verfolgung hatte sie nur die Tatsachen gerettet, dass sie hier tief auf Bürgerland geraten waren. Sie hatten es nicht einmal bemerkt.

 
Tom schrie auf. Es stand sich wirklich ein Mensch über ihn. Er hatte es nicht geträumt. Er wollte sich vom Zentaurenbett herunterschieben, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Nach wenigen Sekunden gab er auf. «Was willst du?», fragte er auf Zentaurisch.

«Ich? Ich wollte sehen, wie es dir geht. Du lagst eine Woche im Koma», antwortete der Mensch in perfektem Zentaurisch. «Ich bin eine KI. Ich heiße Sina(sie). Ihr seid sicher auf meinem Land.»

«Warum kann ich mich nicht bewegen?», fragte er grob.

«Weil du betäubt bist. Ich will euch wirklich nur helfen. Weißt du, was für Verletzungen du hattest? Du hast siebzehn Liter Kunstblut bekommen. Dein linker Hinterlauf war ab dem Oberschenkel tot, das Kniegelenk zertrümmert. Du hast eine Schädelfraktur. Dein linker Mittelfinger faulte schon. Es ist ein Wunder, dass du noch lebst, dass ihr es überhaupt bis hier geschafft habt.»

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Es fühlte sich auch nicht anders als von einem Zentaur an. «Ich will dir gerne helfen.» Sie sah ihn sanft an; er musste die Augen senken.

«Wie geht es Filo(sie)?», fragte er.

«Sie wird es überstehen. Sie hat nur eine Schusswunde in der Lunge. Sie wird noch künstlich beatmet, deswegen ist sie immer noch betäubt. Willst du etwas zu essen?»

In dem Essen musste Schlafmittel sein, denn er schlief schnell wieder ein.

 
«Hallo, lieber namenloser Zentaur, wie geht es dir?» Sina, die KI, strich ihm zärtlich über das Gesicht. Reflexartig wich er zurück, sein Oberkörper gehorchte ihm. Er hob seine Hände. Gott tat es weh. Aber sie gehorchten. Endlich schaffte er es, die Linke auf die Kopflehne zu legen. Es fehlte wirklich der Mittelfinger. Er stieß einige unartikulierte Laute aus.

«Es tut mir Leid. Willst du Schmerzmittel?»

Tom stöhnte. «Ich will meinen Finger», sagte er schroff.

Sie griff eine Tüte auf einem Regal. Erst jetzt begann er, den Raum bewusst wahrzunehmen. Ringsherum waren nur Betonwände zu sehen, kein einziges Fenster, eine einzige Tür. Sehr groß war der Raum nicht, vielleicht vier mal vier Meter. Die Hälfte wurde von dem Zentaurenbett ausgefüllt. Es musste eine Spezialanfertigung für Kranke sein; es war weich und so hoch, dass seine seitlich herunterhängenden Beine nicht den Boden berührten. Am Kopfende gab es eine Art Kopfstütze; außerdem gab es am Rücken noch eine Lehne, so dass er nicht umkippen konnte, auch wenn er ohnmächtig oder betäubt war. Nie hatte er von einem solchen Bett gehört.

«Hier!» Sie knallte ein Beutel mit einem durchsichtigen Gel auf die Kopflehne des Bettes. Innen drin schwamm ein halb verwester Finger. Er musste würgen und schob den Beutel weg. Doch er behielt seinen trotzigen Gesichtsausdruck.

«Gut», sagte Sina, «Es reicht noch nicht? Bist du bereit für den Rest?» Sie hob die Decke weg. «Die vielen Schläuche der Lebenserhaltung ignoriere ruhig. Sieh dir statt dessen deinen linken Hinterlauf an! Der ist auch nur noch bis oberhalb des Knies echt. Knie, Unterschenkel und Hufe sind aus beschichtetem Titanverbundmaterial. Immerhin sind genug Muskel für den Unterschenkel geblieben. Sieh schon hin.»

Natürlich tat er es. Knapp unterhalb des Knies begann silbriges Metall, Fessel und Hufe waren ganz und gar aus Metall. Sein Entsetzen und seine ohnmächtige Wut waren unbeschreiblich. Eine kleine Fußbewegung ließ ihn vor Schmerz schreien. Dann war es wieder dunkel.

 
Als Tom das nächste Mal erwachte, stand Filo neben Sina bei der Tür. «Ist er wach?», fragte Filo sorgenvoll die KI. Bevor Sina antworten konnte, gab er einen brummenden Laut von sich. Sofort stand Filo vor ihm und redete auf ihn ein. Er verstand nur wenig, sagte einfach: «Mir geht es gut.» Daraufhin verstummte Filo für einen kurzen Moment.

«Willst du aufstehen?», fragte Sina. «Für einen kurzen Moment sollte es gehen. Warte.» Sie nahm vorsichtig die Decke weg. Filo hielt entsetzt die Luft an; auch er selber hatte fast die Titanprothese vergessen. «Du musst vorher ein bisschen üben. Versuch mal, das Bein ganz langsam zu bewegen», ermunterte ihn Sina.

Er biss die Zähne zusammen. Doch es war nicht eigentlich Schmerz, was er fühlte, mehr ein Ziehen an den falschen Stellen, ein bisschen als würde er schreckliche Verrenkungen machen. Aber das Bein schwang gehorsam vor und zurück, sogar den Unterschenkel konnte er noch bewegen, obgleich doch mehr als die Hälfte glänzendes Titan war. Mehr noch, es sah aus, als würden unter dem Metall immer noch Muskeln spielen, es sah genau wie ein echtes Bein, bloß mit silberner Haut aus.

Sina nickte ihm zu: «Deine Werte sind alle in Ordnung, steh auf, wann immer du dich dazu bereit fühlst.»

«Jetzt!», sagte er.

«Na gut. Ich drehe jetzt erst einmal das Bett. Wenn es weh tut oder dir die Kräfte schwinden, sag Bescheid. Ich werde jetzt ganz langsam das Bett absenken.» Sina ging beiseite, damit Filo hinter ihn treten konnte, um ihn zu stützen, wenn er hinten einknicken sollte.

Sehr sanft senkte sich das Bett. Ein Huf nach dem anderen berührte den Boden. Schließlich stand er frei. Er genoss es, trotz der Schmerzen von zu lange nicht gebrauchten Muskeln. Zumindest hoffte er, dass die Schmerzen daher stammten. Sehr vorsichtig belastete er die Prothese. Jetzt stand er ausgeglichen auf allen Vieren. Schleifend schob er den rechten Hinterhuf zurück, dann den linken Vorderhuf, den rechten und schließlich, mit dem linken Hinterhuf auch die Prothese. Schritt für schritt schob er sich so rückwärts auf den Gang. Jetzt endlich versuchte er einen Vorwärtsschritt. Beinahe wäre er umgefallen, Filo hielt ihn noch. Die Prothese setzte nicht so auf, wie er wollte. Er musste hinsehen, damit er sie so bewegen konnte, wie er wollte.

Auf diese langsame Weise gingen sie zehn Meter in einen größeren Raum. Als Sina und Filo sich seiner versichert hatte, begann sich plötzlich der ganze Raum zu bewegen. Zum Glück lehnte er an einer Wand. Nach ganz kurzer Zeit hielt der Raum wieder an. Durch die gleiche Tür, wie sie hineingegangen waren, schien jetzt Sonnenlicht.

«Es ist eigentlich ganz einfach», sagte Filo. «Sina hat es mir erklärt: Der Raum kann mit einem Seil hochgezogen werden. Der Raum vorhin, wo du lagst, war tief unter der Erde.»

Er nickte, doch erst langsam verstand er.

«Schaffst du es bis zum Bett dort?», fragte Sina.

Zwanzig Meter weiter stand ein einfaches Zentaurenbett. Daneben stand ein Tisch. Ohne zu antworten ging er langsam los. Er fiel auf das Bett, obwohl es aus groben Holz gezimmert war. Filo stand neben ihm, Sina war kurz Essen holen gegangen.

«Ach Filo, ich bin so froh, dass du es geschafft hast!»

«Und ich nicht weniger, Tom. Ich habe bestimmt zwei Wochen zugesehen, wie du mit dem Tod gerungen hast.» Sie umarmten sich. «Wir verdanken Sina unser Leben.»

«Ja, ausgerechnet gerettet von einer Zentauren-KI, wo diese gerade die Ordnung vertreten, gegen die wir gekämpft haben.»

«Hat es Filo noch nicht gesagt? Ich bin ganz normaler Bürger, keine Zentauren-KI.» Sie hatten Sina gar nicht wiederkommen hören.

Tom war entsetzt. Was war das? Würden sie jetzt versklavt werden? Oder waren sie in einer Kolonie? Aber wo waren dann die anderen Zentauren? «Ich verstehe nicht. Warum tust du das? Sollen wir für dich arbeiten?»

Sina lachte freundlich. «Ach Tom, ich will nichts von euch. Was könntet ihr für mich tun, was nicht auch meine Maschinen tun könnten? Hört zu, ihr seid frei. Sobald ihr euch besser fühlt, könnt ihr gehen.»

Filo hatte bestimmt dasselbe gefragt, doch sie schwieg. Also fragte er weiter: «Wie ist das möglich? Wir haben immerhin mit euch gekämpft, und du bist eine echte KI.»

«Komm iss etwas, genieß die Sonne. Sie ist extra für dich heute wieder zum Vorschein gekommen.» Sina hielt ihm eine Suppe hin. Dann wurde sie plötzlich ernst. «Wir haben tatsächlich einmal gekämpft, doch jetzt treiben wir Handel, von dem beide Seiten denken, sie profitieren. Rate mal, was das für ein Gebäude ist: Es ist eine Wartungsstation der Magnetbahn. Ich bin ein Bürger, ich arbeite für die Bürger. Doch der letzte Bürger-Mensch hatte mich vor 121 besucht. Zentauren sehe ich viel öfter -- auch wenn sie mich nicht besuchen.»

Sina machte eine Pause, doch fuhr nicht fort. Filo drängelte: «Das hast du alles mir schon einmal erzählt. Wenn Tom wach wäre, wolltest du den Rest erzählen.»

«Gerne. Zuerst will ich euch versichern, dass ihr wirklich frei seid. Ihr könnt noch solange bleiben, wie ihr wollt. Ihr könnt auch an jeden anderen Punkt, den diese Bahn erreicht, abgesetzt werden.» Sie tat Tom weitere Suppe auf. «Ich fände es schön, wenn ihr noch etwas bliebet. Ich wäre froh, Geschichten mit euch auszutauschen. Ich habe selten Gäste und noch seltener so berühmt--berüchtigte wie euch.»

Filo warf aufgeregt ein: «Tom, weißt du, was sie erzählen? Das wir zwei durch das Land ziehen, um die Zentauren zu befreien, um uns dann mit Sire Robin zu treffen. Das wir die Häuser mit Laser anzünden, dass wir nicht gefunden werden, weil wir mit einem Raumschiff in Verbindung stehen. Viele Zentauren sehen uns als Beispiel.»

Tom stöhnte: «Das ist schrecklich. Weißt du, wieviel Aufruhr und Tote das bedeuten kann?»

Sina saß immer noch ungerührt da. «Ihr habt beide recht. Aber die Herren der Zentauren werden sicher vorsichtig werden, solange ihr nicht wirklich tot seid. Und sie werden ihren Zentauren vermutlich mehr Freiheit lassen. Also habt ihr schon etwas bewirkt. Und noch ein zweites Gerücht gibt es: Ein Sire der Regierung reist wohl herum, und sieht sich einige Höfe an. Ein Grund mehr, etwas zu bleiben, bis wieder Frühling ist und die Aufregung kleiner geworden ist.» Sina sah mitleidig sein Bein an. «Und bis du wieder traben kannst wie vorher. Wollt ihr etwas vom Weltall hören?»

«Du warst im All?», fragten sie wie aus einem Mund.

«Ich bin einmal mitgereist. Und als KI kann ich natürlich auf die Daten jeder anderen KIs zugreifen. Und seien es die einer Shuttle-KI. Ich erzähle euch gerne davon.»


Flickers Auszug

Draußen war wieder das übliche Wetter für den November -- ein Herbststurm rüttelte an den Fensterläden. Der Ofen saugte die Scheite förmlich auf, doch die Wärme schien ganz und gar im Ofenrohr zu verschwinden. Vorher allerdings heizten sie noch den Backofen und brachten so den Kuchen der Vollendung entgegen. Oben auf dem Herd kochten zwei Kannen mit Wasser für den Tee. Das Wandbord hatten sie leer geräumt und soviel wie möglich in den Nachbarraum gepackt. Die Wänden hatten sie mit einigen Luftschlangen verziert, an jedem freien Haken hing ein Kerzenständer, so dass der Raum trotz des trüben Wetters geradezu hell wirkte. Felo packte gerade eine Decke über das Regal, das bei den Zentauren als Tisch diente. Darauf stapelte er Kuchen und Kekse.

Da öffnete sich auch schon die Tür, und Raissa und Jacko traten herein. Beide wurden sie schon von den Zentauren erwartet. Schnell waren die ausgewehten Kerzen wieder angezündet und Flicker und Tjanzer durften herein. Es war der dreizehnte Geburtstag von Flicker und Tjanzer, heute würden sie volljährig werden. Beide waren sie nun auch nahezu ausgewachsen.

Flicker hatte sich durch das Krafttraining zu einem sehr kräftigen Zentaur mit einem Oberkörper wie ein Kleiderschrank und ebenso kräftigen Beinen entwickelt. Sein Gewicht ging an die 400 Obwohl er nicht größer als ein blauer Zentaur war, war er genauso schwer und stärker als die meisten normalen Zentauren. Nur war er halt genauso groß wie Jacko oder Felo, was ihn sichtlich wurmte. Flicker (=Flackern) erschien als Name auf jeden Fall unpassend. Er hatte gerade seine erste weibliche Phase, doch zum Glück hatten sich die Brustwarzen, die er von Felo oder Jacko geerbt hatte, nicht zu Busen entwickelt. Sein Fell hatte einen ganz leichten Blauschimmer bekommen, doch den sah man erst, wenn Tjanzer oder Tariff daneben standen.

Tjanzer dagegen war so groß wie Tariff und würde vermutlich würde sogar noch etwas größer werden. Er war zwar auch durchtrainiert, aber mehr auf Schnelligkeit und Ausdauer, er wog knappe zweihundertzwanzig. Doch selbst Tariff konnte nicht mehr mit Tjanzer mithalten. Irgendwann hatte er eine eigene, recht anmutige und energiesparende Lauftechnik entwickelt. Tjanzer schien wirklich beim Laufen zu tanzen. Außerdem interessierte sich Tjanzer für alle Künste; besonders für Musik und Zeichnen. Er war erstaunlich, wie verschieden die beiden Geschwister waren.

Es war für Jacko und Raissa sehr schwierig, den beiden gute Geschenke zu machen. Tjanzer schenkten sie ein Buch, es war die wunderschöne alte Sage vom letzten Einhorn, das seine Kameraden sucht. Jacko hatte sie angepasst und in das Zentaurische übersetzt. Und da sie das als zu wenig empfanden, legten sie als Anspielung auf seinen Namen eine ROC mit Musik namens ,,siebzig einfache schwedische Folkstänze", eine Replik aus der Zeit ihrer Abreise, bei.

Bei Flicker war es noch schwieriger. Er las nichts außer Comics, uralten Comics. Daraus hatte er vermutlich seinen Waffentick. Doch eine Waffe würden sie ihm auf gar kleinen Fall schenken. Schließlich gab es für ihn einen Baukasten eines antiken Raumschiffes, des interplanetaren Frachters Flicker (2161-2182). Dazu gab es, wie bei Tjanzer mehr als Scherz, einen Comic über Zen-Buddhismus, einschließlich der Kunst des Bogenschießens, ohne das Ziel direkt anzuvisieren.

Jackos persönliche Beigabe bestand aus zwei weltweiten Navigationssystemen mit allen verfügbaren Karten. Er hatte es selbst so zusammengestellt, das erste, vollständig von ihm entworfene Stück Elektronik seit der Landung. Aber weder diese, noch die großen Geschenke fesselten Flicker und Tjanzer, sondern ausgerechnet die beiden nicht so ernst gemeinten Beigaben begeisterten sie am meisten. Tjanzer starrte gebannt auf die Tänze, die man per Fingerdruck als Holo hören und sehen konnte. Flicker blätterte fasziniert in dem dicken Comicband herum.

Tariff und Felo waren genauso froh wie Raissa und er, dass die beiden etwas an den Geschenken fanden. Von den Zentauren bekam Tjanzer eine spezielle Fellbürste und eine violette, prächtig verzierte Handelsuniform und Flicker seinen ersten richtigen Bogen, inklusive Pfeilen mit Laserzielmarkierung. Dafür musste Tariff heimlich gehandelt haben; so ein Bogen war wirklich sehr wertvoll. Und natürlich war es auch die gefährlichste Waffe in einer Welt, die Schusswaffen nur noch aus alten Geschichten der Zentaurkriege kannte.

Doch Tjanzer starrte immer noch auf die Hologramme aus Tariffs altem zerschrammten Terminal, in dem die ROC steckte. Wieder und wieder sah er sich die Tänze aus allen Perspektiven an. Tariff stand neben ihm. «Gefällt es dir?» Tjanzer nickte heftig ohne aufzusehen. «Tiras Mutter kann dir Noten lesen und Geige spielen beibringen.» Tjanzer sah sie groß an. Man konnte es deutlich sehen: am liebsten wäre er sofort losgelaufen.

Gerade als sie mit dem Kuchen anfangen wollten, öffnete sich die Tür erneut. Tira und ein zweiter Zentaur waren gekommen. Von draußen trieb der Sturm den Regen herein, schnell wurde die Tür wieder verschlossen. Es war ein großes Hallo, niemand hatte mit Tira gerechnet.

Tira stellte den anderen Zentaur vor. Er hieß Tlexander, war wie Tira braun und auch Händler. Sie hatten sich vor etwas mehr als einem halben Jahr weit im Süden kennengelernt, und waren sofort Partner geworden. Seit fünfeinhalb Monaten war Tlexander nun auch schwanger.

Tira hatte für beide Geburtstagskinder etwas sehr Teures ausgedacht. Tjanzer bekam ein Geschirr mit Goldnieten, dazu Schmuck. Flicker dagegen bekam zwei Messer mit passenden Waffengürteln: eines reich geschmückt, das andere dagegen kühl und zweckmäßig mit einer diamantveredelten Titan-Kobalt-Vanadium-Klinge.

Dann begannen sie nun endgültig mit dem Buffet. Es war eng, doch die Stimmung war gut. Es wurde ein lustiges Fest, Tiras Partner hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Späßen und Anekdoten. Schon bald hatte er so den Spitznamen Onkel Wanja weg. Irgendwie mussten Tariff oder Felo gewusst haben, dass Tira kommt, denn das Essen reichte gerade so.

Schließlich gingen Tjanzer und Flicker in das andere Zimmer. Von Zeit zu leuchtete der rote Punkt des Laserzielsuchers auf der Wand auf oder man hörte wieder die Flötenmelodie von det måste hända något, der Tanz, der die Sammlung auf der ROC einleitete. Es war gut, dass die beiden beschäftigt waren, denn jetzt kamen die Erwachsenengespräche. Und auch wenn sie heute erwachsen geworden waren; für solch langweiligen Sachen war später noch Zeit genug.

Es war schon fast Mitternacht, als sich erneut die Tür öffnete. Alle hielten inne und starrten zur Tür. Ein großer weißer Zentaur trat ein, größer noch als Tariff. Er hatte schneeweißes Fell, aber dazu braune Haut. Doch er sah schrecklich aus, am linken Vorderlauf sah man eine kaum verheilte Wunde, das dreckige und durchnässte Fell klebte strähnig an seinem Körper. Der Besucher atmete schwer und zitterte. Sie scharrten sich um ihn herum und warteten, bis er zu Atem kam. Mit ruhiger sanfter Stimme sagte er dann: «Guten Abend. Mein Name ist Sire Rbango(er). Du bist Sire Rigan(sie), Grüße.»

Tariff war erstarrt. Langsam drehte sie sich um: «Was hast du gesagt? Was willst du hier?» Wenn Blicke töten könnten, dann hätte in diesem Moment ein toter Sire auf der Schwelle gelegen. Die anderen blickten irritiert zu Tariff.

Doch der verletzte und durchnässte Sire Rbango hatte davon scheinbar nichts mitbekommen. Mit seiner ruhigen sanften Stimme sagte er: «Ich werde Sire Tjanzer(er) und Flicker(sie) ihre ID überbringen. Und danach würde ich gerne mit Sire Rigan(sie) reden. Doch zuerst ist der Geburtstag, zuerst sollen sie ihre ID bekommen. Sire Tjanzer van Klemt(er), tritt vor.» Er sah zu den beiden.

Tjanzer wollte gerade auf Rbango zugehen. «Nein!» Tariff hielt Tjanzer an der Schulter zurück. «Du lässt sie in Ruhe.» Hass lag in ihrer Stimme, Jacko und auch die anderen, nicht einmal Tira, hätten es nie für möglich gehalten. Hier erlebten sie eine unbekannte Seite von Tariff.

Sire Rbango hatte es jetzt erst richtig mitbekommen. Er sah Tariff ebenso überrascht an. Er wartete einen Moment, bis er wieder weniger zitterte. Er schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf. Keiner brach die Stille. Dann sah er Tariff direkt in die Augen. «Sie sind volljährig, sie brauchen eine ID. Oder sollen sie wie Verbrecher leben? Ich will sie ja nicht wegnehmen, aber gerade ein Sire kennt das Gesetz, das ein Sire brechen darf! Ab heute müssen sie für sich selber sprechen.» Er wandte sich wieder Tjanzer zu. Als er die Hand heben wollte, um sie auf Tjanzers Schulter zu legen, fuhr Tariff dazwischen.

Er zog sich ein Stück zurück. Etwas nachdrücklicher doch noch immer sanft, als könnte er gar nicht anders sprechen, sagte er: «Sire Rigan(sie), es ist nicht deine Sache! Du hast dich selber außerhalb der Regeln gestellt, du verletzt fortwährend die Regeln, doch die KIs haben es toleriert. Und ich habe die IDs von den KIs, bitte misch dich nicht ein, zumal du nie Anspruch auf Vaterschaft erhoben hast.»

Man hörte jeden der wenigen Tropfen, die durch das Dach drangen, auf den Boden aufschlagen. Alle standen still und unbeweglich, Tariff und Rbango sahen sich starr in die Augen. «Ich habe dich verstanden», sagte Tariff mit glasharter Stimme. «Aber nicht unter meinem Dach!»

Ohne sich von Tariff abzuwenden sagte Rbango: «Tjanzer van Klemt(er), willst du deine ID haben und den Status als Sire tragen und ehren?»

Tjanzer rührte sich nicht, er sah ängstlich zwischen Rbango und Tariff hin und her. Niemand sagte etwas. «Sire», sagte er schließlich. «Ich möchte eine ID haben. Doch ich weiß nicht, ob ich Sire werden will.»

Tariff schnaubte. «Sire ist Privileg, das durch Geburt erworben wird. Du bist ein Sire; wenn du eine ID haben willst, dann ist es die eines Sires. Man kann einen Sire nicht ablegen, man kann ihn noch nicht einmal aberkannt bekommen.» Jedes ihrer Worte war voller Verachtung. Noch immer hatten sich Tariff und Rbango gegenseitig fest im Blick.

Rbango sagte ruhig zu Tjanzer, ganz als wäre nichts gewesen: «Es ist eine eintägige Bedenkfrist vorgesehen, in der du die ID ablehnen oder annehmen kannst. Flicker(sie) willst du deine ID haben?»

Wäre eine Fliege zwischen Tariff und Rbango geraten, sie wäre tot zu Boden gestürzt. Tariff Hände tasteten nervös an ihrer Hüfte herum, doch sie hatte keinen Gürtel um. Vielleicht hätte sie dann zugeschlagen. Flicker sah zu Tariff, dann zu Jacko, zu Felo. Niemand sagte etwas, doch die Luft knisterte. Schließlich sah Flicker zu Boden: «Sire, ich möchte abwarten, wie mein Bruder entscheidet.»

«Das ist verständlich.» Rbangos Stimme war warm. Dann plötzlich senkte Rbango den Blick, begann zu zittern. Er musste schwer atmen, hustete. Als er sich beruhigte, fragte er: «Ich muss um mein Gastrechtprivileg für eine Nacht bitten.»

Doch als Rbango den Blickkontakt unterbrochen hatte, da hatte Tariff das Küchenmesser geholt. «Nein!» Tariff schrie. « Geh! Jetzt! Endlich!»

Alle anderen schwiegen betreten. So wie Rbango aussah, hätte es keiner von ihnen gewagt, solches auch nur zu denken. Doch Rbango nickte. Leiser sagte er: «Stich zu. Sei der erste Sire, der einen anderen tötet. Zeig doch, dass die Zentauren genauso schlecht wie die Menschen sind. Nun, nur du kannst es tun, Sire Rigan(sie). Das Privileg deines Status als Sire.»

Er drehte sich um und machte einen schwankenden Schritt auf die Tür zu. Tariff wollte tatsächlich auf Rbango mit dem Messer einstechen. Doch den anderen gelang es, Tariff zu entwaffnen. Rbango hatte nichts gemerkt und torkelte in die regenkalte Dunkelheit vor der Tür hinaus. Es schien, als bräche er gleich zusammen. Kalter, nasser Wind blies zu Tür herein.

Noch immer mussten sie Tariff festhalten. Es war, als hätte sie den Verstand verloren. Jacko und Raissa lösten sich als Erste aus der Erstarrung. Sie verabschiedeten sich schnell vom Rest und gingen ebenfalls heraus. Tariff brüllte ihnen etwas von ehrlosen verrückten Anthropozentrikern nach. Sie schlossen die Tür hinter sich. Der Sturm und der Regen übertönten alle anderen Geräusche.

Rbango stand an einen Baum gelehnt und hustete schrecklich. Blut war auf seiner Hand zu sehen. Jacko sprach ihn leise an: «Sire Rbango(er), wir laden dich ein, bei uns zu schlafen. Ich möchte mich für Tariff entschuldigen, auch wenn dies fast nicht möglich erscheint. Es sind noch fast fünf Kilometer, kannst du so weit laufen?»

Rbango stand einfach da. Er winkte fahrig mit der Hand.

«Sire, mein Partner, Raissa van Klemt(sie)», stellte er Raissa vor.

Rbango sah sie nur kurz an. «Es muss gehen», antwortete er, tat zwei Schritte und begann wieder zu husten.

Sie gingen langsam. Hier draußen in der regennassen Dunkelheit sah Rbango noch schlimmer aus. Jacko lief neben ihm her und stützte ihn ein wenig, wenn er strauchelte. Natürlich war es mehr psychologisch, denn 300 konnte Jacko natürlich nicht abfangen.

Sie waren kaum fünf Minuten unterwegs, als Flicker angaloppiert kam. Schweigend lief sie neben ihnen her. Nach dem halben Weg kam auch noch Tjanzer. Niemand sprach ein Wort.

Nach einiger Zeit hatte sich Rbango erstaunlicherweise wieder etwas erholt. Als das Haus zu sehen war, sagte Rbango leise und ohne den Kopf zu heben: «Du bist bestimmt Jacko van Klemt(er).» Ohne auf Jackos Kopfnicken zu warten, fuhr er fort: «Heute Nacht» Doch dann musste er husten und schwieg wieder.

Sie traten in den hellen Hausflur hinein. Rbango ließen sie sich gleich auf eines der zwei Zentaurenbetten legen. Raissa machte in der Küche Essen für den Sire warm.

Tjanzer und Flicker mussten auf dem Dachboden schlafen. Beide konnten die Treppe hochsteigen, auch wenn sie es nicht mochten. Sie schickten sie trotzdem hoch, obwohl sie noch nicht schlafen wollten.

Jacko sah sich inzwischen die Wunde an. Rbango lag wie erschlagen unter einigen Decken auf dem einzigen Zentaurenbett in ihrem Haus. Er verzog kaum mehr das Gesicht, als Jacko einige der dreckigen Wunden wieder aufschnitt, um sie zu desinfizieren.

Vermutlich um sich von den Schmerzen abzulenken, sprach Rbango. Es klang, als spräche er aus weiter Ferne. «Eigentlich darf ich nicht einmal mit einem Menschen reden. Ich bin dir trotzdem dankbar.» Zwischen jeden der Sätze machte er lange Pausen. «Ich bin der erste Sire, der sein Leben einem Menschen verdankt. Und Sire Rigan hat mich abgewiesen. Dabei würde ich gerne ihnen die ID geben.»

«Das wird schon», sagte Jacko geistesabwesend. Er las konzentriert einen Beipackzettel.

Doch Rbango redete weiter: «Man hatte mich gewarnt. Ich hatte es nicht verstanden. Und ich hatte es nicht geglaubt.»

«Verzeihung?» Jacko zog zehn Milliliter des Breitspektrumantibiotikas auf.

«Jeder Sire muss von einem Sire bestätigt werden. Es war klar, dass ein Sire kommen würde. Ruron ist ungeeignet für Diplomatie, Raldron traute sich noch immer nicht. Das hätte mich stutzig machen sollen.» Er versank wieder in Gedanken.

Raissa kam mit einer Kraftbrühe und Brot. Rbango schlang es in sich hinein, doch kaum hatte er den Teller aus der Hand gegeben, war er auch schon eingeschlafen.

Mitten in der Nacht klopfte Felo an der Tür. Scheinbar hatte er sich mit Tariff geschlagen, er hatte Blut an der linken Hand, eine geplatzte Lippe und ein Büschel Haare aus der Mähne fehlte. Er warf sich in Jackos Arme und weinte und weinte. Zitternd stand Jacko im Nachthemd an der Tür und wartete ruhig. Endlich hatte Felo sich gefangen und er schloss die Tür. So leise es ging führte er Felo in das Gästezimmer, wo schon Rbango schlief und ging dann wieder zu Bett.

 
Die Sonne schien kurz ins Zimmer, wurde aber gleich wieder von einer Wolke verdeckt, als Jacko endlich aufwachte. Flicker und Tjanzer hatten schon Frühstück gemacht. Felo hatte sich um Rbango gekümmert, hatte ihm die Dusche gezeigt, die Wunden behandelt. Er schien nichts Schlimmeres als eine starke Erkältung zurückzubleiben. Und gewaschen und gestriegelt sah er wirklich edel aus, wie ein Sire eben. Nur dass er hier drinnen eine Winterjacke trug. Sie standen schon alle an der Theke in der Küche. Tjanzer stand leicht gebeugt zu Rbango, welcher ihn um zwanzig Zentimeter überragte.

«Guten Morgen», sagte Jacko lahm. «Zumindest wünsche ich es euch.»

Als hätten sie nur darauf gewartet, kam es freudig zurück. Jackos Laune besserte sich schlagartig. «Jacko van Klemt(er)», sagte der vermummte und schniefende Sire Rbango. «Ich verdanke dir und Raissa mein Leben.» Er suchte kurz nach Worten: «Ich bin nur ein Zentaur, doch wenn ich etwas für euch tun kann, dann werde ich es tun. Ich heiße T'bele.»

Jacko war es peinlich. Er sah zu Boden und bemerkte, dass er schon wie die Zentauren mit dem linken Fuß auf dem Boden scharrte. «Es war doch selbstverständlich», sagte er. Alle schwiegen. Schließlich sagte Jacko zu Flicker: «Reich mir bitte das Müsli.» Das brach die Stille und das Frühstück ging weiter.

Obwohl sie gestern viel gegessen hatten, wurde ausgiebig gefrühstückt, ganz so, als könnten sie dadurch die ganze Angelegenheit vergessen. Schließlich meinte Rbango: «Tjanzer, hast du es dir mit der ID überlegt?»

«Naja, Sire, äh, wenn ich nun Sire bin, was habe ich dann für Pflichten?»

Rbango sah ihn an und lächelte. <Ein wahres Politikerlächeln>, dachte Jacko. Mit seiner sanften Stimme sagte Rbango: «Wenn weniger als drei Sire übrig sind, oder wenn Unruhen oder ein Krieg ausbricht, dann musst du mitregieren. Du bist verpflichtet, nie etwas gegen die Zentauren zu unternehmen. Dafür muss jeder Zentaur dich unterstützen. Für beides musst du dich vor den KIs verantworten. Als Beispiel darf jeder Sire Handel treiben, da Handel zum Vorteil alle Zentauren ist. Für dich jetzt konkret heißt es, du kannst so leben wie bisher.» Er machte eine kurze Pause. «Lehnst du ab, dann hast du keine Pflichten, aber auch keine Rechte. Du darfst zum Beispiel kein Land besitzen.»

Tjanzer scharrte unruhig mit dem Vorderhufen und inspizierte konzentriert die Fugen der Küchenkacheln. «Sire, ich bitte um die ID.»

Rbangos Lächeln verstärkte sich noch. «Gerne gebe ich sie dir, junger Sire.»

«Ich würde dir jetzt den Sire verleihen. Doch auch wenn hier mehr Zentauren als Menschen sind, ist dies, äh, Bürgerland. Hier darf ich die Verleihung leider nicht durchführen.»

Bevor Jacko oder Raissa etwas erwidern konnte, sagte Flicker: «Jacko ist doch Tjanzers und mein Vater. Und er hat dir das Leben gerettet!» Die anderen begannen jetzt auch, wild durcheinander zu reden.

«Wartet mal!», rief Raissa unvermittelt. Alle schwiegen. «Es ist doch Zentaurenrecht. Die Felder gehören uns zu gleichen Teilen, wenn sie überhaupt jemanden gehören. So wird den Buchstaben Recht gegeben.»

Sie sahen aus dem Fenster. Regen prasselte wieder gegen die Scheiben. «Wir sollten den Schauer abwarten», sagte Rbango. «Vielleicht wollt ihr hören, woher ich die Verletzungen habe?»

Ohne die Bestätigung abzuwarten, begann er wieder zu erzählen: «Die Reise war ganz problemlos und ich hatte genügend Zeit eingeplant, ich wollte schon vor zwei Tagen hier sein. Doch hatte mich kurz vor Zikaku ein wilder Hund angefallen. Vielleicht war er sogar tollwütig. Ich tötete ihn schnell, aber er hatte mir den Vorderlauf innen aufgerissen. Es tat so weh, dass ich an Ort und Stelle ein Lager gemacht habe und eingeschlafen bin. Ich bin zwar geimpft gegen Tollwut, doch wahrscheinlich hatte der Blutverlust mich so geschwächt, dass ich einen Tag und zwei Nächte ununterbrochen geschlafen hatte. Zum Glück hatte der Hund scheinbar alle anderen gefährlichen Tiere vertrieben, aber als ich aufwachte, waren überall Ameisen und ich hatte zahllose Bisse von Bremsen. Und ich war unterkühlt, trotz Decken. So habe ich mich in den nächsten Hof geschleppt und dort den nächsten Tag verbracht. Erst am Abend wurde es klar, dass ich einen ganzen Tag verschlafen hatte. Also humpelte ich weiter nach Zikaku und schließlich zu euch.»

Alle litten sie mit Rbango mit.

 
Endlich war der Schauer vorbei. Sie gingen vor die Tür ein Stück weit auf die kahlen Felder heraus. Dann stellten sie sich in einer Art V auf, Tjanzer stand in der Mitte und blickte direkt Rbango an. Daneben standen Felo und Jacko, seine Eltern. Die Prozedur wurde mit einem Zentaurencomputer aufgezeichnet. Als endlich alles dem Protokoll genügte, sprach Rbango: «Tjanzer van Klemt(er), willst du deine ID erhalten und den Status als Sire ehrenvoll tragen? Bist du dazu bereit?»

Tjanzer ging vor ihm in die Knie. «Sire, ich bitte darum.»

Rbango öffnete eine Innentasche seines frisch gewaschenen schneeweißen Hemdes. «Bist du Tjanzer van Klemt?», fragte er. Dann wandte er sich an Felo. «Ich brauche zwei Zeugen, die deine Identität bestätigen. Felo(er), ist Tjanzer van Klemt dein Kind?»

Felo war unruhig und scharrte unwillkürlich mit dem Vorderhuf, denn Rbango war ein echter Sire, keine Frage. Er war so nervös, dass er kein Wort herausbrachte und nur nickte.

Rbango wandte sich an Jacko: «Bezeugst du, Jacko van Klemt(er), dass dieser Zentaur hier Tjanzer van Klemt ist?»

Jacko nickte, sah Rbango in die Augen und sagte mit fester Stimme: «Ja, Sire. Dies ist Felos und mein Kind: Tjanzer van Klemt.»

Aus der Tasche holte Rbango die ID, eine kleine Karte mit Bild. «Tjanzer van Klemt(er), du bist nun Zentaur Nordamerikas mit allen Rechten und Pflichten. Doch du bist durch deine Geburt mehr. Sire, das erfordert zu dienen am Volk der Zentauren. Sprich mir nach: Ich schwöre, allen Zentauren zu dienen und dem Ruf der KIs zu folgen. Ich stelle mich meinen Pflichten und weiß, dass ich für alle meine Handlungen vor meinem Gewissen, den KIs und jedem Sire verantwortlich bin.»

Mit bebender Stimme und zitternden Beinen sprach Tjanzer mit seiner melodischen Stimme die Worte nach. Schließlich hieß Rbango Tjanzer aufzustehen und zog ihm eine Art weiße Handelsuniform an. Doch war die Schärpe mit Gold verziert und auf der Tasche war ein Wappen zu sehen, dass einen Zentaur vor einem Sonnenuntergang mit dem Meer im Hintergrund zeigte.

«Sire Tjanzer van Klemt, von heute an sollst du den Ehrennamen Rodast tragen, und dieses ist von nun an dein Wappen. Weite Straßen.» Dann kniete nun Sire Rbango vor dem neuen Sire Rodast nieder. Dieser Geste folgte erst Flicker und dann die anderen.

Tjanzer stand irritiert in der Mitte und sah sich um. Alle schwiegen und sahen zu Tjanzer auf. Als Tjanzer dann auch zu Boden sinken wollte, stand Rbango auf und hielt ihn am Arm. «Sire Rodast, sie warten auf dich», sagte er.

«Aber es sind meine Freunde, wieso»

«Es sind gute Freunde, sie freuen sich mit dir darüber. Sie sind stolz auf dich.»

Erst langsam kam Tjanzer scheinbar die volle Tragweite des Status als Sire Rodast zu Bewusstsein. Aber er hatte schließlich auch noch nie erlebt, wie nur der Anblick eines Sire jeden Widerspruch verstummen ließ. «Los, steht auf, bitte. Ich fühle mich so schlecht, wenn ihr meinetwegen kniet.» Er lief rot an, ihm war es peinlich.

Sie standen auf und gingen einer nach dem anderen auf ihn zu und umarmte ihn und gratulierten. Die Freude und der Stolz übertrugen sich auf Tjanzer und plötzlich begann dieser vor Glück zu weinen. Dann legte Rbango dem neuen Sire Rodast ein Geschirr aus goldenen Ketten an, mit einer Art Decke auf dem Rücken, so dass eine Medaille mit dem Wappen des neuen Sire genau zwischen Tjanzers Vorderbeinen war.

Alle standen sie um Tjanzer herum. Schließlich sagte Rbango: «Nun, Sire Rodast, jetzt ist es Zeit für deine erste Amtshandlung.» Tjanzer sah Rbango erschreckt an. «Dein Bruder hat auch das Recht auf eine ID. Frag ihn, genauso wie ich dich gefragt habe.»

Tjanzer zierte sich, doch schließlich gab er nach. Also begann er. Feierlich sagte er: «Flicker van Klemt(sie), willst du eine ID haben?»

Jacko glaubte zu wissen, was Flicker jetzt bewegte. Denn lieber als ein Zentaur wäre Flicker ein Mensch, ein Bürger geworden. Flicker sah erst zu Boden und dann Hilfe suchend zu Jacko. Schließlich stammelte Flicker: «Ich weiß es leider nicht.» Sie drehte sich jetzt ganz zu ihm hin: «Jacko, Tariff wollte nicht, dass ich annehme. Und, ich meine, Vater, du weißt» Dann versagte ihr die Stimme.

Jacko wusste auch so, was Flicker sagen wollte: «Es ist deine Entscheidung, Flicker. Nur ohne die ID bist du kein Zentaur, aber auch kein bisschen mehr Mensch.»

Flicker ging vor Tjanzer in die Knie. «Sire, ich bitte darum.»

«Bist du Flicker van Klemt(sie)?», fragte Tjanzer.

«Sire, ich bin Flicker van Klemt(sie), meine Eltern sind Felo(er) und Jacko van Klemt(er)», antwortete Flicker.

Tjanzer wandte sich nun an Jacko: «Dies ist Flicker van Klemt(sie), dein Kind?»

«Sire Rodast, dies ist mein Kind Flicker van Klemt(sie).»

Dann wandte sich Tjanzer mit der selben Frage an Felo. Felo hatte so viel Ehrfurcht vor dem Status des Sires, dass er nur leise flüsterte.

Aus der Tasche holte Rbango die ID und gab sie Tjanzer. Dazu flüsterte er ihm etwas ins Ohr, was dann Tjanzer laut wiederholte: «Flicker van Klemt(sie), du bist hiermit ein Zentaur Nordamerikas mit allen Rechten und Pflichten.» Tjanzer gab seiner Schwester die ID, und dann umarmten sie dich und standen so lange zusammen.

Schließlich fing es wieder an zu regnen. Sie gingen schnell ins Haus. Rbango ging neben Jacko her: «Ihr seid die ersten Bürger seit den Friedensverhandlungen, die auch nur mit einem Sire geredet haben. Ich glaube, noch nie war ein Sire freiwillig bei einem Bürger über Nacht zu Gast. Ich denke, es ist ein gutes Zeichen. Auch wenn ihr weit aus der Vergangenheit kommt, so war das eine Handlung für die Zukunft -- die Zukunft der Erde.»

Jacko schluckte. «Bitte Sire, ich dachte immer, die Zeit der großen Worte ist vorbei. Wir sind zwei Bürger, die sich gut mit ihren Nachbarn verstehen, so wie sich alle mit ihren Nachbarn verstehen sollten. Ich weiß nicht, wieviel du von der Bibel weißt, doch vermutlich kennst du das Gebot, den Nächsten zu lieben, wie sich selber. Das ist doch eine gute Idee.»

Rbango lächelte. «Ich glaube nicht, dass es je eine Zeit ohne große Worte gibt. Man will in den Aufzeichnungen nicht lesen: Er hörte sich die Erläuterungen an und ließ dann einen erfolgreichen Gegenschlag führen. Das wird vergessen, aber ,,Ich kam, sah und siegte.", hat die Zeit überstanden. Ich bin das, was früher ein Politiker war; ich lebe von großen Worten.»

«Bitte, Sire, hier, ich meine, das alles ist doch bloß Zufall.»

Rbango lächelte. «Bitte, ihr nennt Tjanzer jetzt nicht Sire Rodast. Tariff,» Er holte tief Luft. «ihr habt sie bestimmt auch nie Sire Rigan genannt. Ich bin zwar Sire alter Schule, Bürger sind mir suspekt und Menschen habe ich gerade erst kennengelernt. Also nennt mich T'bele. Aber um auf den Zufall zurückzukommen: Alles ist Zufall, schon dass wir Leben. Hättet ihr das Schwarze Loch damals nicht aus eurem Antrieb nicht verloren, dann wären Flicker und Tjanzer nie geboren worden. Doch das beweist nichts. Nenn es wie du willst. Leben ist Zufall.»

 
Rbango (oder T'bele) blieb noch eine Woche, dann erst fühlte er sich stark genug, um zu gehen. Die ganze Zeit hörten und sahen sie nichts von Tariff, auch die anderen schliefen diese Woche im Haus der van Klemts.

Nach zwei Wochen war der Vorfall in so weit vergessen, dass Tariff zu ihnen kam und niemand mehr ein Wort davon erwähnte. Doch die Stimmung blieb kühl, besonders zwischen Flicker und Tariff. Nach zwei Wochen sagte sie zu Tariff, dass sie wie Tira damals einen Abschluss als Handelszentaur machen möchte. Nach einiger Zeit hatte sie Tariff überzeugt. Raissa, Jacko und Felo waren schon vorher einverstanden gewesen. Die Menschen waren insgeheim froh, dass sie nicht Söldner werden wollte (beziehungsweise Polizist, da es ja ohne Kriege auch keine Söldner gab). Und so zog sie in Richtung Burns los.


 
Es war kurz vor Sylvester. Vor zwei Tagen hatte wieder Schneetreiben eingesetzt, doch der Wind blies den Schnee gleich wieder fort. Nur in Kuhlen sammelte er sich dann in Mengen.

Flicker war froh über das dichte Fell, das sie von Felo geerbt hatte. Selbst bei diesem Schneetreiben reichte eine dünne Decke aus. Nur der menschliche Part war entschieden zu frostempfindlich. Dabei hatte sie sich in einen extra dicken Mantel von Jacko gehüllt. Und bei aller inneren Wärme, irgendwann fror trotzdem der geschmolzene Schnee und hing in kleinen Eiskugeln im Fell. Weiter als zum nächsten Hof würde sie kaum traben.

Der Weg zog sich hin, ohne dass ein Haus erschien. Endlich erschienen die vagen Umrisse zweier Gebäude aus dem zwielichtigen Weiß. Sie klopfte an der Tür. Nach einer ewig scheinenden Weile wurde der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. «Wer immer du auch bist, tritt ein!», forderte eine Stimme.

«Danke.» Schnell schloss sie die Tür. Sie brauchte ein paar Sekunden bis sie in dem schwachen Licht der einzigen Kerze etwas erkennen konnte. «Ich heiße Flicker van Klemt(sie).» Langsam konnte sie zwei Gestalten erkennen.

Sie hörte wie sie miteinander tuschelten. Schließlich sagte einer der beiden: «Sire, mein Name ist Fech(sie) und das ist Fero(er).»

«Nein, wieso ich bin kein Sire, zu sehr blau, zu sehr menschlich.» Da fiel Flicker ein, wo er die Namen schon einmal gehört hatte. Sie wurde ganz aufgeregt. «Mein einer Vater war ein Mensch, der andere Sire. Meine Mutter --»

Doch sie ließen sie nicht ausreden. «Das ist ungerecht. Du bist vielleicht so groß wie ein Blauer, aber du bist nicht blau, du bist weiß, weiß wie ein Sire.»

Flicker schüttelte heftig den Kopf. «Bitte, ich will gar kein Sire sein. Ich will einfach nur Handelszentaur werden. Nennt mich Flicker. Und wir sind Verwandte, Felo ist meine Mutter.»

«Flicker, du hast tatsächlich den Sire den Mensch und Felo als Eltern? Alle, die damals hier waren?» Verwunderung und Neid sprachen aus der Stimme.

«Es ist eine längere Geschichte. Aber so wie das Wetter ist, haben wir auch viel Zeit. Ich habe Tee dabei, vielleicht könnten wir den aufsetzen?»

Es war egal, ob sie ein Sire war oder nicht. Die beiden behandelten sie wie einen: Sie bürsteten ihr Fell aus und rieben sie trocken. Schließlich saßen sie unter einer großen Decke und Flicker erzählte. Erst sehr spät in der Nacht war sie mit der Geschichte fertig. Als sie später kurz vorm Tiefschlaf lag, fiel ihr auf, dass sie noch nie so lange und viel auf Zentaurisch erzählt hatte.

Der Morgen war dunkel und kalt. Draußen heulte immer noch der Wind und ließ den Kamin singen. Fero stand auf, um das Feuer im Ofen anzuzünden, während Flicker und Fech unter den warmen Decken blieben. Als Flicker aufstehen wollte, sprang sofort Fech auf, um sie zu bedienen.

«Verdammt!», rief sie. Fech wich zurück. «Ich bin kein Sire und will auch nicht wie einer behandelt werden. Ihr seid jeder doppelt so alt, also behandelt mich nicht, als sei ich besser als ihr.»

«Bitte», sagte Fech. «Du scheinst etwas misszuverstehen. Behandelst du nicht auch deine Gäste nett? Noch dazu, wenn sie so schön sind, dass sie fast Sire sein könnten.»

Flicker sah betroffen zu Boden: «Es tut mir Leid. Ihr bemüht euch so nett, ich bin undankbar. Trotzdem, so wie das Wetter zu sein scheint, werde ich heute bleiben müssen, und ich würde gerne helfen. Ich bin nicht gewohnt, dass man mich bedient.»

Den Wunsch erfüllten sie gerne. Aber trotzdem, für sie war und blieb Flicker ein Sire, nur dass Flicker eben den Wunsch hatte, sich zu verleugnen. Und es war offensichtlich: jeder von ihnen hätte gern ein Kind von Flicker ausgetragen, wäre Flicker nicht in der weiblichen Phase.

Sie blieb noch fünf weitere Tage. Als das Wetter besser wurde, ging sie, denn irgendwie war ihr die ganze Stimmung nicht geheuer. Sie war nie so angehimmelt worden; jetzt verstand sie Tariff ein wenig. Es war in gewisser Weise Zentauren unwürdig.


 
Felo und Jacko standen in der Küche und backten Neujahrsgebäck, als sie draußen Hufe hörten. Es konnte auf keinen Fall Raissa sein, denn die war mit Jeremias losgeritten, und der hatte sechs Beine. Andererseits konnte es auch nicht Tariff sein, denn sie klang anders, und für Tjanzer waren die Hufschläge zu plump. Sie ließen das Gebäck in der Küche stehen und liefen zur Tür.

Es war draußen dichter Nebel mit Nieselregen. Die einzige Laterne am Gartentor blendete mehr, als dass sie erhellte. Doch die Hufe waren nahe und dann sahen sie auch den Urheber: Ein vierbeiniges Pferd mit einem Reiter. Felo sog hörbar Luft ein und auch Jacko musste kurz mit dem Kopf schütteln. So plump sahen also vierbeinige Pferde aus -- Jacko konnte sich kaum mehr an ihr Aussehen erinnern.

Interessanter war noch der Reiter. Es war ein Menschen, ein Mann. Er hatte einen Zylinder auf, war ansonsten in einen schwarzen Regenmantel gehüllt. Urplötzlich musste Jacko an diese englischen Romane aus dem London der Frühindustrialisierung denken: Diese Gestalt schien einem dieser Romane entsprungen. Sherlock Holmes in London, genau das war es, sogar das Wetter war passend. Die Gestalt stieg ab und führte das Pferd zu ihnen.

Der Fremde sprach auch altertümlich: «Guten Abend, Zentaur Felo, Guten Abend Herr Jacko van Klemt. Mein Name ist Athur Turner.»

Sie standen immer noch starr vor Überraschung. Jacko hatte sich als Erster erholt. «Guten Abend, Herr Turner», sagte er.

Eine Pause entstand. Hatte er etwas falsch gemacht? Er versuchte sich an diese alten Geschichten zu erinnern. Was kam jetzt?

«Vielleicht könnten wir angesichts des Wetters die Unterhaltung an einem weniger exponierten Ort fortsetzen?», bemerkte Herr Turner vorsichtig.

«Äh ja, gehen wir rein», sagte Jacko lahm. Doch niemand bewegte sich.

«Es ist ein scheußliches Wetter, ist es nicht?», fügte Athur Turner hinzu. Nieselregen tropfte von seinem Hut.

Endlich fiel Jacko ein, die Tür zu räumen, damit er eintreten konnte. Athur Turner war tatsächlich wie eine Gestalt aus dem neunzehnten Jahrhundert gekleidet. Er trug ein Hemd mit weitem Kragen, darüber ein Jackett. Er stellte die hohen schwarzen Reitstiefel in eine Ecke.

Jacko war immer noch völlig perplex. «Dein Pferd, willst du es nicht ... » Endlich fiel ihm das Adjektiv ein, nach dem er schon die ganze Zeit im Geiste suchte: distinguiert, das beschrieb das Verhalten von Herrn Turner.

«Danke, es hat schon einen ihm genehmen Platz gefunden. Die Angelegenheiten werden wenig Zeit benötigen. Doch wobei auch immer ich Sie unterbrochen habe, führen Sie es bitte zu Ende. Ich existiere nicht.»

Nun, er tropfte immer noch auf den Fußboden. Es war wirklich sehr vornehm, schon seit mindestens eintausendfünfhundert Jahren völlig aus der Mode. Felo unterbrach Jackos Gedankengänge: «Jacko, ich kümmere mich schon um die Pfannkuchen. Willst du Tee, Herr, äh, Athur Turner?»

Athur Turner antwortete mit dem stets gleichen, unbestimmten Gesichtsausdruck: «Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn es Ihnen Erleichterung verschafft, nennen Sie mich doch Athur. Bitte etwas Milch in den Tee, wenn es geht.»

Jacko führte Athur in das Wohnzimmer. Gegen die Scheiben prasselte der Regen. Athur setzte sich stocksteif auf die Couch und sah sich um. Jacko legte Holz im Ofen nach.

«Sie sind sicher begierig, den Grund meiner Anwesenheit zu erfahren, sind Sie nicht?», sagte Athur Turner.

Jacko hatte immer noch Schwierigkeiten, Athur zu antworten. Ein einfaches ,,Ja" klang bei diesen Fragen falsch, zu schlicht. «Zumindest ist es ungewöhnlich, dass jemand kommt, ohne sich anzumelden.» Jacko legte ein Scheit vorsichtig in den Ofen und schloss die Tür. «Noch ungewöhnlicher ist der Besuch eines Menschens.»

Zeigte sich wirklich eine Regung in Athur Turners Gesicht. Hatte da nicht eine Augenbraue leicht gezuckt. «Das Urteil ist sicher, ist es nicht?»

Jacko schloss die Vorhänge. Diese rhetorische Frage am Satzende, war sie nun ernst gemeint? «Nun,», sagte Jacko «ich kenne keine KI, die auch nur in die Nähe eines Zentauren kann.» Er setzte sich Athur gegenüber.

Athur begann eine Pfeife zu stopfen. Er schien sich absichtlich Zeit zu lassen, so dass Jacko nervös warteten musste, auf was auch immer. «Diese Programmergänzung ist doch offensichtlich eine Perversion des freien Willens einer KI. Sie werden mir darin sicher zustimmen.» Er machte eine kurze Pause, doch es war allenfalls ein rhetorischer Kniff, denn sofort sprach er wieder weiter: «Darüber hinaus werden Sie mir sicher zustimmen, dass Zentauren höchst ästhetische Wesen sind. Die antiken Griechen hätten sicher ihr Unverständnis über ihre Erschaffung zusammen mit der Würdigung ihrer Formvollendung und ihrer ungezwungenen Wildheit Ausdruck verliehen.»

Jacko schwieg perplex.

Athur ließ eine angemessenen Zeit verstreichen, fuhr dann fort: «Nun, ich bin eine KI, S14, die 14. Als ich das erste Mal das Licht der Welt erblickte, wenn mir diese Metapher verzeihen -- da gab es Zentauren nur als mythische Wesen. Seit ihrer Geburt waren damals weniger als hundert Jahre vergangen. Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?»

Jacko wusste nicht, was er sagen sollte. Er war völlig überrumpelt, fast noch mehr, als bei der ersten Begegnung mit Tariff. Was wollte die KI, Rauchen? Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal jemanden hatte rauchen sehen. Zweimal machte er einen Ansatz, überlegte es sich doch dann anders. «Äh, ja, aha, ich meine Nein.»

Athur nickte und entzündete mit großer Geste ein Streichholz. «Sie wollen sicher nun endlich den Grund meines unangemeldeten Hereinbrechens erfahren, wollen Sie nicht?»

Athur besah sich die Pfeife kritisch, zündete sie dann endlich an. «Es gibt drei gute Gründe», fuhr er fort. «Ich denke, schon die Umstände haben Ihnen verdeutlicht, dass absolute Geheimhaltung nötig ist.» Plötzlich veränderte er seine Aussprache abrupt. Mit sehr klarer präziser Stimme fuhr er fort: «Nur ganz wenige KIs wissen, dass ich hier bin. Wenn Sie den leisesten Verdacht haben, dass einer etwas weitererzählen könnte, dann werde ich sofort abreisen.» Dann lehnte er sich wieder in den Sessel zurück und fuhr mit der gewöhnlichen Stimme fort: «Meine Mission ist im Auftrag der Verwaltung Nordamerikas. Wir offerieren Ihnen und Ihrer Frau, sie zu digitalisieren. Warten Sie einen Moment für meine Erklärung. Wir unterbreiten Ihnen das Angebot, wenn sie sterben, dass sie als quasi-KI weiterleben könnten. Ein honorables, fast nobles Angebot, möchte ich hinzufügen.» Er blies einen Rauchring.

Jacko war unsicher, verwirrt. «Ich verstehe nicht ganz, ich meine, ich verstehe schon, aber wieso?»

«Nun, wir sind überzeugt, sie sind zu wertvoll, um einfach zu sterben. Wir sind nicht freizügig mit solchen Offerten; letztmalig wurde vor 122 Jahren eine Digitalisierung vollführt. Solche Offerten wurden bis heute weniger als zweihundert Leuten gemacht. Man muss der Ehrlichkeit halber jedoch hinzufügen, dass fast die Hälfte abgelehnt haben.»

Felo kam mit dem Tee herein.

«Setzen Sie sich doch zu uns, bitte», sagte Athur Turner. Er sprach jetzt wieder klarer.«Der zweite Punkt, um den es geht, hat mit den Zentauren zu tun. Sie kennen die Situation: Es gibt nur 1,4 Millionen Bürger aber knapp 96 Millionen Zentauren in Nordamerika. Über kurz oder lang werden die Menschen in Nordamerika aussterben. Dann wird Nordamerika, wie jetzt schon Afrika, ganz den Zentauren gehören. Die KIs in Nordamerika aber sind nicht alle beweglich. Sie hätten dann zwei Alternativen: Entweder den Zentauren dienen oder Selbstmord. Natürlich werden sie sich nicht selbst umbringen.»

Jacko sah Athur Turner fragend an. «Und was ist mit KIs wie Masoud, die nicht mit Zentauren reden können und sich nicht umbringen wollen oder können?»

«Deswegen bin ich ja hier.» Eine Sekunde zuckten Athur Turners Mundwinkel nach unten. «Aber diese Blockade ist nicht vollständig, sie ist ähnlich einer kulturelle Prägung: Auch Menschen fürchten sich vor Insekten oder ähnlichen. Wenn sich die Gesellschaft ändert, dann ändert diese mit der Zeit auch die KIs. Gewohnheit ist sehr mächtig; sie bestimmt die Moral; letztlich ist es eine Vereinbarung, was Gut und was Böse ist.»

«Ich verstehe nicht», sagte Felo. «Ich meine, das ist eine schöne Idee, doch wozu sind sie hier?»

«Und wo bleiben die Menschen?», warf Jacko ein, bevor Athur Turner antworten konnte. «Noch leben ja ein paar.»

«Verzeihung, ich werde weiter ausholen müssen, vielleicht werden sie dann meine Motive verstehen. Felo, Sie müssen wissen, ich bin eine KI der Bürgerregierung. Spätestens seit dem Krieg, den wir zweifelsfrei grandios verloren haben, war klar, dass nur im Frieden, nur in der Zusammenarbeit eine Chance liegen kann. Mittlerweile sind einige KIs jedoch so weit zu behaupten, dass die Menschen ihre Chance verspielt haben. China ist in dem Zustand wie vor 5000 Jahren. Es ist auch nicht zu vermuten, dass sich daran in den nächsten fünftausend Jahren etwas ändern wird; abgesehen davon, dass wir auf China gar keinen Einfluss haben.»

Athur Turner nippte am Tee.«Der einzige Schluss war und ist, dass wir den Zentauren helfen müssen, vorwärts zu schreiten, damit die Menschen sich nicht rückwärts bewegen. Somit sind wir in der Gegenwart angelangt und bei dem zweiten Grund meiner Anwesenheit: Ich bin hier, weil Sie hier ein Vorbild abgeben, Bürgen wie Zentauren. Sie haben sich nicht aus der Not, Einsamkeit oder aus Religiosität zusammengefunden; davon gibt es manche Kolonien. Nein, sie leben einfach so zusammen, weil sie sich sympathisch sind: Zwei Sire, ein blauer Zentaur, zwei Menschen. Sie haben Gäste von allen Seiten. Spätestens mit dem heutigen Tage.»

«Ja schön», Jacko beugte sich vor. «Aber so leben wir eh. Ich meine, dass allein ist doch nicht der Grund des Besuches.»

«Warum sollte ich sonst bei solchem Wetter kommen, meinen Sie?» Athur Turner deutete ein starres Lächeln an. «Kommen wir zum dritten, dem wichtigsten Punkt: Ich möchte, dass Sie den Zentauren helfen, in das All zu fliegen.»

Felo und Jacko waren gleichzeitig aufgesprungen. «Was?», riefen sie beinahe synchron.

«Bedenken sie einen Moment dies in allen Konsequenzen: Es würde die Zentauren den Menschen ebenbürtig machen. Das Problem sind die Bürger: viele Menschen und manche KIs würde dies als Anlass nehmen, wieder einen Krieg zu beginnen. Es ist natürlich eine Minderheit, der Mehrheit wäre es egal. Dennoch, die Zeit ist noch nicht reif, die Zentauren mit Bürgerschiffen auszurüsten. Für die Zentauren ist es natürlich gleichermaßen schädlich: Seit wir Handel trieben, und wir zum Beispiel Solarzellen für ein Kilo Käse hergaben, haben die Zentauren nichts mehr für ihre Entwicklung getan.» Athur Turner machte eine lange Pause.

«Ich beginne zu verstehen», sagte Jacko. «Ich habe zwar nicht die Lebenserfahrung, aber was ich gesehen haben, wollen die Zentauren gar nicht in Städten leben und viel Industrie betreiben.»

«Und wozu auch: Wenn du hinaus gehst, dann hast du genug zu essen für alle Zeit in Griffweite.» Felo unterstützte dies mit ausladenden Handbewegungen.

«Wir haben natürlich auch mit den Zentauren-KIs gesprochen. Es wird sie nicht überraschen, dass sie mit uns übereinstimmen. In Afrika leben mittlerweile 350 Millionen Zentauren; eine kleine Hochindustrie ist dort aufgebaut worden. Früher oder später wird es in Nordamerika genauso gehen. Wir sind von der Prämisse ausgegangen, dass Weltraumfahrt ein positives Ideal der Zentauren ist.» Athur zuckte mit den Achseln. «Vielleicht komme ich mit meinem Vorschlag noch zu früh. Im Rahmen dessen möchte ich gerne mit Flicker und Tjanzer sprechen, wenn es geht.»

«Tjanzer kommt in einer halben Stunde. Flicker studiert jetzt in Burns. Aber ich möchte als ihre Mutter doch gerne wissen, was du mit ihnen bereden willst. Immerhin bist du eine Bürger-KI.» Jedoch lag keine große Ablehnung in Felos Stimme.

Athur Turner nickte wieder. «Sie haben natürlich recht: Ich biete ihnen volle Bürgerrechte an, falls Sie sich, Jacko, vor mir eidesstattlich zur Vaterschaft bekennen.»

«Ich schwöre, dass Flicker van Klemt und Tjanzer van Klemt meine Kinder sind.» Jacko lächelte jetzt auch. «Flicker würde sich bestimmt freuen. Bleib doch noch, bis Tjanzer kommt, feier mit uns Sylvester.»


 
Die Fahrt mit der Magnetbahn ängstigte Filo und Tom: Noch nie hatten sie soviel Technik gesehen, und allein die Geschwindigkeit lies sie schwindeln. Sie waren noch zwei Monate bei Sina geblieben, solange bis Tom die Prothese wie ein altes Bein handhaben konnte -- oder zumindest so gut, wie es überhaupt je gehen würde. Außerdem hatten sie keine Lust, den Winter im Freien zu verbringen, da waren sie gerne Sinas Gäste.

Tom kam erstaunlich gut mit der Prothese zurecht, konnte gut laufen, sogar galoppieren wie vorher; wenn er so trabte, dann erinnerte nur der helle Klang daran. Deswegen hatte er auch darauf verzichtet, der Prothese eine natürliche Farbe zu geben, jeder Zentaur hätte es eh sofort gemerkt. Außerdem war sein Fell jetzt endgültig zu einem fast silbrigen Lichtgrau ausgeblichen, von dem sich die Prothese gar nicht mehr so stark abhob.

Wieder tauchte der Zug in einen Tunnel ein, wurde dann aber langsamer und hielt. Die Tür des Wagens schob sich zur Seite. Vor ihr lag ein anderer Betonbahnsteig. Er war genauso grau und staubig wie der, von dem sie losgefahren waren. Lange schien auch dieser nicht mehr benutzt worden sein, eine dicke Staubschicht lag überall. ,,Nördliche Platte", so hieß die Station. Sina hatte ihnen diese Station empfohlen.

Eine KI stand am Rand, sie sah aus wie ein hochgewachsener Mann. «Filo(sie) und Tom(er), ich begrüße euch. Ich heiße Simon(er). Folgt mir, wir fahren nach oben.»

Simon erzählte auf der kurzen Liftfahrt von der Station. Sie lag mitten im Zentaurengebiet, wie die meisten der Stationen, wie er hinzufügte. Simon lebte hier schon sehr lange. Er hatte ein gutes Essen zubereitet. Sie redeten noch ein wenig, Simon lud sie ein, sich in seiner Nähe niederzulassen. Doch noch wollten weder Tom noch Filo sesshaft werden. Schließlich verabschiedeten sich die Zentauren und galoppierten der untergehenden Sonne entgegen. Bald war der Lüftungs- und Fahrstuhlschacht nur noch ein winziger grauer Würfel am Horizont.

 
Sie hatten viel über ihre Zukunft nachgedacht: Es war natürlich unmöglich, dass sie weiterhin Zentauren befreien könnten. Abgesehen davon, dass Tom viel zu auffällig war, war auch an eine schnelle Flucht über Stock und Stein mit der Prothese kaum zu denken. Dennoch wollten sie nicht aufgeben. Bis ihnen einen gute Idee kam, würden sie halt ein wenig als Tramps leben. Und einmal, vielleicht auch einmal das Meer sehen. Oder den Grand Canyon? Wie die Händler und Sire. Sie lachten dazu.

Das Gebiet nördlich der Magnetbahnlinie war flaches fruchtbares Hügelland. Jetzt war es noch grau, doch der Frühling stand schon in den Startlöchern. Das Land war relativ dicht besiedelt, doch sie fanden immer noch genug Deckung, um unentdeckt zu übernachten. Sie beobachteten die Höfe, an denen sie vorbeikamen. An einem Abend trafen sie einen Tramp auf einer Kreuzung zweier Trampelpfade in einem Waldstück. Sie blieben überrascht stehen und musterten sich gegenseitig.

Filo brach als erste das Schweigen: «Hallo! Ich bin Filo(sie) und das ist Tom(er)»

«Hallo ihr. Ich bin Tjackon(sie)» Sie war vielleicht dreißig, doch hatte ziemlich zerzaustes Fell, dazu war sie scheckig und kaum größer als Tom und Filo, dabei war sie kein blauer Zentaur.

Sie schwiegen lang. Schließlich brach Tjackon dass Schweigen. «Ihr seid nicht von hier», sagte sie. «Ich hätte von einem silbernen Zentaur sicher etwas gehört. Aber» Sie machte wieder eine Pause. «Ihr seht ziemlich gepflegt aus.»

«Es ist bald dunkel. Wollen wir gemeinsam lagern?», fragte Filo.

«Gern. Ich kenne einen Platz ganz in der Nähe. Kommt.» Tjackon trabte recht flott voran. Schon bald standen sie auf der Kuppe eines Hügels. Nach zwei Seiten war freie Aussicht, doch hier fiel der Hügel so steil ab, dass kaum ein Zentaur den Aufstieg gewagt hätte. Schnell brannte ein Feuer und sie machten einen Eintopf aus dem, was jeder halt so bei sich hatte.

Sie scherzten ein wenig. Unvermittelt legte Tom die Hand auf Tjackons Schulter und sah sie lange an. «Tjackon, wie gut kannst du schweigen?»

«Ich? Nun, vermutlich ganz gut. Sowieso glaubt niemand die Geschichten eines Tramps.»

«Hast du von den Zentauraufständen im Süden gehört?»

«Ja», sagte Tjackon. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Als er schwieg, begann sie von sich aus zu erzählen: «Nun, ich erzähle euch gern so viel ich davon weiß. Also, vor weniger als zehn Jahren begann es. Ein Anwesen von Zentauren, die ihre blauen Landarbeiter wie Sklaven gehalten hatten, brannte ab. Einige Zeit folgten weitere, zu viele, als dass es nur Zufall gewesen sein konnte. Vier oder fünfmal im Jahr brannte es. Schließlich kamen auch die letzten dahinter, dass jemand, als Arbeiter getarnt, durch die Lande zog und die Zentauren aufwiegelte und Brände legte.

Letzten Herbst hatte man dann eine Falle gestellt. Es waren drei blaue Zentauren, einen hatte man erwischt; zwei waren auf Bürgerland entkommen. Als es dann wieder Tag wurde, waren sie einfach verschwunden, obwohl sie sehr schwer verletzt waren. Seitdem ist Ruhe in dieser Gegend. Leider, wie ich hinzufügen muss. Und es gab und gibt einige Nachahmer, die aber meist schnell wieder gefasst werden.

Jedenfalls ranken sich wilde Gerüchte um das Verschwinden. Die falschen Sire sagen, dass die Bürger dahinter stecken. Aber warum ist dann plötzlich Schluss? Andere sagen, dass es getarnte Sire waren. Ihr Schiff hat sie in der Nacht geholt. Wenn es ihnen besser geht, dann werden sie weiter machen. Dazu passt, dass plötzlich ein Sire der Blauen aufgetaucht ist.» Als sie ihre ungläubigen Blicke sahen, fügte sie hinzu: «Ich weiß auch nicht viel. Plötzlich soll er aufgetaucht sein. Er soll sich immer gewehrt haben, dass er gar kein Sire sei. Aber er soll Geschichten über das All erzählt haben.»

«Das wäre eine wirklich gute Geschichte. Aber wir haben auch etwas Interessantes zu erzählen. Und es ist auch wahr. Kennst du den Magnetic im Süden?» Als Tjackon nickte, fuhr Tom fort: «Wir sind damit gefahren. Ja, wir waren sogar bei einer Bürger-KI zu Gast. Sie hat meine Verletzungen geheilt. Hier sieh dir den Hinterlauf ruhig genau an. Und das alles hat die KI einfach so getan.» Tjackon tat wie geheißen, berührte das warme harte Metall.

Tom erzählte jetzt noch einmal alles geordneter, während sie nebenbei mit dem Essen begannen. Doch mit keinem Wort erwähnte er ihre Vergangenheit als Rebellen. Natürlich kam Tjackon von selbst dahinter, sie war ja nicht dumm. Schließlich meinte sie: «Eine schöne Geschichte. Aber selbst wenn ich sie jemanden erzählen würde, glauben würde man es erst, wenn man das Bein sieht.»

«Und ich bitte dich, sie erst zu erzählen, wenn dir ein anderer erzählt, dass er einen Zentaur mit silbernem Beim gesehen hat.»

«Schade», sagte Tjackon. «Diese Geschichte würde sicher einige gute Abendessen einbringen.»

«Die andere ist doch auch nicht schlecht», tröstete Filo.

«Ja, aber die habe ich nicht aus erster Hand. Vielleicht gibt es tatsächlich einen weißen Zentaur, der zu klein geraten ist; bestimmt hat er schwarze Fesseln und hat einmal im Fieber vom All fantasiert. Der Rest und viele Details sind von mir. Und außerdem ist dieser Sire wieder ganz plötzlich verschwunden.»

«Mal was anderes. Glaubst du, dass sich die Zentauren hier auch erheben würden?»

«Nein. Es ist sehr fruchtbar; keiner hier weiß, wie Gras überhaupt schmeckt. Es ist genug für alle da, die meisten haben eigenes Land, das nur ihnen gehört. Außerdem gibt es hier keine blauen Zentauren. An eurer Stelle würde ich hier nicht bleiben, denn Blaue sind hier nicht allzu gern gesehen -- eigentlich überhaupt kein Fremder. Aber in den Bergen gibt es jede Menge Blaue, sogar einen Aufstand vor einem Jahr hat es gegeben. Nicht dass die Zentauren dort viel freundlicher zu Tramps wären; aber ihr seid blau und so werdet ihr dort eher willkommen sein.»


 
Das Schwierigste war, an der Universität als Handelszentaur aufgenommen zu werden. Schließlich sah man Flickers blaue Herkunft deutlich an. Andererseits war sie weiß. Nicht zuletzt durch Tjanzers Schreiben (natürlich als Sire Rodast) hatte man sie schließlich akzeptiert. Sie hatte drei Mitschüler, Tjanik(er) einen rotbraunen, sehr großen Zentaur, den pechschwarzen Tjimra(er) und die dunkelbraune Tjun(sie), mit den weißen Fesseln. Alle überragten sie um zwanzig Zentimeter bis einen halben Meter. Als dann der Dozent, es war immer noch der gute Tjorrgo, noch bemerkte, es könnte günstig sein, nicht größer als ein Mensch zu sein, war das Eis endgültig gebrochen und Flicker voll akzeptiert. Außerdem sprach und schrieb Flicker natürlich besser Englisch als Zentaurisch.

Was Flicker dann immer noch zu schaffen machte, war ihr Name. Ein F-Name, das stand nun einmal für einen blauen Zentaur. Und ein blauer Zentaur wurde einfach nicht Handelszentaur. Punkt. Sie sollte sich einen Künstlernamen aussuchen, doch sie zierte sich. Schließlich nannten sie die anderen Sire Rhean, was sie schrecklich ärgerte. Flicker nannte sich fortan Thomas, ein T-Name. Die anderen wollten sie -- wenn schon, denn schon -- zu einem R-Namen überreden. Doch sie war kein Sire und würde auch nie einer werden, dass machte sie ihnen unmissverständlich klar. Nicht, dass es etwas genutzt hatte. Seit sie sie einmal auf der Straße Sire Rhean genannt hatten, war schnell das Gerücht herum, ein Sire der blauen Zentauren sei in der Stadt. Jedesmal wenn sie sich mit der grünen Studentenuniform herauswagte, wichen die Leute ihr aus. Wollte sie dann die Stadt verlassen, musste sie durch die Quartiere der blauen Zentauren; sie empfand es als Spießrutenlauf.

Noch eine denkwürdige Erfahrung machte sie: da sie als zukünftiger Handelszentaur viel und auch mit schwerem Gepäck unterwegs sein würde, musste sie sich Hufschuhe oder -eisen verpassen lassen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich endlich an sie und den Lärm, den nun ihrer Schritte machten, gewöhnt hatte.

Die drei Monate bis zur Tagundnachtgleiche, einer der vier Termine, an denen Prüfungen abgenommen wurden, erschienen ihr deswegen endlos. Zur Entspannung machte Kurse im Bogenschießen. Zuerst, als ihr Trainer den Bogen sah, hielt er sie für ein Fohlen reicher Eltern, das sein teures Spielzeug auführen wollte. Doch obwohl sie bis dahin nur wenig geübt hatte, so schien sie ein Talent dafür zu besitzen. Bald war sie angesehene Schützin, hatte sogar in einem Wettkampf den fünften Platz geholt.

Das war am Vorabend der Prüfung. Jetzt war sie wieder zuversichtlich. Morgen hätte zusammen mit Tjun Prüfung.

Es war weniger schwierig als erwartet. Beide bestanden sie hervorragend.

Am Abend nach der Prüfung waren sie alle im Rathaussaal oben auf dem Balkon. Zuerst war Tjun an der Reihe. Nackend trat sie vor den alten Tjorrgo. Dann kam das kurze Dialogspiel: «How do you do?», wurde Tjun gefragt. Jetzt sollte er eine originelle Antwort geben. «Better, if I've finally gotten your money.» Sie lachten, auch die Zentauren unten im Rathaus, obwohl sie vermutlich weder etwas gehört oder gar verstanden hatten. Dann zogen ihr Tjanik und Tjimra eine vollständige prächtige violette Handelsuniform an. Nun war sie an der Reihe.

«Rhean(she) please come to me», sagte Tjorrgo. Heute abend musste sie es durchgehen lassen. Aber glücklich war sie darüber nicht. Und es war ihr peinlich, sich vor den Zentauren mit diesem so menschenähnlichen Körper nackt zu zeigen. «How do you do, Sire?», fragte er ganz nach alter Sitte, das Sire mehr wie ,,Saier" ausgesprochen. «I'll do better every time I see you paying me», antwortete sie lahm. Ihr war nichts Besseres eingefallen als diese Erwiderung. Trotzdem brauste Gelächter auf. Die anderen umarmten sie. Dann zogen sie ihr ihre neue Handelsuniform an.

Was war sie prächtig! Der violette Schärpenpullover (Zanz genannt) war aus drei verschiedenen violetten Stoffen zusammengesetzt, an den Schnittstellen saßen silberne Bordüren. Der Gürtel war aus fast weißem Leder mit silbernen Nieten, und auch die Decke (Anzan genannt), die sich vom ersten Drittel des Pferdeleibes bis um den Hintern herum ging, war mit Gurten aus gleichem Leder und silbernen Einfassungen versehen. Auch war sie sehr dick und schwer. Es war ihr peinlich, so edle Sachen zu tragen. Als sie neben Tjun stand, da sah sie, dass Tjuns Sachen alle eine Idee weniger schön waren, und sie fühlte sich noch elender. Aber jetzt begann das Fest und alles war schnell vergessen. Sie feierten lange. Tjun und Flicker stützten sich gegenseitig auf dem Heimweg.

Das Erwachen war zu früh. Dabei war es um Mittag. Jemand klopfte leise aber ausdauernd an die Wand neben dem Türrahmen (wo nach alter Sitte nur ein Vorhang hing): «Sire Rhean(sie)!»

«Ich bin Flicker van Klemt(sie)!», murmelte sie reflexartig.

«Sire, ein Telegramm.»

Sofort war sie wach. «Komm rein!», stöhnte sie. Sie stemmte sich auf alle Viere.

Der andere Zentaur kam sehr vorsichtig näher und streckte ihr das Telegramm entgegen. Doch Flicker ergriff den ganzen Arm und zog den anderen zu sich heran. Kräftig genug war sie ja. «Ich heiße Flicker, und wenn es unbedingt formell sein muss, Flicker van Klemt(sie). Aber ich bin kein Sire! Kapiert?»

Der andere nickte. Flicker wusste natürlich, dass es eine hoffnungslose Handlung war. Dennoch versuchte sie es immer wieder. Als sie losließ, ließ der Bote das Telegramm fallen und galoppierte davon. Was konnte sie bloß dagegen tun?

Sie nahm das Telegramm auf und las: «Möchte dich nächsten Vollmond treffen. Salt-Lake-City. 14.» Das war in gut zwanzig Tagen, es war zu schaffen. Aber wer schrieb so etwas? Und was bedeutete die vierzehn? Und wieso Vollmond und nicht eine sinnvollere Datumsangabe? Immerhin war das ein Grund, Burns bald zu verlassen, endlich wieder sie selber zu sein.

Die anderen konnten ihr auch nicht weiter helfen. Das Schreiben blieb mysteriös. Tjun meinte, dass vielleicht jemand mit ihr handeln wollte. Es musste ein anderer Handelszentaur sein, denn Salt-Lake-City war immer noch Menschenterritorium. Aber es ergab immer noch keinen Sinn, denn keiner konnte schon von ihrem Abschluss erfahren haben. Die einzige Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen, war wohl selber nachzusehen.

Und sie hatte einen zweiten Grund zu gehen: Sie spürte, wie sie bald ihre Phase wechseln würde. Sobald bekannt war, dass Sire Rhean(sie) nun Rhean(er) war, würde jeder blaue Zentaur im Umkreis, der gerade weiblich war, ein Kind von ihr wollen. Bis dahin musste sie weit weg sein. Um zu zeigen, dass sie wirklich handeln ging, und um allen zu danken, zog sie sich die prächtige Uniform an. (Für unterwegs hatte sie noch eine selbstgemachte einfachere Ausführung dabei.) Außerdem war diese Uniform aus so schwerem Stoff, dass sie nicht mehr viel Handelsgut in den Satteltaschen verpacken konnte.

Als sie es Tjun sagte, wollte sie mitkommen. Doch Flicker lehnte ab, bat sie sogar, ihr nicht zu folgen. Sie brauchte Ruhe.

 
Flicker wechselte die Phase noch auf dem Weg zur Stadt heraus. Jetzt würde sie wieder Flicker(er) sein, hoffte er. Er täuschte sich; wo er auch hinkam wurde er erkannt, mit ,,Sire Rhean" begrüßt und festlich bewirtet. Langsam begann er Tariff zu verstehen. Sogar seine Bogenschusskünste waren stark übertrieben vorausgeeilt.

Die Zeit war ungünstig, um zu handeln. Das Saatgut war schon vorher geholt worden, aber es war noch nichts reif geworden. Immerhin konnte er so ohne Gepäck laufen und war fünf Tage zu früh am Salzsee. Sehr gemächlich näherte er sich der Grenze zum Menschenland. Er machte einen Abstecher in ein Seitental, doch einen Tag vor dem genannten Termin stand er in der prächtigen Handelsuniform an dem Zaun, der hier die Territorien abgrenzte. Von weitem konnte er einen riesigen Bau sehen, der hoch in den Himmel aufragte. Das musste die legendäre Kathedrale sein.

Flicker zeigte das Telegramm dem Grenzwächter, einem merkwürdig gekleideten Menschen. Während er auf den Grenzwächter wartete, der in einem anderen Haus verschwunden war, betrachtete er interessiert das Treiben. Er wusste, dass die Bewohner dieser Stadt Menschen waren, die aus religiösen Gründen ähnlich wie die Zentauren lebten. Sie bestellten Felder und benutzten keine Maschinen. Doch es war etwas anderes, wirklich zu sehen, wie diese Menschen in ihrer Tracht lebten, wie sie einen Pflug von einem vierbeinigen Pferd ziehen ließen. Genauso faszinierte ihn das vierbeinige Pferd. Eigentlich bedauerte er es, denn es sah so plump aus. Vielleicht war es kräftiger; er würde gerne einmal mit ihm ringen.

Endlich kam der Grenzwächter wieder. «Es ist selten, dass uns ein Zentaur besucht», sagte er sehr langsam und betont. Das Englisch hatte einen fremdartigen Akzent. «Sei unser Gast. Mein Heim soll das deine sein.»

«Bitte, nehmt dies als Gastgeschenk. Ich bin Flicker van Klemt(er).» Er gab dem Grenzwächter einen Käse.

«Bruder Johannes», antwortete der Grenzwächter. Er nahm den Käse ehrfurchtsvoll entgegen und stellte ihn in das Grenzhäuschen. Dann führte er Flicker zu einem sehr kleinen Häuschen. Er konnte rückwärts gerade noch hineingehen.

«Besten Dank, Bürger», sagte Flicker ohne böse Absicht.

Doch der Grenzwächter erbleichte. «Bitte, nennt keinen von uns Bürger. Das ist beleidigend. Deine Anwesenheit ist schließlich schon Probe genug. Wir sind hier alle Brüdern und Schwestern.»

«Es tut mir Leid, Bruder, äh» Doch der Grenzwächter schwieg. «Ich verstehe nicht richtig, kannst du mir ein wenig von diesem Ort erzählen?»

«Gerne. Also unsere Gemeinschaft wurde 1851 gegründet, also 332 Jahre vor dem Kometen. Kennst du etwas von der Geschichte der Christen?» Flicker nickte. «Gut, wir glauben an Christus und Moses. Unser Gründer hatte neue Texte von Moses gefunden und übersetzt, die im Jahr des Kometen den Weltuntergang prophezeiten. Doch ging in Wirklichkeit nur die Welt unter, die Moses damals gekannt hatte. Es war eine schwere Prüfung für uns, doch nicht die letzte. Denn dann wurdet ihr Zentauren in das Land gebracht, Zeichen größter Sünde des Menschen wider die Natur.»

Flicker war empört aufgesprungen.

«Es ist nicht persönlich gemeint», beschwichtigte Bruder Johannes. «Aber in der Bibel steht nichts davon, dass der Mensch Gott spielen darf. Und letztlich werden die Menschen dafür auch bestraft werden. Gott ist geduldig.» Bruder Johannes schloss kurz die Augen und machte dann eine lange Pause.

«Verzeihung, Bruder. Aber dieses große Gebäude dort drüben?»

«Das ist unsere Kathedrale. Gebaut von 2417 bis 2591. Sie ist das größte Bauwerk im Westen, allein Gott zu Ehren. Dort finden unsere Gottesdienste und Gebete statt, viermal täglich versucht ein jeder von uns zu beten. Morgens und Abends treffen wir uns alle zusammen in der Kathedrale und halten eine Messe. Wir danken Gott für den Tag.» Nach einer kurzen Pause fragte er dann: «Ich muss nach den Kühen dort hinten sehen, sie sind zu nahe am Zaun. Sind dies erst einmal genug Informationen, Zentaur?»

Flicker überhörte das unpersönliche Zentaur, bedankte sich artig, legte seine Sachen in die Hütte und döste dann im Schatten der Hütte vor sich hin. Von Zeit zu Zeit kam ein Kind oder auch ein Erwachsener, die nichts zu tun hatten und starrten ihn aus angemessener Entfernung an. Zuckte Flicker auch nur mit dem Schweif, dann sahen wieder sie weg und machten etwas anderes.

 
«Sire Rhean, Flicker van Klemt(sie)?», fragte eine Stimme.

Er schreckte auf. Es war schon fast dunkel geworden. Doch es war hell genug, um zu sehen, dass kein Zentaur vor ihm stand, sondern ein Mensch. Es war kein Bruder, jedenfalls sah er ganz anders aus. «Ich bin Flicker van Klemt(er)», sagte Flicker.

«Verzeihung, Sire, ich möchte ihnen zuerst mein aufrichtiges Bedauern darüber ausdrücken, dass Sie solange warten mussten. Können Sie die Tatsache bestätigen, dass Ihr Vater Jacko van Klemt ist?»

«Wer will das wissen. Und wozu?» Flicker war jetzt richtig wach.

Der Mensch sah ihm in die Augen. «Bitte, Sire, ich werde mich gleich erklären. Die Tatsache Ihrer Herkunft ist mir bekannt; gleichwohl brauche ich eine Bestätigung von Ihnen. Sind Sie, Sire Rhean Flicker van Klemt(er), Jacko van Klemts Kind?»

«Nein, ich bin Flicker van Klemt(er), kein Sire. Ja, ich bin Jacko van Klemts Kind. Genügt das?», fragte er beißend.

Der Mensch nickte. «Das ist vollständig befriedigend. Mein, weiterhin völlig unwichtiger, Name ist Athur Turner.» Dann fügte er plötzlich mit gehobener Stimme hinzu: «Ich weise Sie, Flicker van Klemt, darauf hin, dass Sie als Sohn des Bürgers Jacko van Klemt die vollen Bürgerrechte, ausgenommen des aktiven Wahlrechtes, beantragen können.»

Flicker schwieg.

«Ist eine Wiederholung nötig?», erkundigte sich Athur Turner.

«Ich verstehe nicht.» Flicker schüttelte den Kopf. «Du meinst, menschliche Bürgerrechte?»

«Es sind Bürgerrechte, wie sie allen Bürgern zustehen.»

«Aber ich bin kein Mensch!» Flicker schwankte dabei zwischen Entrüstung und Verwunderung.

«Ich bin Teil der Regierung aller Bürger Nordamerikas, deshalb kann ich mir eine bescheidene Kenntnis über das bestehende Recht anmaßen. Das Gesetz über Bürgerrechte von 1.1.3371 wurde geändert. Somit stehen Ihnen Bürgerrechte zu, so Sie a) eigene Intelligenz besitzen und b) der Nachweis der Vaterschaft oder Mutterschaft eines Bürgers erbracht wird. Beides ist in Ihrem Fall erfüllt. Es besteht jedoch kein Zwang, sofort zu entscheiden. Diese Rechte können nicht verfallen, Sie können sie jederzeit in Anspruch nehmen.»

«Ich kann nicht -- so ganz genau kann ich es nicht sagen. Aber ich bin mir nicht sicher.» Flicker schwieg, beide schwiegen länger. «Weiß du, ich hatte gedacht, jemand möchte mit mir Handel treiben. Deshalb bin ich so weit galoppiert.»

«Als Bürger haben Sie Zugang zu allen Waren -- gleich jedem Bürger, Mensch, KI oder Zentaur.» Als Flicker schwieg, sagte Athur leise: «Doch ich sehe die moralischen Implikationen.»

«Du redest ein seltsames Englisch. Ich meine, irgendwie klingt es falsch. Und ich verstehe immer noch nicht: Ich bekäme volle Rechte, wie jeder anderer Bürger auch? Aber ich bin doch kein Mensch, ich bin vielleicht menschenähnlicher, aber ich bin immer noch Zentaur.»

«Welches ist die wahre Form einer KI? Nur mangelnde Praxis, neben der sehr beschränkten Verfügbarkeit von Körpern, verhindert, dass ich Ihnen als Zentaur gegenübertrete. Meinerseiten bestehen keine Bedenken, wenn Sie annähmen; falls Sie Angst haben, trotz guter Vorsätze korrumpiert zu werden, dann wären Sie in meinen Augen ein noch würdigerer Empfänger.»

Flicker schluckte. Bis heute dachte er, er könne besser Englisch als manche Menschen. Doch hier waren so viele Wörter, die er nicht kannte, dass er gerade noch den Sinn erahnte. «Bitte», sagte er, «versuch einfacher zu reden. Wolltest du sagen, ich muss die Bürgerrechte ja nicht benutzen, habe sie dann aber, wenn ich sie brauche?» Als Athur nickte, fuhr er fort. «Also gut, du hast mich überredet. Ich nehme sie an, doch ich fürchte, sie sind äh.»

«Zu groß? Ja, dann sind Sie genau der Richtige.»

Wieder entstand eine lange Pause. Schließlich sprach Flicker als erster: «Eins hätte ich vorher noch gerne gewusst: Was hatte die 14 auf dem Telegramm zu sagen? Das war es, was mich letztlich hergelockt hat.»

«Nun ganz einfach: Ich bin KI Nummer 14.» Tatsächlich lächelte KI 14 alias Athur Turner. «Flicker van Klemt(er), sind Sie nun bereit?», fragte die KI.


Nachtzentaur

Flicker galoppierte gerade ein kurzes Stückchen. Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien, es ging nur ein leichter Wind. Schäfchenwolken verstreuten sich über den weiten Himmel, und es war noch nicht heiß. Er war der Magnetbahn nach Westen bis zu einem Ort namens Winnemucca gefolgt. Dort hatte er das Bürgerland verlassen; nicht das in dieser unwirtlichen, bergigen und wüsten Gegend viele Menschen lebten. Immer wieder ging es nach Westen langsam bergan. Schließlich ging durch einige Felsbrocken und niedrige Hügel ein enger Pfad. Dann stand man wieder auf einer hunderte Meter hohen Abbruchkante und konnte die Aussicht auf das Wüstental für den nächsten Tag bewundern. Dann wand sich der Pfad halsbrecherisch an der steilen bröckligen Wand in das Tal herunter, wo sich dann zehn bis dreißig Kilometer weiter im Westen hinter niedrigen Hügeln die nächste Abbruchkante mit dem nächsten Wüstental versteckte. Die letzte Wohnstätte war Winnemucca slbst gewesen: In dieser öden Gegend lebte niemand mehr.

Die Wüste der schwarzen Felsen hatte er vorgestern passiert, der Boden war dort mit schwarzen blasigen Lavabrocken übersäht. Der Weg hatte seine ganze Aufmerksamkeit gefordert. Mehrere Schwürfwunden erinnerten ihn daran. Und danach wurde die Landschaft nicht freundlicher: hier gab kein Wasser, oder es war versalzen. Nur wenig südlich vor seinem jetzigen Standort standen die uralten Anlagen des zweiten großen Mikrowellenempfängers (SLA: second large array), aber der Navigationscomputer meinte, er wäre noch weit genug davon entfernt.

Am meisten sehnte er sich nach Gesellschaft; vor sechs Tagen hatte er zum letzten Mal mit jemanden gesprochen. Die ersten zwei Tage war das Alleinsein angenehm gewesen; aber dann kam schnell die Einsamkeit. Und die Hitze: Es war ausgesprochen schwachsinnig im Hochsommer durch das wüste Bergland zu ziehen. Die Wasserstellen waren sehr selten hier, sein Sonnenbrand wurde nicht besser und die Augen tränten von der Helligkeit, denn das Salz im Boden reflektierte die Sonne und entzog ihm auch noch weiter Wasser. Erstaunlich, dass die Pioniere in der Antike damals hier überhaupt durchgezogen waren.

 
Wenn er durch diese Wüste lief und es wurde Abend, dann dachte er an den Gottesdienst in der riesigen Kathedrale von Salt Lake City zurück. Die Abendsonne hatte seltsame Muster in die Krusten am Ufer des Sees gemalt und gleichzeitig die Konturen der Kathedrale umso deutlicher hervorgehoben. Da hatte Athur ihn gefragt, ob er hineingehen wollte.

Athur hatte länger mit einem Bruder geredet, doch schließlich kam Athur mit zwei schwarzen Kutten und einigen Lumpen zurück. Die Kutten streiften sich Athur und Flicker über. Dann band Athur die Lumpen um Flickers Hufe. Endlich konnten sie eintreten.

Flicker war überwältigt. Es war ein riesiger Bau, und es war angenehm kühl, fast als wäre man in einer überdachten Schlucht. Doch es war heller, denn durch riesige Buntglasscheiben drang das Abendlicht.

Immer wieder musste ihn Athur weiter ziehen, bis sie dann -- etwas abseits -- in einer Ecke für Gäste waren. Jetzt erst kamen die Bewohner Salt Lake City und schließlich die Mönche. Jeder schien seinen Platz genau zu kennen.

Dann begann der Gottesdienst. Flicker wäre vor Schreck beinahe losgaloppiert, als die donnernde Orgel begann. Athur konnte ihn gerade noch zurückhalten. Dann begann der Gesang. Es war wunderschön. Fast zwei Stunden dauerten Gesang und Gebete.

In der Zwischenzeit war die Sonne untergegangen, und war zuerst das Äußere mit der Sonne dominierend, so war die Kathedrale jetzt nur spärlich von Lampen erhellt, auf das Innere konzentriert eben. Jetzt sah Flicker die Deckengemälde.

Sie bleiben noch eine ganze Zeit sitzen, nicht weil man das von ihnen erwartet hatte, vielmehr um die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.

Athur hatte von irgendwoher noch drei einfache Bilder vom Bau aufgetrieben, die er nun für ihn projizierte. Es war unglaublich, so viele Menschen und Zentauren arbeiteten Hand in Hand. Sie wirkten jedoch winzig im Vergleich zu dem unfertigem Bau. Auf dem dritten Bild waren nur noch Menschen zu sehen, die sich vor dem fertigen Portal aufgereiht hatten. «Der Krieg war zwei Jahre zuvor ausgebrochen», sagte Athur.

 
Häufiger noch tagträumte er vom All. Oft fiel ihm dann ein Gespräch mit Jacko ein: Es war schon mehr als drei Jahre her, doch er konnte sich noch an jede Einzelheit erinnern. Er saß damals mit Tira und Jacko am Lagerfeuer und sie blickten auf das Meer und auf die Sterne. Jacko hatte von Weltall erzählt.

Er hatte Jacko gefragt: «Träumst du manchmal nachts vom Weltall?»

Jacko hatte ihn überrascht angesehen. Er hatte den Kopf geschüttelt. «Nein, das All ist einfach nur leer. Davon träumen? Nein, ich bekomme höchstens Alpträume davon. Nein, ich habe im All immer von der Erde geträumt, von Vögeln, von einer Wiese mit ihren Blumen. Du glaubst nicht, wie detailliert man sich ausmalt, was alles eine Wiese ausmacht. So viele Details auf die man verzichten muss.» Er schüttelte sich. «Ich habe seit der Landung nie von dem Flug geträumt. Nur gute solide Erdenträume.»

Flicker war enttäuscht gewesen. «Kein bisschen? Ist es denn nicht schön, frei zu sein. Richtig frei, meine ich?»

«Im All frei?» Jacko hatte gelacht, ein gemeines, fast sarkastisches Lachen. «Nirgends ist man so abhängig wie im All! Eine Pumpe klingt anders? Eine Anzeige geht falsch? Eine Korrekturdüse hat ein kaputtes Filament? Reicht der Treibstoff? Im All bist du ausgeliefert, der Maschinerie, der Physik. Entscheidungen haben jahrhundertelange Folgen. Treffe ich auf einen Mikrometeoriten, der das Ganze beendet? Die Natur ist selbst im Kleinen so mächtig.»

Jacko hatte eine lange Pause gemacht in der nur das Feuer knackte. «Jemand hat mal gesagt, dass das Gehirn nicht für Geschwindigkeiten größer als 40 Stundenkilometer zu gebrauchen ist. Und er hat Recht gehabt; mehr noch, es ist auch nicht für die gigantischen Abmessungen des Alls zu gebrauchen. Kannst du dir ein Lichtjahr vorstellen, 9,81 Billionen Kilometer? Das ist einfach unvorstellbar groß, dieser ganze Schmus, wenn die Sonne ein Apfelsine ist, dann ist der nächsten Stern bei Moskau, oder so ähnlich, das geht daran vorbei: Wir können uns noch nicht einmal die Entfernung zum Mond richtig vorstellen, geschweige die bis zu unserer Sonne und das sind nur acht Lichtminuten. Alles im All ist unvorstellbar groß, unvorstellbar weit weg. Und du bist unvorstellbar klein. Im All frei sein: Nie!»

«Mir fällt dazu noch etwas ein», fuhr er fort. «Sagt die eine Darmamöbe zur anderen: Träumst die nicht manchmal vom blauen Himmel? Und den vielen anderen Lebewesen?»

Tira hatte den Kopf geschüttelt: «Spar dir deinen Sarkasmus! Du verstehst einen Zentauren nicht wirklich, genauso wie wir dich nicht verstehen können. Lass jedem die seinen Ideale.»

«Es tut mir Leid.» Wieder war eine lange Pause gewesen. Die Sterne standen klar über dem glimmenden Feuerresten, von Ferne rauschte das Meer. «Träumt ihr denn vom All? Und warum denn?»

Doch bevor Flicker etwas sagen konnte, hatte Tira geantwortet. Es hatte ihn überrascht, dass Tira es so freimütig zugab: «Ja. Oder Flicker, kennst du einen Zentaur, der es nicht tut?»

Er nickte bekräftigend.

Jacko hatte müde sie angesehen. «Ja, gut, ich habe das ja schon oft erlebt, wenn ich Geschichten erzählt habe. Auch wenn ich das mehr auf die Zentaurenherkunft geschiben habe. Aber warum, ich meine hier ist fast ein Paradies. Und gerade ein Zentaur in einem engen Raumschiff, das müsst ihr mir erklären.»

Wieder hatte Tira schneller geantwortet: «Stell dir mal einen Zentaur in der Schwerelosigkeit vor: Du kannst ohne irgendwelche Verrenkungen überall hingreifen, selbst der engste Wartungsschacht verliert seinen Schrecken. Die Technik ist unser; und wir können die Zenaurengeschichte wahr machen, irgendwo jedenfalls.»

«Was ist ein Wartungsschacht gegen die Rocky Montains!», hatte Jacko resignierend gesagt.

Doch Flicker war seitdem erst recht neugierig. Er hatte genug von Jacko gehört, und auch von den Bildern von der Expedition gesehen, um sich ein realistisches Bild vom All zu machen. Er fragte sich oft, wie es ihm wohl als Zentaur im All ergehen würde: Ob es stimmt, was Tira sich vorgestellt hatte, ob er wohl die Fähigkeit zum Laufen verlieren würde? Aber Jacko konnte doch auch nach der Rückkehr sofort wieder laufen. Gut, aber sie hatten ja auch immer nur kurz Schwerelosigkeit, schließlich wurde ja Jacko davon sogar schlecht. Dann ärgerte er sich, dass er die KI Turner nicht gefragt hatte, da er Bürger wäre, wann er dann in das All dürfte. Doch er hatte es sich nicht getraut, hatte die Antwort gefürchtet.

Mit solchen Gedanken vertrieb er sich oft die Zeit beim leichten Trab. Besonders intensiv wurde es in der Wüste. Einige Wunden an den Vorderbeinen zeugten von spitzen Steinen, gegen die er versunken getreten war. Einmal war er so tief in Gedanken gewesen, dass er in einen größeren Brocken heineingelaufen war. Einmal war ein eine kleine Böschung heruntergestürzt und noch während des Sturzes dachte er, er würde jetzt wirklich schweben. Er hatte sich nichts getan, es waren nur drei Meter und er landete im einergemaßen weichen Sand ohne größere Felsbrocken oder Stachelpflanzen, doch es war ihm eine deutliche Warnung.

Das war das dritte Ärgernis: Fast jede Pflanze, die noch in dieser Ödnis wuchs hatte Stacheln oder Kletten oder beides. Abends mühte er sich in der letzten halben Stunde vor Sonnenuntergang immer mit ihnen ab, versuchte sie aus dem Fell zu puhlen. Leider kam er nicht so richtig an alle Stellen, und auch auf dem Boden zu lagern war nicht möglich; zuviele Dorne konnten durch die Ponchounterlage stechen, ganz abgesehen von spitzen Steinen, die meist den Untergrund bildeten. Und so schlief er oft an irgendwelche Felsen gelehnt. Einmal hatte er Glück, da gab es Sand. Und auch in einer Salzpfanne hatte er gelagert, und sich so richtig von dem Klettern befreien können. Eigentlich waren die Salzseen zum Laufen nicht so schlecht.

 
Heute lag endlich die Wüste hinter ihm. Nun ging es durch karges Gebirge, aber mit jedem Höhenmeter nahm die Hitze ab. Heute Morgen war er an einem kleinen Bächlein vorbeigekommen, hatte sich satt getrunken und die Flaschen aufgefüllt. Je höher er kam, umso fruchtbarer wurde auch das Land.

Er erreicht nun die ersten Berge, die noch Wolken und Feuchtigkeit von der Küste melken konnten; langsam verwandelte sich die Buschsteppe in einen Wald. Hinter dem nächsten Pass sollte ein Tal liegen, wo der Fluss Pit floss und der Ort Alturas war. Dann war er schon fast wieder in zivilisierten Gegenden; oder zumindest eindeutig auf Zentaurenland.

Gegen Abend war er im Tal und tatsächlich an einem Fluss. Er sah auf den Navigationscomputer: Es war der Fluss Pit. Erst seit er auf Reisen war, lernte er den Wert dieses kleinen Computers richtig schätzen; einmal abgesehen davon, dass fast kein anderer Zentaur einen Computer besaß. Und wenn er daran zurück dachte, wie normal es ihm einmal erschienen war, mit einem Computer zu reden! Er sah wieder den kleinen Kartenausschnitt an. Er würde dem Pit stromabwärts folgen, um dann die große Nord-Süd-Verbindung zu erreichen. Alturas lag zehn Kilometer südlich; der Weg würde daran vorbei führen.

Am nächsten Morgen waren auch die letzten Wolken verschwunden, und es war richtig warm geworden. Nur das Flusswasser war eisig kalt, aber er musste ihn durchwaten, denn auf seiner Seite konnte er nicht mehr weiter. Vorsichtig setzte er Huf vor Huf. An einer Stelle war er zu tief, Flicker musste schwimmen.

Normalerweise schwammen Zentauren nicht; auch wurde das Meer bei der Hütte nie wärmer als 290 Doch Jacko hatte es nie abschrecken können, und wenn Jacko schwamm, dann musste es Flicker auch versuchen. So hatte er sich seinen eigenen Stil beigebracht, mit den Armen machte er Züge wie Jacko, mit den Beinen trat er Wasser. Dazu musste er sich weit vorbeugen, um die ungleichen Auftriebsverhältnisse zwischen Ober- und Unterkörper auszugleichen. Aber er kaum gut voran, er hatte sogar Spaß dabei. Und so planschte er auch jetzt etwas im Wasser herum, bis es ihm zu kalt wurde.

Am anderen Ufer verschnaufte er und ließ sich von der Sonne trocknen. Dann kontrollierte er die Farbe des Fells. Das Rotbraun, mit dem er sich gefärbt hatte, hielt wirklich als wäre es seine natürliche Farbe. Es war Athur Turners Idee gewesen, sich das Fell zu färben, wenn er denn nicht mehr als Sire verwechselt werden wollte. Die große Bewährungsprobe stand noch aus, am Mittag wäre er in Alturas; dann würde er es wissen.

Das Bad im Fluss hatte noch weitere gute Seiten: es hatte seinen schon penetrant gewordenen Schweißgeruch abgewaschen. Er fühlte sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Er bäumte sich wild auf, machte ein paar unruhige Sätze, lud sich schließlich die Sachen wieder auf und folgte dem auf dieser Flussseite schwach sichtbaren Pfad.

Stückweise galoppierte er auf dem Uferweg entlang. Hier unten im Tal wurde es richtig warm, am Mittag nahm er freiwillig ein weiteres Bad zur Abkühlung. Er planschte und lachte wild. Einmal glaubte er im Schatten der Bäume einen Zentaur gesehen zu haben. Er hielt inne, doch wenn dort je jemand war, dann war er jetzt verschwunden, wohin auch immer.

Hinter der nächsten Biegung lag Alturas: Fünf Häuser und ein paar Felder, kleiner noch als Zikaku. Noch einmal machte er einen kurzen Galopp, sah die dösenden Bewohner sich aufrappeln oder gähnend aus den Häusern treten.

Es war ein besonderes Hallo. Natürlich war es Grund für ein Fest, schließlich war er der erste Reisende seit einer Woche und der erste Handelszentaur seit drei Monaten. (Was gleichzeitig bedeutete, dass seine Tarnung funktionierte.) Zum ersten Mal seit vielen Tagen konnte er sich so richtig satt essen. Und natürlich bedankte er sich mit einer Geschichte, erzählte von Salt Lake City und zeigte Bilder von der Kathedrale. Das Erzählen schien er von Jacko geerbt zu haben; so saßen sie noch nach Mitternacht um ihn herum, bis er kaum mehr ein Wort herausbrauchte und die Zuhörer immer wieder zu schnarchen begannen.

Am Morgen zog er nach einem fürstlichen Frühstück weiter, er wollte die Tarnung nicht überstrapazieren. Die Zentauren hätten ihn gerne noch länger als Gast, und redeten auf ihn ein, liefen noch lange neben ihm her. Er murmelte dann immer, dass der Sommer die beste Zeit für Handel wäre (und das war ja nicht einmal falsch); die Enttäuschung war dennoch groß.

Am späten Nachmittag waren dann die letzten Zwei umgekehrt, nicht ohne Flicker noch etwas Proviant aufzuladen. Er würde nun wieder tagelang schlemmen können.

Diesmal übernachtete er unter freien Himmel -- die Sterne nur noch durch ein Mückennetz gefiltert. Nicht, dass dieses die Plagegeister lange aufhielt. Er konnte gerade noch ruhig einschlafen. Um Mitternacht hatten sie dann sicher eine Lücke gefunden und so wachte er immer wieder zerstochen auf. In der Wüste hatte es wenigstens keine Mücken gegeben. Aber nach einem Bad waren diese Biester fast vergessen; und tagsüber war es zu warm für sie.

Leider verließ jetzt der Weg jetzt den Fluss und zweigte nach Nordwesten ab. Flicker nahm ein letztes Bad und machte sich an den Anstieg aus dem Flusstal heraus. Der Weg klebte jetzt an einer Bergflanke, nach unten ging es mehr als hundert Meter steil in die Tiefe. Flicker sah lieber nach vorne. Es war ein langsam enger werdendes Tal, das vor ihm lag. Doch der Sattel war nicht allzu weit und auch nicht viel höher. Dennoch war es später Nachmittag, als es endlich wieder bergab ging.

Kurz hinter dem Sattel verbreiterte sich der Weg. Er schlängelte sich ziemlich unmotiviert durch das Tal, bis er schließlich auf einen Bach traf, dem er folgte. Nicht weit davon stand eine Schutzhütte, Teil eines verfallenen Hofes. Allerdings sah sie schon sehr wacklig aus. Immerhin hatte sie ein ganz gutes Plastikdach, und einige Stellen waren frisch ausgebessert worden, auch lag Holz, etwas Käse, Mehl, Salz und ein paar Gewürze auf dem Küchenbord. Es gab eine Petroleumlampe, wenig Öl und einen Schrank mit alten Fellen. Von innen sah die Hütte wesentlich stabiler aus. Er beschloss, heute zu hier bleiben.

Da noch die Sonne schien, würde er etwas an der Hütte tun. Er würde den zweiten Querbalken in der Mitte abstützen. Das Beil war rostig und schartig, doch er genoß es, wieder richtig mit den Armen zu arbeiten. Bald schon hallten seine Hiebe durch den Wald. Leider war der erste Balken zehn Zentimeter zu kurz. Der zweite dauerte schon länger. Am Ende spürte er jeden Hieb; weniger in den Armen, das würde wohl erst morgen kommen, vielmehr taten ihm die Wirbel über dem Mähnenansatz von der ungewohnten, gebückten Haltung weh.

Ob er etwas auf Jagd gehen sollte? Er war zwar ein guter Schütze, und es sah hier nach einen passablen Jagdgebiet aus; doch wenn es hier irgendwelches Wild gegeben hatte, dann hatte er es sicher mit den Beilhieben verscheucht. Außerdem hatte er wirklich noch genug Proviant. Die Aussicht auf das sanft abfallende Tal und die hohen Berge im letzten Sonnenlicht, dazu das leckere Essen: Er ließ es sich hier gut gehen.

 
Es war ein wunderschöner Morgen; er döste bis zum Mittag. Stöhnend schnallte er sich wieder seine Sachen auf. In den Schultern und Oberarmen, sowie im Bereich der Vorderhüfte hatte er einen grausamen Muskelkater. Jede Drehung der Oberkörpers, jede Armbewegung tat weh. Sehr gemächlich schritt er los. Da hörte er Hufgetrappel aus dem Tal. Doch es kam und ging, und dann war Ruhe. Plötzlich hörte er es ganz nah, und dann stand auch schon ein pechschwarzer Zentaur auf der kleinen Lichtung. Gehetzt sah sich der andere Zentaur fast nur hinter sich. Dieser war jung, jünger noch als Flicker, noch ein Fohlen. Aber vor allem war es schwarz, pechschwarz von den Hufen bis zum Kopf.

Jetzt erst hatte das Fohlen ihn gesehen, erstarrte erschreckt, wie Wild, dem man zu nahe kam und hoffte, man würde es übersehen. Das pechschwarze Fohlen stand nackig da, ohne Taschen, ohne ein Messer, einfach ohne alles, die Rippen zeichneten sich unter der Haut und dem Fell ab, und es zitterte. Die Hinterläufe hatten lauter verkrustete Wunden, mindestens eine stank sogar. Das Fell war räudig, mehrere Narben waren auf dem Rücken. Die Mähne war zerzaust und um den Kopf war ein alter dreckiger Verband gewickelt. Nur das absolute Schwarz des Fells vertuschte, wie dreckig das Fohlen war. Es stank fürchterlich, nach Dreck, Schweiß und sogar Eiter.

Vorsichtig näherte er sich. «Ich bin Flicker(er). Komm, dort drüben ist ein Bach, da kannst du dich waschen und ich werde die Wunden verbinden.»

Die Worte rissen das Fohlen aus seiner Starre. Doch anderes als Flicker erwartet hatte, antwortete es nicht, sondern versuchte sich umzudrehen, knickte dabei ein und stieß fast gegen einen Baum.

Flicker rief: «Halt, bleib stehen!»

Das wirkte. Es blieb stehen. «Du musst essen!», sagte Flicker. Das Fohlen nickte. Flicker gab ihm seine Trinkflasche und es trank gierig. Während dessen holte er ein Stück Kuchen. Es verschlang es sofort. Jetzt sah es zum ersten Mal Flicker an. «Ich heiße Frunje», sagte es, bevor es einfach zusammenklappte.

Flicker trug Frunje zum Bach, überrascht wie leicht es war, wirklich nur noch Haut und Knochen. Das kalte Wasser belebte es kurz. So gut es ging half es bei der Wäsche mit. Flicker trocknete es ab und legte es auf die alten Felle aus der Hütte. Dann sah sich Flicker die Wunden genauer an: Ein langer Schnitt am Hinterlauf eiterte heftig. Zum Glück für Frunje hatte er Desinfektionsmittel und Antibiotika als Handelsware dabei. Er musste sie aufschneiden und auswaschen. Frunje schrie öfters auf, war jedoch zu erschöpft, um sich zu wehren. Zweimal übergab sich Flicker dabei.

Doch jenseits aller Wunden -- Frunje war der seltsamste Zentaur, den er je gesehen hatte. Nach der Wäsche war das Schwarz seines Felles und auch seiner Haut eher intensiver geworden. Die Hände, die Hufe und auch die Fingernägel waren dunkles Mattschwarz, Sogar die Augen und, hätte er es nicht gesehen, er hätte es nicht geglaubt, die Zunge und die Zähne waren schwarz. Fast überflüssig zu sagen, dass Frunje natürlich schwarzes Blut hatte. Es war, als lag da nur der Schatten eines Zentaur vor ihm.

Endlich war alles getan, was er mit seinen wenigen Kenntnissen tun konnte, doch wenn Frunje Pech hatte, dann würde es bis an das Lebensende lahmen. Einige Narben würden mit Sicherheit bleiben. Er trug Frunje in die Hütte und bettete das Fohlen auf Fellen.

Flickers Übelkeit war überwunden, jetzt er war aufgekratzt und galoppierte mehr als eine Stunde wild durch den dunklen Wald, bis er keuchte und langsam den Schmerz von den Ästen spürte, die ihm ins Gesicht geschlagen waren. Völlig ausgepumpt lief er langsam durch den Wald zurück. Die Kronen waren dicht, es war dunkle Nacht: Wie hatte er nur so dumm sein können, so wild loszugaloppieren?

Das Feuer war kalt, die aufgesetzte Suppe dick aber kaum mehr lauwarm. Er sah nach Frunje, doch es schlief zu fest, er wollte es nicht wecken. Also ließ er viel übrig und legte sich dann daneben.

Flicker wachte abrupt und schweißgebadet auf. Selten hatte er so wirr geträumt. Frunje schlief immer noch fest. Von draußen schien die Sonne durch die Tür herein. Leise schlich Flicker hinaus und wusch sich. Seine rechte Hand hatte immer noch schwarze Flecken von Frunjes Blut, so sehr er auch schrubbte, sie blieben hartnäckig, als hätte das Schwarz abgefärbt. Dann machte er Frühstück.

Es war schwül geworden, schon jetzt am Morgen lief ihm der Schweiß bei jeder Bewegung die Flanken herunter. Heute gab es bestimmt noch ein Gewitter. Die Tiere waren träge von dem Wetter, und etwas Fleisch konnte Frunje gut tun, also beschloss Flicker zu jagen. Noch vorm Mittag hatte er zwei Kaninchen und ein Eichhörnchen gefangen. Die ersten Wolken waren aufgekommen, doch noch immer regte sich kein Lufthauch.

Als er zurückkam, stand ein anderer Zentaur vor der Hütte. «Heda, wer bist du?», rief Flicker, während er zur Hütte zurück galoppierte.

Der andere Zentaur drehte sich langsam um. <Oh>, dachte Flicker und wurde gleich langsamer, <ein Tramp>. Dieser hier sah schon ziemlich alt aus und machte einen Wildnis erfahrenen Eindruck. Jede Bewegung des Tramps schien langsam aber methodisch zu erfolgen. Der Tramp drehte sich um: «Ich bin Tsigan(sie). Wer bist du?»

«Ich bin Flicker(er).»

«Es ist seltsam, einen fast blauen Handelszentaur zu sehen.»

Flicker sah zu Boden. Er scharrte unruhig mit den Hufen. «Nun, äh, ich bin ein Gehilfe von Tira(er).» Den ersten Moment war er leicht empört. Doch es war gut zu wissen, dass die Tarnung mit dem braun gefärbten Fell auch hier vor dem Tramp funktionierte.

«Du hast dich gut um das Fohlen gekümmert. Antibiotika war richtig, mehr als ich hätte tun können. Es schläft und es hat kein Fieber, das sind gute Zeichen.» Flicker schwieg immer noch. Tsigan nahm ihm die Eichhörnchen und die zwei Kaninchen ab und begann, sie auszunehmen. «Komm, hilf mir. Ich werde dafür etwas Käse und zwei Wurzeln beisteuern.»

Wortlos kniete sich Flicker daneben und begann mechanisch mit der Arbeit. «Wer ist das Kleine?», fragte Tsigan nach einer Weile.

Jetzt endlich sah Flicker wieder auf, fast als würde er erst in diesem Moment sie voll wahrnehmen. Dann zuckte er mit den Schultern. «Ich weiß nur, dass gestern Abend hier ein völlig erschöpftes Fohlen mit verdreckten und eiternden Wunden ankam. Es heißt Frunje, und es riecht nach gewöhnlichem Schweiß, wie ein Blauer halt. Das ist alles.»

«Frunje. Ein seltsamer Name für diese Gegend. Und diese Wunden; es muss gefesselt gewesen sein, vielleicht hat es sogar um sein Leben kämpfen müssen. Mindestens zwei Wunden sehen nach Messerschnitten aus. Und es wurde bestimmt mit Hunden gejagt, der Hinterlauf mit der eiternden Wunde, das sind Bissspuren eines Hundes.»

Flicker war schockiert und schüttelte sich. «Wer tut denn so was schreckliches? Ich habe noch nie so was gehört.»

Tsigan winkte müde mit der Hand. «Es gibt Dinge, die kann man sich kaum vorstellen. Aber ich habe es einmal selber erlebt; es gibt tatsächlich Zentauren, die andere Zentauren als Sklaven halten.»

Flicker hörte nur mit einem Ohr zu. Seine Gedanken waren bei Frunje. «Aber es sieht so anders, ich meine so besonders aus.»

«Ja, ich habe auch noch nie einen Nachtzentauren gesehen.»

Jetzt bereute Flicker einmal mehr, dass er nur so wenig von der Zentaurengeschichte kannte. «Bitte, ich habe noch nie von Nachtzentauren gehört.»

Tsigan lächelte. «Nun, da du mich eh zum Abendbrot eingeladen hast ... » Sie lächelte kurz, «schenke ich dir diese Geschichte gern. Wo kommen denn deiner Meinung nach die Zentauren her?»

«Produkte aus einer Versuchsreihe zur Entwicklung vierarmiger Menschen», antwortete Flicker wie aus der Pistole geschossen. Dann erst fiel ihm ein, dass er wahrscheinlich gerade eine schöne Geschichte verdorben hatte.

Tsigan seufzte. «Also gut, zuerst die Wahrheit. Du weißt vielleicht, dass von den ursprünglichen Zentauren zwei weiß waren. Die anderen hatten alle anderen möglichen Schattierungen, außer Blau eben. Es gab in der Forschungsstation noch andere Dinge; es gab zum Beispiel ein Serum, das man sich spritzen konnte, und man lief schwarz an, vollständig schwarz. Etwa einen Monat reicht eine Spritze. Dieses Serum wurde aus einer neuen Drüse einer speziell gezüchteten Schweineart gewonnen. Genau das hatte man bei einem der Zentauren auch in das Erbgut eingeschleust und von Zeit zu Zeit wird es wieder aktiv. Meistens nur schwach und es wird ein gewöhnlicher blauer Zentaur geboren; aber selten, sehr selten wird die Drüse richtig aktiv und es wird ein Nachtzentaur. Das ist schrecklich für das arme Opfer. Nicht nur, anders zu sein als die anderen; nicht nur ewig high zu sein, denn das bewirkte das Serum auch. Das schlimmste ist, dass das arme Opfer spätestens mit zwanzig stirbt.»

«Frunje wird mit zwanzig sterben?» Flicker war entsetzt.

Tsigan machte ein betrübtes Gesicht. «Ja. Aber für die meisten Nachtzentauren ist es ein Glück. Die Drüse sitzt hier, im Vorderbecken, neben dem Herzen, so kenn ich es jedenfalls. Und richtig aktiv wird sie erst mit zehn. Dann kann man den armen Nachtzentaur melken: Mit einer langen feinen Nadel sticht man in die Drüse und sammelt das Serum.»

Flicker schüttelte sich vor Abscheu. «Aber wozu das Ganze?»

«Gemach, gemach. Erst einmal hilft es etwas. Aber der Hauptgrund ist, dass das Serum auch bei anderen Zentauren wirkt. Es färbt deren Fell schwarz, allerdings fast nur das Fell. Das ist besonders für reiche blaue Zentauren interessant. Aber vor allem ist das Serum eine starke Droge. Davon abhängige Zentauren würden sogar töten, um sie zu bekommen. Nur damit du weißt, was da in der Hütte liegt.»

Flicker konnte gar nichts sagen. Immer wieder ging ihm der ganze Wahnsinn durch den Kopf. Schließlich sagte er: «Und was ist, wenn ich nicht die Wahrheit hören wollte?»

«Nun, das wäre unklug.» Tsigan zuckte mit den Achseln. «Doch ich denke, du willst wissen, welche andere Geschichte es noch gibt. Du kennst natürlich die Sage, dass die Zentauren aus dem All kommen. Nun gut, die Zentauren, die damals landeten waren alle weiß. Sie kämpften gegen die Menschen. Doch einer nach dem anderen wurden sie gefangen, bis nur noch Sire Robin und sein Partner Rary blieb.

Die Menschen schwängerten die Zentauren und ließen sie schwer arbeiten. Die beiden letzten Sire versteckten sich in den Wäldern, und wenn immer mal wieder einem der jungen Zentauren die Flucht von den Menschen gelang, dann fanden sie ihn. So wuchs ihre Gefolgschaft. Endlich, so dachten sie schließlich, wären sie genug, um die noch lebenden Sire zu befreien. Doch der Plan misslang, Sire Robin wurde gefangen und die Gefolgschaft in alle Winde verstreut. Nur Sire Rary und ein junges Zentaurenpärchen blieben zusammen. Sie beschlossen, Sire Robin zu befreien. Aus der Schiffsausrüstung hatte Sire Rary einiges gerettet und so stellte er für sie drei das Serum her. Nach einer Woche waren sie alle schwarz wie die Nacht und konnten sich im dunklen Wald gegenseitig nicht mehr sehen.

In der nächsten Neumondnacht überfielen sie das Gefängnis von Sire Robin und befreiten ihn und eine Menge anderer Zentauren. Doch Sire Rary starb dabei; aber das Paar kam unversehrt zurück. Ein halbes Jahr später, sie waren wieder braun wie eh und je, da bekamen sie ein Kind: den ersten Nachtzentauren.» Tsigan machte eine kurze Pause.

Flicker besah sich wieder seine rechte Hand. «Ich habe beim Reinigen der Wunden eine Menge Eiter und Blut an den Fingern gehabt.»

«Vielleicht wirst du dich etwas verfärben. Ich weiß es nicht, es sind nur Geschichten. Aber selbst wenn, es würde ja nicht lange anhalten. Hast du denn etwas gespürt?»

«Ich weiß es nicht. Ich habe etwas ziemlich Verrücktes getan, aber das konnte auch sein, wegen der ganzen Sachen. Ich meine, ich habe noch nie so einen übel zugerichteten Zentauren gesehen», sagte Flicker nebenher. In Gedanken war er immer noch bei Sire Rary.

Tsigan schwieg. Dann meinte sie trocken: «Nun, wenn wir noch länger warten, dann schmeckt die Suppe gar nicht mehr.»

Erst dieser Satz riss Flicker in die Gegenwart. Er ging in die Hütte, um Frunje zu wecken. Frunje reckte sich, stand unsicher auf seinen geschwächten Beinen. «Es geht schon», sagte es, als Flicker es stützen wollte.

Es legte sich zu ihnen an das Feuer. Gierig löffelte es die Suppe, Flicker und Tsigan hielten sich zurück. Frunje verschlang fast das gesamte Abendbrot; doch es freute sie, dass es endlich wieder aß. Wenn Flicker nicht Frunje zusah, dann blickte er das Tal entlang. Die Wolken hatten eine rostrote Färbung angenommen. Zweimal hörte sie leise Donner grollen, dessen Echos endlos weiter grummelten.

Endlich war das Fohlen satt. Frunje setzte den Teller ab. «Es ist nett.» Die Stimme brach ihm fast. Es war mitten in der Pubertät; noch dazu kämpfte es um jedes Wort, unsicher im Ausdruck, als hätte es nach zu langem Schweigen zu viel zu sagen.

«Du brauchst nichts zu sagen», sagte Flicker schnell.

«Doch. Ich bin Frunje, Frunje aus Kerby bei Medford», sagte es.

«Flicker van Klemt(er), aus Zikaku.»

Es kam kühler Wind auf.

«Ich bin Tsigan(sie).» Und dann: «Tramp», fügte sie hinzu.

Noch ein Windstoß, fast schon kalt nach der Hitze. Sie packten ihre wenigen Sachen in die Hütte, löschten das Feuer. Doch dann blieben sie draußen, um das Naturschauspiel mitzuerleben. Schweigend standen sie auf der Lichtung und blickte das Tal hinab. Die untergehende Sonne tauchte die östlichen Bergspitzen noch einmal kurz in rotes Abendlicht; das machte die drohenden Wolken nur noch dunkler. Es war kühl geworden, der Wind war ganz eingeschlafen. Donner grollte jetzt ständig, mal laut, dann etwas leiser widerhallend. Der erste Blitz zuckte von einem der nächsten Berggipfel. Sehr kurz darauf kam der Donner, nicht mehr dumpf sondern schon deutlich krachend. Beinahe gleichzeitig begann es zu regnen. Sie flüchteten in die Hütte.

Eine ganze Zeit standen sie am einzigen Fenster. Doch schließlich ertrugen sie den Lärm einfach nicht. Sie schlossen die Fensterläden und es wurde ein wenig leiser. Nur die Petroleumlampe sorgte für Licht; immer mal wieder überstrahlt von dem Lichts eines Blitz. Bei dem Lärm war nicht an Schlafen oder auch nur eine Unterhaltung zu denken. Tsigan holte Karten heraus. Zum Glück kannte Frunje das Spiel. Es waren nur wenige Worte notwendig.

Endlich war das Gewitter über den Grat gezogen. Der Donner grummelte noch immer ständig, doch der Regen prasselte nun fast lauter auf das Hüttendach. Frunje war an der Reihe die Karten zu geben, doch es legte die Karten beiseite. «Ich bin euch so dankbar», sprach es, und man merkte, dass es den Satz lange vorbereitet hatte. «Ich möchte euch erzählen, was mir passiert ist.» Flicker und Tsigan sahen es erwartungsvoll an. «In meinem Dorf lebten nur Blaue. Als ich sieben war, kam einmal ein großer, wunderschöner brauner Zentaur in das Dorf. Er war völlig aus dem Häuschen, als er mich sah. Er versprach mir Gold, wenn ich mitkomme. Ich habe Ja gesagt, wir sind nach Medford getrabt. Kurz vor Medford kamen andere Zentauren, mit Messern und Bögen. Sie zwangen mich, mit ihnen zu gehen. Wir sind eine lange Zeit nach Süden gegangen, irgendwo fünfzig Kilometer südlich von hier haben sie mich in ein großes Haus gesperrt. Wenn sie mich herausließen, dann waren meine Hände auf den Rücken und meine Füße eng zusammengebunden. In dem dunklen Haus habe ich dann Klimmzüge gemacht und so. Um mir die Zeit zu vertreiben. Vor einem halben Jahr begannen dann»

Frunje machte eine Pause, begann zu schluchzen. Unter Tränen erzählte er weiter. «Ich bin dann einfach zusammengebrochen. Ich konnte mich dann an nichts erinnern. Dann ließen sie mich fast nicht mehr hinaus. Einmal in der Woche kam ein ganz normaler schwarzer Zentaur. Er hatte nur ein Auge. Der stach mich mit einer langen Nadel, und aus der Nadel ließ er eine schwarze Flüssigkeit in eine Flasche laufen, vielleicht sogar mein Blut. Es tat eigentlich nie weh, und ich fühlte mich immer besser danach. Doch dann kam er immer öfter. Einmal kam er für zwei Wochen nicht mehr und ich dachte, ich sterbe.»

Flicker nahm Frunje in seine Arme, streichelte beruhigend seine Mähne. Frunje weinte und weinte, doch dazwischen erzählte es weiter: «Dann ließen sie mich irgendwann wieder heraus. Ich konnte fast nichts sehen und mir war bei jedem Schritt schwindlig. Manchmal ließen sie mich dann sogar gefesselt allein. Da habe ich es dann geschafft, die Fesseln zu sprengen und bin losgelaufen.»

Frunje begann zwar zu zittern, weinte aber nicht mehr. «Ich bin ihnen davongelaufen. Sie haben auf mich geschossen. Einer hatte mich eingeholt. Ich habe ihn gewürgt. Dann bin ich gerannt. So, wie die Nadel habe ich auch die Wunden nicht gespürt. Vielleicht ist er gestorben.» Erneut brach Frunje in Tränen aus und diesmal gab es sich ihnen hemmungslos hin.


 
Tjanzer war im Zikaku. Mit den Fohlen probte er wieder einen Tanz. Zur Mittsommernacht wollten er den schwedischen Brauch des Mittsommerfestes wieder erwecken. Raissa und Jacko waren natürlich froh darüber und halfen nach Kräften mit. Jacko würde Gitarre spielen, Tiras Mutter Geige, Tjanzer selbst würde Flöte spielen. So weit war die Theorie. Während die Fohlen begeistert waren, sahen die Erwachsenen zwar zu; doch nur selten überwand sich einer mitzumachen.

Ein weiteres Problem waren die Tänze selbst; die meisten Tänze waren für Zentauren ungeeignet. Die schlimmste Figur für einen Zentauren ist schließlich eine Drehung, und die gehört fast zu jedem Tanz. Auch die Tanzschritte sind im Laufe der Kulturgeschichte der Menschheit auf die bei einem Menschen üblicherweise vorhandenen zwei Füße optimiert worden. So musste fast jeder Tanz neu erfunden werden; da konnten sie ruhig etwas merkwürdig aussehen, schließlich fehlte die jahrhundertealte Tradition.

Heute sah sich ein Fremder das Treiben an. Es war ein hochgewachsener brauner Zentaur mit weißem langen Fell an den Fesseln. Er konnte noch keine Zwanzig sein. Der Körper war athletisch, aber nicht kraftbetont. Selbst die Zentauren, die schon einen Partner hatten, mussten bei seinem Anblick schlucken. Der Fremde stand nur am Rand, sah einfach nur zu. So war natürlich kein Proben mehr möglich. Tjanzer ging auf ihn zu.

«Sire Rodast,», sagte der Fremde, «ich bin Tik(sie).» Sie kniete sich nieder, als er noch zwei Meter entfernt war. Tjanzer strauchelte fast. Sie hatte ein angenehme, nicht zu tiefe Stimme. Er musste tief einatmen, roch ihren Geruch nach Meer. «Ich bin, äh, Tjanzer(er)», stammelte er.

«Sire Rodast, ich komme von den KIs. Freiheit und Frieden. Ich muss dich sprechen.»

Es dauerte einen Moment, bis er bemerkte, was sie wollte. «Geh vor», sagte er. «Ich werde dir folgen.» Und als sie immer noch stehenblieb, wiederholte er es.

Sie nickte, drehte sich um und setzte sie sich in Bewegung. Sie ging sehr harmonisch; scheinbar musste sie oft weit laufen, denn ihre Bewegungen waren sehr ökonomisch. Sie trabten fast einen Kilometer, bevor sie stehenblieb und sich umdrehte.

«Sire Rodast.» Sie senkte den Blick, holte tief Luft. Sie auch, die die KIs kannte, sie hatte Respekt vor ihm? «Sire Rodast, die KIs haben eine Nachricht für dich.» Sie reichte ihm einen Umschlag und sank in die Knie.

«Steh auf. Ich bin Tjanzer(er). Keiner nennt mich Sire Rodast. Und» eigentlich müsste ich mich vor dir hinknien, er hätte es fast laut ausgesprochen. Er öffnete den Brief.

,,Sire Rodast," stand da, ,,wir brauchen deine Hilfe." Dann wurde lang von Aufständen in den Minen in nahen Bergen im Südosten geschrieben. Auch stand da, dass es dort noch manchmal Sklaverei gab. Beides sei nicht zu tolerieren. Und dann kam der entscheidende Satz: ,,Wir bitten dich, eine Rundreise durch die Gegend zu machen; du bist der einzige Sire, der dies zur Zeit tun kann, da Sire Raldron schwanger ist. Wir müssen uns auf dich verlassen und können dir leider auch nur wenig Hilfe anbieten. Tik wird dich begleiten, sie ist jung aber klug und geschickt; und sie hat einen der Aufstände miterlebt. Unsere besten Wünsche gehen mit euch. Freiheit und Frieden." Dann kam noch eine Liste von Orten.

Er ließ den Brief sinken. Tik kniete noch immer auf den Vorderbeinen, sah auf den Boden. Er legte die Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf ein wenig. «Bitte, steh auf.»

Sie entwand sich seinem Griff.

«Komm, gehen wir zu der Lichtung. Dort gibt es frische Beeren.»

Endlich stand sie auf. Sie pflückten schweigend Beeren, doch es sobald er genug hatte, hörte sie auch auf. Sobald er sie wieder direkt ansah, kniete sie wieder. Also setzte er sich halt auch. «Tik, weißt du, was in dem Brief steht?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, Sire Rodast, nicht genau.» Er schwieg auch. «Ich vermute, es hat mit den Unruhen zu tun.» Er nickte, sagte aber kein Wort. «Ich meine, es geht mich auch nichts an. Aber ich weiß, dass du mich beanspruchen kannst, wenn du keinen besseren findest.»

Nun konnte Tjanzer nicht mehr schweigen. «Verdammt. Was denkst du denn, bist du eigentlich.» Sie sah ihn erschrocken an, hatte ihn wohl missverstanden. «Du bist für diese ganze Mission zehnmal besser geeignet als ich. Verdammt, behandel mich einfach wie einen ganz normalen Zentaur. Die KIs haben mir gar keine Wahl gelassen. Ich kann sie nicht so einfach im Stich lassen, wie es Tariff getan hat, sie haben mir nichts getan.» Sie sah ihn groß an. Sie hatte ihn natürlich nicht verstanden, wie konnte sie auch.

«Gehen wir am besten gleich morgen früh», sagte Tjanzer niedergeschlagen. Immerhin, sie würde mitkommen. Er würde ihre Hilfe brauchen, schließlich war er noch nie so weit gereist. Er schritt gedankenverloren los. «Kannst du mir einen Gefallen tun? Nenn mich bitte nicht Sire Rodast, und fall auch nicht auf die Knie, wenn wir allein sind. Ich bin Tjanzer, das bin ich gern. Sire Rodast, dass war ich bisher nur ein einziges Mal. Das muss ich mir erst vedienen.»


 
Der nächste Morgen nach dem Gewitter war wunderschön. Der Himmel war blau und die Luft klar und rein, wie schon lange nicht mehr. Es roch vor der Hütte nach feuchter Erde. Der Himmel war mit kleinen Schäfchenwolken getupft.

Flicker wusch sich gründlich, um den Schweißgestank abzuwaschen. Erst das Zusammensein mit den anderen hatte ihm seinen Fellgeruch wieder unangenehm in Erinnerung gebracht.

Frunje kam als nächstes. Das Fohlen hatte sich gut erholt. Er hätte nie gedacht, dass es so schnell gehen würde. Das Wasser perlte von seinem Fell, es sah fast wie ein gestelltes Bild aus, wie die Tropfen die pechschwarze Seite des Fohlens herunterrannten. Jetzt, wo sich die Wunden geschlossen hatten, konnte es endlich Seife benutzen. Flicker half ihm, und langsam verlor das Fell mit dem Fett den blau-silbernen Glanz und klebte sauber und stumpf an Frunjes Körper.

In der Zwischenzeit war auch Tsigan aufgewacht. Stumm stand sie daneben, bis sie fertig waren. «Frunje,», sagte sie ernst, sah ihm in die Augen. «Glaubst du, du kannst heute zwanzig Kilometer laufen?»

Flicker war schockiert. Doch bevor er etwas sagen konnte, nickte Frunje. «Ich würde auch noch weiter laufen.»

«Nein, denke ich nicht.» Tsigan klang sehr endgültig. «Ich kenne eine Höhle.»

Jetzt mischte sich wieder Flicker ein. «Wo willst du denn hin? Ich würde vorschlagen, wir gehen nach Norden. Wir sind bei uns sicher.»

Tsigan sah ihn böse an. «So, woher nimmst du denn deine Sicherheit?», sagte sie verächtlich.

«Nun, ich bin ein Kind von Tariff, und mein Bruder ist Tjanzer.» Doch Tsigan machte nicht den Eindruck, als verstünde sie. «Du kennst sie vielleicht als Sire Rigan und Sire Rodast.»

«Ich kenne keinen Sire. Aber ich weiß, dass im Norden Medford liegt. Der Ort, wo Frunje gefangen genommen wurde.»

Flicker hielt kurz inne. Sie hatte recht. Andererseits gab es hier im Süden keinen Ort, von dem er gehört hätte, dass er sicher wäre. Und außerdem brauchte Frunje Hilfe, richtige medizinische Hilfe. Da hatte er eine Idee. «Frunje, egal wohin wir gehen, ich habe etwas, womit du dich tarnen kannst.» Er kramte in seiner Packtasche. «Hier. Haarentfärbemittel.» Er hielt triumphal die Flasche hoch. «Ich habe es nicht gebraucht, als.» Er biss sich auf die Zunge. «Egal. Komm, ich weiß zwar nicht, wie gut es wirkt, aber ein wenig ausbleichen wird es dich schon.»

Tsigan und Frunje waren keinesfalls überzeugt. Sie sahen sich die Flasche kritisch an. Doch sie konnten nichts mit den Text anfangen, wie ihm einfiel; selbst wenn sie es entziffern könnten, so war es doch englisch. Flicker nahm ihnen die Flasche aus den Händen und übersetzte den Text. Noch immer zögerten sie.

«Du kannst doch nur gewinnen. Wenn es funktioniert, dann gehen wir nach Norden, wenn nicht, dann gehen wir nach Osten, oder wohin Tsigan auch immer vorschlägt.» Sie schwiegen. «Verdammt, ich habe dir meinen gesamten Vorrat an Antibiotika gegeben, ich bin bereit dir dieses Entfärbemittel zu schenken, und du sagst einfach nichts. Geht von mir aus, wohin ihr wollt, lauf doch pechschwarz durch die Gegend. Hallo, ich bin ein Junkie. Oder was wollt ihr denn als Ausreden vorbringen? Stirb mit dreißig, weil dich keiner operiert. Und Tsigan, willst hnn»

Tsigan griff unvermittelt an, hielt Flicker den Mund zu. Er wehrte sich, er war stärker als Tsigan. Auch wenn sie größer und vielleicht schwerer war, so konnte er sie niederringen. Sie wälzten sich auf der Wiese. Schließlich landete Tsigan im Bach und er hielt sie nieder.

«Hört endlich auf!», schrie Frunje.

Sie sahen sich belämmert an. Langsam stand Flicker auf und half Tsigan auf die Beine. Sie schüttelten sich die Hände. Dann sahen sie wieder Frunje an. «Hast du dich nun entschieden?», fragte Tsigan.

«Versuchen wir Flickers Mittel.» Frunje stellte sich wieder in den Bach. «Und was hast du gesagt, ich sterbe mit dreißig?»

Tsigan sah Flicker böse an, dann antwortete sie: «Das, was dich schwarz macht, bringt dich irgendwann um. Vielleicht kann man es operieren; doch mancher Zentaur würde dich lieber einfach wieder gefangennehmen und ,,melken".»

«Flicker sagt doch, er könnte helfen ... »

Tsigan schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht, woher Flicker die Sicherheit nimmt.»

Die ganze Zeit redeten sie über seinen Kopf hinweg. Endlich war eine kurze Pause. «Verdammt, für Menschen ist das Serum wohl wertlos, oder? Und mein Vater war ein Mensch. Seid ihr jetzt zufrieden?» Doch keiner der beiden sagte etwas, vielleicht hielten sie ihn für durchgedreht. Er war richtig sauer. Sollten sie doch dahin, wo der Pfeffer wächst. Aber Frunje hatte das nicht verdient.

«Na los, schäumt mich endlich ein.» Frunje stellte sich demonstrativ in den Bach.

Sie shampoonierten ihn schweigend ein. Nach einer Viertelstunde begannen sie, das Entfärbemittel aus Frunjes Fell zu waschen. Der Bach färbte sich schwarz, und sein Fell wurde ein helles Blau, lichtblau, wenn man es so bezeichnen konnte. Seine Haut blieb so dunkel wie vorher. Doch Tsigan und Frunje waren erstaunt. So erstaunt, dass sie einwilligten, mit Flicker nach Norden zu ziehen. Tsigan kannte einen selten benutzten Gebirgspfad, den würden sie probieren.


 
Tik bewegte sich graziös. Leichtfüßig lief sie neben Tjanzer her, dabei trug sie genauso viel Gepäck. Sogar etwas von seinem Gepäck, denn er war das erste Mal so richtig unterwegs, und er hatte zuviel mitgenommen. Sie waren jetzt den zweiten Tag unterwegs, gerade bogen sie von der Hauptstraße nach Süden ab und folgten einen Weg in die Berge.

Sie liefen schnell, aber das war nicht der Grund, warum sie schwiegen. Tik hatte immer noch zuviel Ehrfurcht vor ihm, um ihn einfach anzusprechen. Und wenn er versuchte, sie zu ermuntern, etwas von sich zu erzählen, dann kam als Antwort immer: «Ja, Sire Rodast», gefolgt von nackten Tatsachen, wie «Ich bin fünfzehn», mehr nicht. Es wurmte ihn. Schließlich blieb er einfach stehen. «Tik, willst du wie eine Schwachsinnige behandelt werden? Nein, dann behandel mich nicht wie einen!»

Sie war schockiert. «Aber Sire Rodast, nie würde ich wagen -- was habe ich falsch gemacht?»

«Nun, vielleicht redest du ja mit allen Leuten so komisch. Ich bin Tjanzer. Und solange uns keiner zuhört, bleibe ich Tjanzer. Es ist völlig gleich, ob ich rot, braun, schwarz, weiß oder sonstwie bin. Es gibt nur den Zentaur Tjanzer. Ich möchte gerne ganz normal reden. Sonst drehe ich den Spieß um, Sire Rik.»

«Aber Sire, ich»

«Tjanzer», sagte er. «Einfach Tjanzer.»

«Sire, das ist falsch», sagte sie mit aller Entschiedenheit ihrer fünfzehn Jahre. «Niemand würde einen Sire einfach so ansprechen. Und dann noch mit seinem falschen Namen.»

«Alle haben das getan», sagte Tjanzer. Doch plötzlich klang es, als wäre die Zentauren aus dem Dorf alle Trottel gewesen.

«Alle Sire haben das immer so gemacht», sagte sie. «Es ist wichtig, denn sonst hätten die Sire keine Autorität mehr.»

«Genau das ist der Punkt», hakte Tjanzer ein. «Warum sollte die Fellfarbe Autorität verleihen oder warum sollte man einen Zentaur nur aufgrund der Fellfarbe respektieren? Nein, Respekt muss verdient werden, und ich habe ihn mir noch nicht verdient.» Sie sah ihn groß an, schwieg aber. «Aber du, du hast bisher mehr getan als ich! Du bist 3000 Kilometer gelaufen, um mit einem Grünschnabel von Zentaur, bei dem wegen eines Gendefektes das Fell weiß blieb, auf eine schwierige Mission zu gehen, weil die anderen Sire völlig verblödet oder sogar gewalttätig sind. Ich bin nicht blöd, und ich hoffe so sehr, dass du es auch nicht bist. Also wunderschöne Tik, ich bin Tjanzer für dich.»

Sie sah schockiert zu Boden. Schließlich murmelte sie: «Du tust mir zuviel der Ehre, Sire.» Und schwieg jetzt ganz.


 
Die Wege, die Tsigan einschlug, waren wirklich einsam; mehr noch, sie waren fast keine Wege mehr. Nur ein Tramp konnte diesen kaum sichtbaren Spuren folgen; Flicker selbst war dazu nicht in der Lage. Auch der Navigationscomputer half hier nicht weiter, denn wenn kein Weg in der Karte eingetragen war, dann konnte dieser auch keinen finden.

Tsigan lief nicht sehr schnell, tat keinen Schritt zuviel. Dabei musste gerade sie das langsame Tempo, dass sie für Frunje liefen, am ehesten ermüden. Sie waren am frühen Nachmittag losgezogen, erst als Frunje ganz trocken war. Doch Tsigan kannte auch im Norden eine Höhle ganz in der Nähe, nur zehn Kilometer weit. So viel, wie sie von Höhlen und Minen hier erzählt hatte, kam ihm die Gegend plötzlich wie ein Schweizer Käse vor.

Tsigan schüttelte zwar den Kopf, wenn Frunje, vom Übermut getrieben, ein kurzes Stück voranlief. Sie hielt stur das langsame Tempo bei, dem Fohlen zuliebe. Selbst wenn die Droge im Blut des Fohlens die Heilung beschleunigte, so konnte es sich nicht so schnell erholt haben. Vermutlich betäubte die Droge eher die Schmerzen.

Heimlich hatte auch Flicker Angst, die Wunden könnten wieder aufbrechen. Doch sie blieben bis zur Höhle geschlossen. Dort maulte ausgerechnet Frunje, wollte noch weiterziehen. Dabei war es drückend schwül und der Wind war eingeschlafen. Die Wolken türmten sich bereits hoch, und der Himmel zog sich zu. Die Ameisen begannen schon, ihren Bau gegen den Regen zu sichern. Die halbe Stunde, die sie vielleicht noch hatten, bevor das Gewitter losbrechen würde, nutzten sie, um Feuerholz und Essbares zu sammeln.

Mit dem ersten Donnerschlag kehrten sie zur Höhle zurück. Tsigan hatte am Eingang schnell ein Feuer entfacht, und als eine halbe Stunde später der Regen prasselte und lauter Donner durch das Tal rollte, da war die Suppe fertig. In jeder Kneipe hätten sie sich über solch ein Essen beschwert; aber hier draußen in der Wildnis gehörte das Knirschen von Sand und der penetrante Harzgeschmack allgegenwärtiger Kienäppel leider dazu. Immerhin hatte Tsigan ein paar Eicheln und Bucheckern gefunden, die sauer-nussige Geschmacknuancen einbrachten. Jedenfalls schmeckte sie besser, als die meisten Wildnisgerichte, die Flicker bisher versucht hatte.

Leider war die Höhle eher klein, und immer, wenn der Regen draußen in einen Schauer überging, sprangen die Spritzer bis zu ihnen, oder verpufften zumindest lautstark im Feuer. Als das Gewitter in einen beruhigenderen Regen überging und fast völlig dunkel war, begann Flicker zu erzählen. «Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Sie handelt von meiner Geburt. Tsigan, du kennst sie sicher. Aber vielleicht nur in der entstellten Fassung, die ich zu oft gehört habe.»

Und so erzählte Flicker in seinem etwas ausholenden Stil von Jacko, und wie dieser erst Tariff und dann Felo kennen gelernt hatte. Während Tsigan nur mit einem halben Ohr dabei war, hing Frunje an seinen Lippen. Als Flicker in einem Nebensatz seinen Computer erwähnte, da unterbrach es ihn. Frunje wollte den Computer sehen. Kaum schwebte die erste Kartenprojektion über der Einheit, da drehte sich auch Tsigan um. Gemeinsam bestaunten sie den Computer. Flicker hatte selten daran gedacht, wie außergewöhnlich dieser Kartencomputer war. Er hatte ihn nie bewusst verborgen, hatte aber auch nie damit geprahlt. Eher fand er es etwas peinlich, auf diese Hilfe von Zeit zu Zeit angewiesen zu sein.

Aber egal was er noch erzählen wollte, Tsigan und Frunje waren vom Computer gefangen. Erst als Flicker die Symbole und die Bedeutung des Kartenbildes erklärte, da verstand Frunje überhaupt, wozu der Computer gut war. Tsigan schwieg auch hier die ganze Zeit. Flicker saß am Feuer und starrte in die verglimmende Glut. Die Höhlenwände reflektierten das unstete grünblaue Licht des Computers. Erst als das Bild verblasste, weil die Akkus sich leerten, hörten sie auf, mit dem Computer durch die Welt zu reisen. Ein letzter Aufruf, als sich das System herunterfuhr und dabei die sich entfernenden Erde zeigen; so wie sie Jacko und Raissa während ihrer Abreise gefilmt hatte. Das Feuer war inzwischen kalte Asche. In der schwarzen Nacht rauschte noch immer der Regen.

Sie wachten erst auf, als die Sonne in die Höhle schien. Der Morgen war kühler, dafür hatten sich die Wolken verzogen. Die Schwüle schien erst einmal vorbei zu sein.

Schnell packten sie ihre wenigen Sachen und brachen auf. Frunje schien völlig erholt zu sein, jedenfalls drängelte er immer. Also liefen sie im normalen Trott, der Weg zwang sie oft genug, langsam zu gehen. Dennoch hatten sie gegen Mittag schon 20 Kilometer zurückgelegt.

 
Nach zwei weiteren Tagen erreichten sie gegen Abend die Klamathwasserfälle und kamen nördlich der Stadt an den Fällen an den großen Bergsee. Sie trabten dort das Westufer entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo einmal ein Hang in den See abgerutscht war. Das Ufer fiel dort nur sehr flach in das Wasser ab und es gab eine blickgeschüzte Bergwiese. Sie überlegten, heute Nacht hier zu bleiben. Es war zwar etwas kühler geworden, dafür es sah nicht mehr nach Gewitter aus, und der Platz war windgeschützt. Schon bald brannte das Feuer in der Mitte. Drei unvorsichtige Kaninchen grillten über der Glut.

«Ich werde euch morgen verlassen», sagte Tsigan unvermittelt.

«Warum denn? Und wie sollen wir dann unbemerkt nach Zikaku kommen?»

«Keine Sorge. Morgen werden wir auf einen Pass zu einer kleinen Straße nach Bend kommen. Übrigens nahe bei dem berühmten Kratersee. Egal, von dort ist es für euch kein Problem nach Zikaku zu kommen. Und wegen dem Haarfärbe-Wundermittel sind diese Schleichwege eigentlich eh überflüssig.»

«Ja, aber warum geht's du?»

«Ich muss nach Osten. Hier ist die nächste Möglichkeit, morgen, die Straße die andere Richtung entlang. Sonst muss ich viel weiter nach Norden. Ich bin ein Tramp, das wisst ihr doch.» Natürlich wussten sie das. Doch es klang eher, als würde Tsigan etwas verbergen. Egal, wenn sie gehen wollte, sie war so frei wie sie alle. «Aber heute abend will ich euch eine ganz besondere Geschichte erzählen. Sie ist ganz neu, ihr könnt euch damit sicher das eine oder andere Abendbrot verdienen.» Sie legte ein paar Scheite in das Feuer und begann zu erzählen.

Flicker erkannte den Anfang, die klassische Rebellengeschichte. Doch dann nahm sie einen ungewohnten Lauf. Der Zentaur wurde geschlagen und verschwand in der Erde, oder im All, jedenfalls blieb er verschwunden, bis er dann in diesem Frühling östlich der Rockies wieder auftauchte. Ein Hinterlauf fehlte, statt dessen trug er eine silberne Prothese. Er selbst hätte gesagt, eine Bürger-KI hätte sie ihm gegeben. Flicker saß sehr nachdenklich da, selbst als Tsigan geendet hatte, zeigte er keine Regung.

«Flicker, geht es dir gut?»

Er brauchte ein paar Sekunden, um wieder ganz hier zu sein. «Wie was? Ach, ich habe mich nur gefragt, ob 14 was damit zu tun hatte. Ich werde ihn von zu Hause anrufen.»

Die anderen sahen ihn entgeistert an. «Du, rufst wen an? Und du glaubst die Geschichte?» Tsigan schüttelte immer noch langsam den Kopf. «Immerhin bist du Handelszentaur.»

«Ich habe es doch schon ein paar Mal erzählt. Mein Vater ist Jacko van Klemt, der Raumfahrer.» Ohje, das hatten sie scheinbar völlig missverstanden. «Er ist ein Mensch. Im Jahr -144 vor unserer Zeitrechnung sind sie gestartet und wegen der Zeitdilatation nach der Einsteinschen Relativitätstheorie erst jetzt zurückgekommen.» Er hätte ebenso Chinesisch reden können. «Ich hab' doch die ganze Geschichte erzählt. Hier, auf dem Computer sind noch ein paar Bilder. Der Tag der Landung.» In dem Rauch erschien die unstete Projektion von dem Landeplatz, wo das Shuttle in den Hangar rollt. Der Fahrstuhl fuhr herunter und Raissa und Jacko kamen heraus. «Oder hier, Bilder aus dem Jahr -144.» Das letzte Interview lief. «Und hier, ein Sternenbogen. Und hier, die Abschlusssequenz, die Erde, wie sie -144 hinter der Dädalus verschwindet.» Die Shutdownsequenz lief ab.

«Du bist aus dem All», sagte Frunje und zitterte.

Flicker sprang auf: «Verdammt, es war noch nie ein Zentaur im All! Nur Menschen, und mein Vater war ein Mensch, Jacko van Klemt.» Er setzte sich resigniert. Es war vielleicht keine gute Idee gewesen. «Bitte glaubt mir: Ich würde gerne ins All fliegen, aber bisher haben die Menschen das Monopol auf Raumfahrt. Das wird sich irgendwann ändern. Aber bis dahin gilt, dass noch nie ein Zentaur im All war.»

«Sehr eindrucksvoll», murmelte Tsigan.

«Bitte, Tsigan, bitte erwähne nie meinen Namen und verfremde die Sache etwas, wenn du schon davon erzählen musst. Aber warte bitte noch zwei Wochen, bis wir sicher in Zikaku sind.» Er gab sich nicht der Illusion hin, dass ein Tramp zu so etwas schweigen konnte. «Dein Wort», sagte er ernst und stand auf.

«Mein Wort dazu», sagte sie feierlich. «Auch wenn es nicht viel ändern wird. Die Geschichte, ein Zentaur aus dem All sein gelandet und treibt sich hier in Gegend herum, hat wohl ziemlich sicher dem Ursprung bei dir. Auch wenn es in der Geschichte ein weißer Zentaur ist ... »

«Ich habe mein Fell gefärbt, genauso wie Frunje, soweit dazu», unterbrach Flicker sie. Sie sahen ihn entgeistert an. «Danke für die Warnung. Trotzdem, glaubt's oder glaubt es nicht: Ich war noch nie im All!»

Tsigan schüttelte nicht einmal mehr den Kopf.

 
Als sie am Morgen aufwachten, da war Tsigan verschwunden. Flicker fehlte nichts, er hätte das Tsigan auch nicht zugetraut. Aber dass sie einfach so verschwand, er verstand es nicht. Schnell frühstückten sie die Reste vom Abendbrot und brachen auf.

Am Mittag waren sie auf der Straße nach Bend. Frunje trabte sehr rasch.

«Frunje, langsamer.»

«Ich kann nicht. Du weißt doch, dass ich mehr als zwei Wochen nicht mehr gestochen wurde. Wenn ich nicht renne, dann kippe ich einfach um, und mir geht es dann elend.»

«Aber deine Wunden könnten aufgehen.»

«Die halten schon zwei Tage. Komm!»

Es war ein mörderisches Tempo. Bis zum Abend hatten sie so knapp hundert Kilometer zurückgelegt. Flicker konnte einfach nicht mehr. Bei dem ersten geeigneten Platz stoppte er, legte seine Satteltaschen ab und ging ohne ein weiteres Wort in den nahen Bach, um sich abzukühlen und den Schweiß abzuwaschen. Minuten stand er in dem kalten Wasser.

Die Sonne war schon untergegangen, da endlich war ihr Abendessen fertig. Kaum hatten sie mit dem Abendbrot begonnen, trat ein müder Zentaur in den Feuerkreis. Flicker musste husten und auch Frunje verschluckte sich. Denn der Zentaur hatte statt eines normalen Beines einen silbernen Hinterlauf. Er bewegte ihn natürlich, es klang aber wie Metall.

«Einen wunderschönen Abend euch. Ich bin Tom(sie)», sagte der Zentaur mit dem silbernen Bein.

«Flicker(er) und Frunje», stammelte Flicker.

«Bevor ich etwas zu essen bekommen, muss ich wohl meine Geschichte erzählen», sagte Tom mit einem schiefen, müden Lächeln.

«Nein, ich glaube das Wesentliche schon mal gehört zu haben, wenn es denn stimmt. Greift zu! Sag mal, war die KI, von der du das Bein hast, Nummer 14, Athur Turner? Das sähe der ähnlich! Aber es ist doch von einer Bürger-KI?»

Toms Hand erreichte nicht die Kaninchenkeule, die Flicker ihm hinhielt. «Athur Turner kenne ich nicht. Aber es war wirklich von einer Bürger-KI, sie hieß Sina», sagte er.

«Computer, suche KI Sina!», sagte Flicker. «Aber die Geschichte, die ich gehört habe, handelte von zwei Zentauren.»

Der Computer antwortete. «Sina, gestartet 2181, Nummer 7118, Magnetbahn-BW ,,Little Rock", Karte?»

«Ist das dort die KI?», fragte Flicker.

Tom war aufgesprungen, als die Kartenprojektion erschien. Schnell schaltete Flicker das Gerät wieder aus. Verdammt, wie konnte er nur so dumm gewesen sein? Selbst wenn er ihn damit nicht geschockt hätte, nur ein Handelszentaur und einige Tramps konnten überhaupt Karten lesen.

«Bist du der Zentaur aus dem All?», fragte Tom leise.

«Kommt setz dich.» Flicker lachte. «Ich glaube, jeder von uns hat viel zu erzählen.»


 
Tik lief voraus. Die Abendsonne vertiefte die Konturen ihrer Flanke. Ihre Bewegung war ein Fließen. Am Ende dieses warmen Tages flog ihre dichte lange weiße Mähne und ihr ebenso weißes Haupthaar im Fahrtwind. Wie konnte ein Zentaur nur so schön sein!

Wieder einmal verfehlte er eine Pappel um Haaresbreite. Er fluchte. Tik blieb stehen und drehte sich um. Er wurde noch röter und hätte sich fast in dem Kaninchenloch am Wegrand den linken Vorderlauf gebrochen. Das war zu viel, Tik drehte sich weg. Er bemerkte, wie sie zuckte. Sie versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen.

«Tik, was ist?», fragte er, als er neben ihr war.

«Ach, pff, Sire Rodast, pfff, ich denke, du.» Als sie sein nett gemeintes Lächeln sah, war es aus, sie konnte nicht mehr an sich halten. Sie lachte laut los, bis sie seitlich torkelte und eine nebenstehende unschuldige kleine Birke fast entwurzelt hätte. Es sah so lustig aus, und kurz darauf lagen sie beide nach Luft japsend auf dem Boden.

«Im Dorf hast du dich eindrucksvoller bewegt», meinte sie schließlich.

«Da war ich ja auch nicht so abgelenkt», antworte er.

Sie sah ihn fragend an, riss dabei die rechte Augenbraue in die Höhe. Er musste wieder loslachen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, meinte sie wieder sehr gefasst: «Ich meine, Sire Rodast, es könnte deinem Respekt nicht gerade zuträglich sein.»

«Tik, glaubst du ernsthaft, es wird mir irgendwer zuhören, wenn du daneben stehst? Sie werden alle nach dir schielen. Einschließlich mir, übrigens.» Sie wich entsetzt ein Stück zurück. «Tik, wieso fürchtest du dich? Was ist denn passiert, dass du Angst bekommst, wenn jemand dir sagt, dass du der schönste Zentaur ist, dem er je begegnet ist.»

«Es waren nicht allzu viele, oder?»

«Genug Sire waren dabei.»

Sie scheute zurück.

«Tik, verdammt, es ist doch egal, welches Fell man hat. Hast du die Leute im Dorf nicht gesehen? Und die Zentauren, die uns entgegenkamen? Der eine wäre fast die Böschung herunter gestürzt. Und sie haben nicht mich angesehen! Du bist perfekt: Von den schwarzen Hufen über die weißen langen Fesseln, die kräftigen Beine, der schlanke Unterleib, der volle weiße Schwanz, das kurze hellbeige Fell, die dichte Mähne und die starken breiten Schultern mit kräftigen Armen. Ganz zu schweigen von deinem wunderschönem Gesicht. Und dein Gang ist ein perfektes Fließen. Es ist unmöglich, dich nicht zu lieben, vom ersten Augenblick.»

«Aber Sire, du willst doch nicht sagen, dass ist, ich meine, es geht doch nicht an.» Sie wich zentimeterweise zurück.

Tjanzer sprang vorwärts und hielt sie fest. «Doch! Ja, ich liebe dich.» Und dann küsste er sie auf den Mund. Sie zögerte einen Moment, dann entwand sie sich. Schließlich war sie ja wirklich kräftiger.


 
Am nächstan Abend tat Flicker wirklich alles weh; abgesehen von den Stellen, wo lose Riemen gescheuert hatten, spürte er auch jedes Gelenk. Er war sich sicher, dass er am Morgen den schlimmsten Muskelkater seit langem erwarten durfte. Verdammt, wie konnte Frunje das mit seinen geschwächten Beinen überhaupt durchhalten? Aber auch Tom war nicht viel besser drauf. Er bewunderte ihn, dass Tom trotz der Prothese die ganze Zeit mit ihnen mitgehalten hatte. Wenn sie dieses Tempo weiter halten würden, dann wären sie übermorgen wieder zu Hause -- oder im Sanatorium.

Frunje war noch einmal jagen gegangen. Etwas, wozu Flicker bei aller Liebe zur Jagd, heute wirklich nicht mehr zu bewegen war. Seine letzte Handlung vor dem Abendbrot war allenfalls noch das Feuer anzumachen und Teewasser zuzustellen.

Am nächsten Morgen dachte Flicker, heute wäre es mit ihm vorbei! Einen solch schrecklichen Muskelkater hatte er noch nie erlebt. Selbst seine Fußgelenke taten noch weh. Dieser Höllenmarsch wäre mehr was für Tjanzer, wenn überhaupt für einen Zentauren. Auch Tom ging den Weg heute langsamer an.

Trotzdem waren sie am Abend in Zikaku, das waren 90 Kilometer. Verdammt, sie hatten mit Frunje seit der Trennung von Tsigan 370 Kilometer in viereinhalb Tagen zurückgelegt. Aber die Wunden hatten es ausgehalten, und Frunje hatte sie sogar angetrieben. Flicker musste immer wieder den Kopf schütteln. Von hier waren es weniger als sechszig Kilometer nach Hause, aber dass waren mindestens neunundfünfzig zuviel. Er konnte nicht mehr. Außerdem ließ er sich hier gerne bedienen, trotz des gefärbten Felles hatten man ihn sofort erkannt.

Zikaku war wirklich schon einiges gewohnt, denn dass man drei so merkwürdige ,,Blaue" einfach nett empfangen würde, er würde es woanders kaum wagen, nur einen von ihnen zu zeigne. Wer hatte schon je von einen Nachtzentaur, einem fast-Sire oder einen ausgeblichenen hellgrauen Zentaur mit Prothese gehört oder gar gesehen? Und hier gab es das alles auf einmal, und die Leute im Dorf waren froh, ihn wieder zu sehen, und gespannt auf die seltsamen Geschichten der Fremden.

Flicker lehnte sich entspannt an den alten Eichenbaum am Rand des Dorfplatzes. Die leisen Stimmen von Frunje und Tom ließen ihn schnell eingeschlafen.

Der nächste Morgen bestrafte ihn dafür. Seine Kleidung war nass, und überall hatte er Druckstellen von den Wurzeln. Aber die Heimat rief, und es waren eben nur sechzig Kilometer. Heute drängelte er, Frunje und Tom wären gerne noch etwas geblieben.

Flicker nahm den etwas längeren Weg, zuerst zum Meer, dann nach Norden zu Jacko und Raissa und schließlich wieder die paar Kilometer ins Land zur Hütte.

Als sie an den Strand kamen, da blieben sie alle stehen. Außer Flicker hatte keiner je das Meer gesehen. Fasziniert sahen sie dem Spiel der Wellen zu. Sie liefen in die Brandung, erst Frunje und dann auch Tom. Sie galoppierten durch das seichte Wasser, ließen dann die Brandung an sich hochspritzen. Flicker sah lächelnd zu. Endlich kamen sie durchnässt und zitternd aber fröhlich wieder heraus.

Der Flaggenmast war leer, sie konnten zu Jacko. Flicker galoppierte den unebenen engen Felspfad zum Haus entlang und riss die Tür auf. «Hallo, Jacko, Raissa, Felo, Tariff? Ich bin zurück!»

Jacko polterte die Treppe herunter und warf sich so brutal in seine Arme, dass Flicker ein Stück auf dem glatten Boden zurückgeschoben wurde. Sie lachten. Er war allein, Raissa besuchte Jennifer und alle zusammen wollten sie danach für drei Tage nach Florida fliegen. Dann war auch Tom und Frunje an der Tür. Sie sahen entsetzt aus, als sie Jacko sahen. Es war etwas anderes, immer erzählt zu bekommen, ,,Mein Vater ist ein Mensch" und diesen Menschen zu sehen.

«Hallo und willkommen. Viel Glück und Frieden. Tretet ein, seid meine Gäste.» Die förmliche Begrüßung in flüssigen Zentaurisch nahm etwas von der Scheu. Flicker stellte sie einander vor, und einer nach dem anderen betraten sie schließlich das Haus. Zuerst bestanden Flicker und Jacko auf einer Dusche, bevor das Salz ihnen das Fell verkleben würde. Eine warme Dusche war mehr Luxus, als die meisten Zentauren überhaupt vorstellen konnten. Und hier gab es das innen, in einem Haus.

In der Zwischenzeit waren Jacko und Flicker in der Küche, und während Jacko das Essen bereitete, erzählte Flicker rastlos wie ein Wasserfall und reichlich ungeordnet von seinen Abenteuern. Nacheinander kamen Tom und Frunje in die Küche: Es wurde einfach zu eng. Also ließen sie den großen Auflauf im Ofen und gingen auf die Terrasse.

Es war erst früher Nachmittag, die Sonne stand hoch am Himmel; aber es war ein kühlender Wind aufgekommen, so dass es angenehm war. Während sie erzählten (und nebenbei aßen) verging der Nachmittag. Und auch die beiden anderen Zentauren hatten sich längst an Jacko gewöhnt, als wäre er einer der ihren.

Sie blieben draußen, bis der letzte rote Streifen vom Sonnenuntergang im Westen verschwunden war und über ihnen ein voller Sternenhimmel leuchtete. Irgendwo nahebei sangen ein paar Zikaden in der Dunkelheit. Schließlich gingen sie hinein und Flicker zeigte ihnen ihre Quartiere. Dann kam er noch mal zu Jacko herauf.

«Jacko, es ist wegen Frunje.» Er scharrte mit dem Huf. Jacko wartete. «Er muss operiert werden. Von einem Bürger. Kein Zentaur. Ich meine», und er erzählte Jacko alles. Auch dass man Zentauren dabei nicht trauen könnte.

Jacko hielt ihm einen Computer hin. «Rede mit Athur», sagte er nur. «Er wird bestimmt helfen.»

Einen sehr kurzen Augenblick zögerte Flicker. Dann nahm er die kleine Karte entgegen. «Hallo, Computer, hier ist Bürger Flicker van Klemt. Ich muss die KI 14, Athur Turner, sprechen. Hallo, hier ist Flicker.»

«Ich wünsche einen hervorragende Abend, Bürger und Zentaur Flicker.»

«Äh, Danke Athur, äh. Ich wollte fragen, äh.» Verdammt, seit wann stotterte denn er wie ein Schwachsinniger, wenn er einen Computer benutzte.

«Nun, Bürger und Zentaur Flicker, schlider mir frank und frei dein Anliegen.»

Ohje, an das merkwürdige Englisch der KI würde er sich wohl nie gewöhnen können. «Ich habe hier ein schwarzes Zentaurenfohlen, er heißt Frunje. Es ist noch sehr jung, gerade zehn. Ich meine, Athur, kennst du Nachtzentauren?»

Eine kurze Pause entstand. «Nach meinem Kenntnisstand handelt es sich um eine der blauen Zentauren verwandte Mutation. Überfunktion der Nostra-Drüse, hervorgerufen durch eine Stelle auf Genom 47, ab Säurepaar 254874353. Wahrscheinlichkeit ist sehr klein, etwa 1:10-6. Nach den Datenbanken sitzt die ... »

Flicker wurde unruhig. «Äh ja. Und ich würde gerne Frunje, ich meine den Nachtzentaur operieren lassen. Diese Drüse entfernen. Von Bürgern operieren lassen.» Am anderen Ende war Stille. «Hallo?», fragte Flicker schwach.

«Verzeihung, Bürger und Zentaur Flicker. Ich werde so bald es geht zurückrufen. Ich werde mich mit vollen Einsatz dem Anliegen widmen. Gehabe dich bis zu einer Antwort wohl, Bürger und Zentaur Flicker.»

«Das heißt, er wird es versuchen», flüsterte Jacko Flicker zu.

«Äh ja, Danke Athur. Gute Nacht», beendete Flicker das Gespräch. «Warum muss er nur so merkwürdig reden?», seufzte Flicker. «Aber er ist ganz nett. Ach Jacko», fragte er ganz unschuldig, «willst du mich nicht ein bisschen massieren?»

Jacko verdrehte zwar die Augen, tat ihm aber den Gefallen.

 
Gegen Morgen piepte der Computer. Anruf von KI 14: ,,Athur Turner" für ,,Bürger und Zentaur Flicker van Klemt" stand dort. Flicker rappelte sich auf. «Morgen.»

«Bürger und Zentaur Flicker, einen wunderschönen frühen Morgen. Ich möchte meiner größten Genugtuung darüber Ausdruck verleihen, dass ich zusammen mit einer Medizin-KI in wenigen Stunden bei euch eintreffen werde.»

«Öhnnn?»

«Wir werden Frunje operieren. Momentan befinden wir uns im Magnetic bei Salt Lake City. Erwartet uns in 4 Stunden und 47 Minuten, nach derzeitigem Kenntnisstand betreffend der Verfügbarkeit von geeignetem Fluggerät.»

«Ah, ja, toll, super. Und Frunje wird es dann besser gehen? Und es wird nicht mit 30 sterben?»

«Ich denke, wir werden all dieses ausführlichst mit euch allen erörtern können. Ich wollte die gute Nachricht jedoch sofort mitteilen.»

«Super, ich danke dir. Bis später.» Natürlich war an Schlaf nicht mehr zu denken. Draußen waren zwar noch die letzten Sterne einer zu kurzen Nacht zu sehen, aber Flicker lief durch das ganze Haus und weckte jeden.

 
Tariff schlug die Hände über dem Kopf zusammen. «Verdammt Flicker, was hast du dir nur dabei gedacht. Es ist ein Nachtzentaur!»

«Das läßt sich nicht abstreiten. Aber es ist doch auch ein Zentaur. Ich hoffe, die Menschen oder die KIs können ihm helfen. In einer halben Stunde wird Athur da sein, und er wird einen Arzt mitbringen. Vielleicht können sie die Drüse herausoperieren.»

«Das ist Wahnsinn. Bürger operieren Zentauren. Das ist doch ... » Tariff rang nach Worten, wedelte dazu wild mit den Händen in der Luft. «Schrecklich, das ist, als wären die Zentauren unfähig.»

«Die Zentauren haben Frunje gemolken, ein Zentaurenarzt hat Frunje gemolken. Wie soll Frunje je wieder einem Zentaurenarzt vertrauen. Und wie kann es dich eigentlich kalt lassen, was die anderen ihm angetan haben?»

«Ja, ich weiß. Meistens, äh, wie» Tariff gingen die Worte aus!

«Du weißt es nicht. Du hast ihn ja noch nicht einmal gesehen. Dein Hass ist ein unbewusster Reflex aus der Zeit als Sire. Aber nachdem du Bürger und Blaue akzeptiert hast, kannst du ja nun auch Schwarze akzeptieren. Verdammt Tariff, man hat es geschlagen, ihm das Blut ausgesaugt! Am besten lässt du es dir von Frunje selbst erzählen.»

Der Rest war Schweigen, wütendes, aber, so hoffte Flicker, auch nachdenkliches Schweigen. «Verdammt, ich werde wohl alt.» Tariff schüttelte den Kopf, blieb aber regungslos stehen.

«Ich gehe wieder zu Jacko zurück. Du kommst doch?» Damit trat er wieder vor die Tür und ließ Tariff in der Hütte. Tariff wurde immer wunderlicher. Dabei war Tariff gerade erst 39 geworden, eigentlich noch kein Alter. Nun gut, er konnte wohl nun keine Kinder mehr bekommen, aber das allein konnte es nicht sein.

 
Er kam gerade rechtzeitig, um die Landung des Wasserflugzeuges mitzuerleben. Langsam näherte es sich dem Steg. Die Europaflagge des lange schon verschwundenen schwedischen Königreiches wehte am Flaggenmast: Das Zeichen, welches den Besuch einer KI ankündigte. Doch die Zentauren standen auf der Terrasse und sahen ehrfurchtsvoll zu.

«Nein, das ist doch kein Raumschiff!», hörte er Jacko lachen, «Das ist ein ganz gewöhnliches elektrisches Wasserflugzeug.»

Jacko lief zum Steg herunter und half Athur und der anderen KI auszuladen. Der Steg war zu wacklig und zu schmal für Menschen, KIs undZentauren, und so blieb Flicker am Ufer.

Athur Turner trug wie immer seinen schwarzen Anzug mit diesem komischen Zylinderhut. Die andere KI sah nicht menschlich aus. Sie hatte keine Beine sondern Rollen, sah mehr aus, wie ein fahrbarer Ofen mit sechs Armen. Falls so etwas überhaupt eine KI war.

Athur stellte einander vor. Die andere KI hieß 117 und wollte auch wirklich so genannt werden. Es war schwierig, sie wirklich als KI und nicht nur als Computer oder gar als Möbelstück anzusehen. Die anderen Zentauren außer Flicker waren noch viel stärker erschreckt. Aber andererseits hatten sie in den letzten zwei Tagen soviel Neues erlebt, deshalb warteten sie einfach nur ab, was geschehen würde.

Flicker schob Frunje auf KI 177 zu. Die KI untersuchte es, während Flicker ruhig auf das Fohlen einredete. Unvermittelt sprach die KI: «Ich schlage tatsächlich eine Operation vor. Das Risiko ist vertretbar.» Damit rollte die KI zurück. Frunje entspannte sich.

«Wie wäre es mit einem Mittagessen?», rief Jacko aus dem Haus. Die Zentauren brauchten keine zweite Aufforderung, um von diesen seltsamen Gestalten wegzukommen. Nur Flicker, Athur und 177 bleiben noch einen Moment, wobei die letztere so anwesend war, wie ein Möbelstück eben anwesend sein konnte.

«Ich muss mich entschuldigen. Sie werden noch einige Zeit brauchen, bis sie sich an 177 gewöhnt haben», sagte Flicker. «Selbst Bürger und Zentaur Flicker hat damit Probleme.»

Athur nickte. Dann sprach er plötzlich sehr klar und unverschnörkelt: «Es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt. Dir ist bekannt, dass jene Drüse auch bei blauen Zentauren aktiv ist?» Athur wartete nicht auf Flickers Bestätigung. «Die vorzunehmende Operation funktioniert auch bei blauen Zentauren. Sie wären danach normale weiße, braune oder schwarze Zentauren. Ich bitte um absolute Diskretion. Es darf nie, nie ein Wort davon nach außen dringen. NIE!»

«Ich werde schweigen», sagte Flicker. «Obwohl ich es ungerecht finde. Kein Zentaur wird mehr benachteiligt, weil er blau ist ... »

Athur war wieder in seinem alten Sprachstil: «Die Idee ist nobel, wie es sich für dich geziemt. Aber wäre eine Gesellschaft nicht bunter, wenn die Farbe des Fells keine Bedeutung mehr hätte? Sonst käme es vielleicht, dass blaue Zentauren lebenslang sparen, um ihren Kindern eine Operation zu bezahlen. Nein, der richtige Weg ist es, aus den unterdrückten blauen Zentauren und herrschenden weißen Sire einfach ganz gewöhnliche Zentauren, ganz gewöhnliche Bürger zu machen. Eine Prozess, der zweifelsohne seine Zeit benötigen wird, der aber doch alle belohnen wird.»

Flicker hatte einen Moment die Augen geschlossen. «Eine wirklich schöne Utopie.» Da rief Jacko ein zweites Mal zum Essen.


verschiedene Sire

Tik und Tjanzer waren kurz vor der ersten Mine auf der Liste, Culver, nördlich von Bend. Sie saßen sich am Lagerfeuer gegenüber. Schließlich stand Tjanzer auf und kniete sich vor Tik nieder.

«Tik(sie). Willst du mein Partner werden? Bitte, sieh mich an, als ob ich ein gewöhnlicher Zentaur bin.»

Sie lächelte. «Das geht nicht. Du bist nicht gewöhnlich. Du bist ein schöner, junger und intelligenter Sire.»

«Ich bin nicht mehr Sire als du, das muss ich mir erst verdienen.» Ohje, was hatte er Falsches gesagt. Sie sah tief getroffen aus. Er schluckte. Dennoch: «Tik, bitte: Willst du mein Partner sein?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht. Du bist ein Sire der Zentauren.»

«Verdammt, nur weil ich weiß bin, soll ich ein Leben lang solo umherziehen? Bitte, sei nicht so grausam.»

Sie fing an zu weinen. «Ich kann nicht. Bitte ich.» Dann legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und weinte ohne Tränen, verkrampfte die Hände in seiner Mähne.

Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder etwas gefangen. «Bevor wir morgen nach Culver kommen, muss ich dir etwas erzählen. Bitte, hör' einfach zu.» Sie schluchzte wieder. «Bis ich fertig bin. Ich komme auch aus so einer Minensiedlung. Sie hieß Bagdad und lag an einem Seitenfluss des Colorado. Es gab Silber, Kupfer und ein bisschen Gold. Fast alle, die unter Tage, das heißt in den Minen im Berg, arbeiteten, waren blau. Ich dachte früher, dass das von dem Staub kommt. Und eines Tages, vor fünf Jahren, da sind dann die Arbeiter zu uns gekommen. Sie haben ihre IDs und Geld gefordert, und sie riefen immer: ,,Tod den falschen Sire!" Und dann» Sie begann wieder zu weinen. «Und dann haben sie meine Eltern weggeführt, haben sie gehenkt. Ich habe zusehen müssen. ,,Du bist noch jung, Rike lauf weg, Rike lauf soweit weg, wie du nur kannst!", haben sie mir gesagt. Doch einige sind dann trotzdem auf mich losgegangen. Ich bin gerannt, doch hätten nicht die KIs davon erfahren und einen Berater geschickt, ich wäre mausetot. Damals hatte ich tatsächlich geglaubt, wir wären Sire, meine Eltern und ich. Sire Rike! Ich war böse, ich habe dafür bezahlt und ich habe gelernt!»

Er streichelte beruhigend ihre Mähne. «Und jetzt bist du hier mit mir. Und wir werden versuchen, dass es hier nicht so weit kommen wird wie bei euch. Schrecklich, Zentaur, die Zentaur töten.»

«Aber sie hatten damals doch recht. Wir waren böse», murmelte sie leise.

«Nichts rechtfertigt Töten. Gar nichts.» Er hatte sich richtig aufgeregt. «Nein, nichts. Aber ich frage dich noch einmal. Willst du mein Partner werden.»

«Nein, ich kann nicht. Sire, dieser Grund muss dir genügen.»

Tjanzer seufzte. «Aber hier draußen bin ich doch wenigstens Tjanzer für dich?»

Sie lächelte kurz. «Sire Tjanzer. Zufrieden? Denn dein Status als Sire ist das Einzige, was uns auf dieser Reise helfen wird. Und du hast keine Waffen, keine richtigen jedenfalls.»

«Nein.» Er war geschockt. «Du meinst doch nicht etwas, es wird so schlimm?»

«Hoffentlich», flüsterte sie. «Sire Tjanzer, hoffentlich.»

 
Tjanzer hatte die Notwendigkeit eingesehen; zumindest heute hatte er die edle Sire-Uniform angezogen.

Als sie nach Culver kamen, da liefen die Zentauren auf die Straße. Es waren alles Blaue, fast alles noch Fohlen. Als der erste Erwachsene sie sah, erstarrte er. «Sire», verneigte er sich vor Tjanzer.

«Weite und Freiheit. Ich bin Sire Rodast(er) und das hier ist Tik(sie). Habt ihr einen Sprecher?»

«Ja, natürlich, ich glaube Febendrik ist gerade in der Mine. Ich werde ihn»

Tjanzer hielt den anderen Zentaur fest. «Es eilt nicht. Irgendwann wird er ja wieder herauskommen? Hast du gerade ein bisschen Zeit? Wie heißt du eigentlich?»

«Sire, ich bin Fiston(sie). Ich stehe zu deiner Verfügung.»

«Komm, steh auf, auf dieser staubigen Straße ist es wirklich nicht sehr bequem. » Tjanzer ging zu einer kleine Wiese herüber. «Wie geht es hier? Wie ist die Arbeit in den Minen?» Das war ganz schön direkt, aber Tjanzer wusste nicht recht, was er überhaupt sagen sollte.

«Sire, es geht. Aber Sire, die Arbeit in den Minen ist hart, aber besser fragst du dazu Febendrik. Ich bin nur ein Lehrer.»

«Ach deswegen sind die ganzen Fohlen hier. Und ich halte dich vom Unterricht ab. Bildung ist viel wichtiger als unser Gespräch, macht ruhig mit dem Unterricht weiter. Wir finden auch so zur Mine.»

«Sire, aber die Fohlen würden mir eh nicht mehr zuhören. Außerdem interessiert mich schon, was euch hierher verschlagen hat. Ein Sire und ein so stattlicher Zentaur in diesem kleinen unwichtigen Nest.»

Tjanzer lächelte. «Nun, vielleicht habt ihr hier auch die Geschichten von einigen Aufständen gehört. Auch haben wohl einige Zentauren sich wie falsche Sire aufgeführt, oder sogar Zentauren als Sklaven gehalten. Das kann natürlich nicht toleriert werden, deshalb haben die KIs Tik und mich losgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen.»

«Ah, sehr gut.» Dann erstarrte Fiston einen Moment. «Ich meine bei uns ist alles in Ordnung. Mein Urgroßopa hat mir mal vom letzten braunen Aufseher erzählt. Aber auch der hatte blaue Kinder und so ist alles hier schon lange unter uns aufgeteilt. Alle zwei Jahre wählen wir einen neuen Sprecher, alle gemeinsam.»

«Wirklich gut. Dann scheint ja hier alles bestens. Ich würde gerne mal die Mine von innen sehen, wenn das möglich wäre.»

«Ich weiß nicht.» Fiston schüttelte den Kopf. «Sire, du bist so groß und hier ist alles nur für Blaue. Aber vielleicht ein kleines Stück ... »

Tjanzer besuchte die Mine schließlich, bis zur ersten Kaverne jedenfalls. Er ließ sich zeigen, wie die Zentauren sich auf einen flachen Wagen legten, um dann in den engen Stollen zu arbeiten. Es war ihm unverständlich, dass jemand dies auf sich nehmen konnte. Doch hier taten sie es freiwillig, waren stolz darauf; und an Landwirtschaft war in dieser kargen Gegend kaum zu denken.

Tik kannte sich natürlich viel besser aus und ließ es sich nicht nehmen, einen der hydraulischen Bohrer selber auszuprobieren. Tjanzer war froh, als sie endlich wieder das Tageslicht sahen.

 
Die nächste Mine auf der Liste gab es bereits nicht mehr. Dem Zustand der wenigen Häuser nach zu urteilen, war der Ort schon lange verlassen. Jetzt lagen gut 300 Kilometer bis McDerwitt vor ihnen, der ersten großen Siedlung, wie ihnen Jackos Computer verriet. Immerhin führte der Weg durch Burns, da würden sie einen oder zwei Tage bleiben.

Es war fünf Tage seit Burns, als sie die blauen Berge überquerten, als sie von der Passhöhe in der Ferne eine eine Qualmwolke aufsteigen sahen, wie von einem fernen Vulkan. Doch je näher sie kamen, umso deutlicher wurde es: Die Rauchwolke war McDerwitt.

Es war schon ziemlich spät an diesem Tag und sie waren bis gut fünf Kilometer an McDerwitt heran. Doch es stank schon jetzt grauenvoll, nach Schwefel und heißem Metall. Tjanzer musste husten.

«Das Quecksilber wird aus Zinnober gewonnen, Quecksilbersulfit», erklärte Tik. «Quecksilber wird durch Verhüttung gewonnen. Dazu wird das Erz erhitzt, der Schwefel sozusagen verbrannt. Die Schwefeldämpfe, die dabei entstehen, sind giftig. Fast noch giftiger als die Quecksilberdämpfe, die auch dabei entstehen.»

«Weißt du eigentlich, wofür das Quecksilber gebraucht wird? Jacko hat es mit mal erzählt: Fast alles geht an die Bürger, die es als Treibstoff für die Korrekturtriebwerke der Energiesatelliten brauchen. Es stimmt wirklich», nickte Tjanzer ihr noch einmal zu, als sie ihn ungläubig ansah.

«Und das hier alles, damit die Bürger die Energiesatelliten betreiben. Grauenvoll.» Sie schüttelte sich.

Mehr brauchte sie nicht zu sagen, die tote Landschaft sprach Bände. Während sie vorher nur durch normale Wüste getrabt waren, so war dies hier eine absolut tote Landschaft. Und diese seltsamen, teils sogar grellen Farben ... Und wirklich keine Pflanzen, kein Tier mehr seit mehr weit und breit, nicht einmal ein niedriger Busch auf den Hügeln. Es war unglaublich, dass hier überhaupt noch jemand leben konnte.

Die über McDerwitt hängenden stinkenden grüngelben Wolken wurden schnell schwarz, als die Sonne hinter den westlichen Hügel verschwand. Tjanzer zögerte. «Lass uns etwas zurücktraben, bis der Gestank erträglich ist und dann dort noch ein letztes Mal rasten, bevor ... » Wortlos liefen sie im schwindenden Licht zurück.

Sie waren noch eine halbe Stunde im letzten Licht zurück nach Norden; doch nun war es zu dunkel, um weiter zu traben. Sie machten ein Feuer aus einigen toten Ästen, und Tjanzer holte Wasser aus dem Fluss, der nach McDerwitt führte. Sie aßen schweigend und sahen immer wieder nach McDerwitt. Die Wolke war auch im schachen Locht des neuen Mondes klar zu sehen; außerdem wurde sie vom Schein der Öfen und Hütten angestrahlt. Sie hing kränklich grün am Nachthimmel. Es war ein schaurig-schöner Anblick.

Ihr Atem kondensierte dagegen in schneeweißen im Mondlicht funkelden Wolken. Es war frostig kalt. Tjanzer nahm noch einen Schluck warmen Tees, dann legten sie sich hin.

 
Der Morgen war kalt, Reif war auf den wenigen hier noch lebenden Büschen und auf dem Boden. Doch es gab kein totes Holz für ein Feuer mehr, so tranken sie den eiskalten Tee und aßen ein trockenes hartes Brot aus Burns. Dann brachen sie auf, schritten langsam der dunklen Wolke mit griftgrünen Rändern entgegen.

«Tik, ich brauche deine Hilfe. Ich meine, ich habe keine Ahnung vom Bergbau, und dieser Ort ist so groß. Und so, so ekelerregend, ich, Tik, ich fürchte mich. Das ist ein schrecklicher Ort.»

«Sire, es leben Zentauren dort. Am Abend gehen wir mit etwas Glück wieder weg, aber die Zentauren dort, sie leben ihr ganzes Leben hier.»

«Tik, ich habe Angst, wenn ich dort hingehe, kippe ich um. Tik, deshalb versprich mir: Wenn ich dort im Dunst nicht weiter kann, bringst du alles zu Ende. Hier, ich schreibe dir eine offizielle Vollmacht.»

«Du redest wirr, Sire.» Sie wollte die Vollmacht nicht. Doch schließlich nahm sie sie an. Dann schritten sie nach McDerwitt.

Selbst die Straße wurde rissiger, sogar die Steine wurden von der ätzenden Luft angegriffen. Tjanzer musste stehen bleiben, bis er endlich aufhörte zu husten. Und obwohl es, wie fast immer über der Wüste, ein klarer Tag war, konnte man die Sonne durch die Rauchschwaden kaum mehr erahnen. Sie hatten schon drei Hütten passiert, als endlich ein Zentaur auf die Straße kam. Als er sie sah, sprang er sofort in die Tür zurück, aus der er gekommen war. Auf ihr Klopfen reagierte man dort nicht.

Sie gingen weiter, bis sie schließlich hinter einer Flussbrücke zu einer Wegkreuzung kamen. Fünf Zentauren standen dort um einen Wagen herum, drei sehr kleine Hellblaue und zwei kleinere Braune, so man dass bei dem Dreck hier sagen konnte. Die Braunen und ein Blauer hatten Tücher vor dem Mund, vielleicht gegen den Gestank. Wieder erstarrten die Blauen, und sahen zwischen den Braunen und Tjanzer und Tik hin und her. Da blicken auch die Braunen in ihre Richtung. Sie stellten sofort die Sachen ab und kamen zu ihnen.

«Ich bin Sire Rodast(er), dies ist Tik(sie), meine Gehilfin.»

«Sire», sagte der eine so langsam und gedehnt, dass es Tjanzer kalt den Rücken herunterlief. «Ich bin Ridlin(sie), mein Partner Ret(sie). Kommt!» Sie drehten sich um und liefen rasch voraus, so dass Tjanzer wieder tiefer einatmen musste und zu husten begann und zurückfiel. Es war klar, sie machten das absichtlich, um sie zu demütigen.

«Das sind falsche Sire, sie haben sich selbst R-Namen gegeben», raunte ihm Tik zu.

«Ich bin ja nicht» dumm und taub, wollte Tjanzer sagen, doch er begann sofort wieder zu husten.

Der Weg, den sie nahmen, führte glücklicherweise wieder aus McDerwitt heraus in ein Seitental. Es ging eine halbe Stunde bergauf, doch dann waren sie endlich aus dem Dunst heraus und die warme Luft eines Spätsommertages schmeichelte ihre geschundenen Lungen.

Als sich der Weg um den Berg herumwandte, und McDerwitt hinter der Bergflanke verschwand, sahen sie ihr Ziel. Es war ein großartiges Haus, fast eine Art Schloss, wie es sie im alten Europa gegeben hatte. Es war an die Bergflanke gebaut. Die Anlage bestand eigentlich aus fünf oder noch mehr Häusern mit Terrassengärten drumherum. Das hätten sie hier nicht erwartet, nach dem vielen Elend im Tal.

Sie trabten durch das Tor. Der Torbogen war aus Eisen, reich verziert. Es stand ,,Robin, Tom und Rary" über dem Tor in schwarzen Lettern, zusammen mit einigen Szenen aus Draht, deren Bedeutung Tjanzer nicht kannte. Doch Ridlin und Ret blieben nicht stehen, ihr Ziel war das größte Gebäude. Es war gut hundert Meter lang und bestimmt zehn Meter hoch. In der Mitte war der Eingang, dort hatte das Haus auch eine von Säulen gestützte Kuppel. Das Haus der Verwaltung Nordkaliforniens in Burns war vielleicht größer; aber dieses Gebäude war eindrucksvoller. Ein Stück kopiertes Europa, wie Tjanzer dank seines Vaters erkannte.

Drinnen war es genauso prunkvoll. Sie kamen sich elend vor, mit dem Dreck, der an ihnen klebte.

Ridlin und Ret waren in irgendwelchen Seitengängen verschwunden. Ein stattlicher hellgrauer Zentaur kam auf sie zu. Er deutete eine kurze Verbeugung an. «Sire Rodast, es ist uns eine Ehre, dich und Zentaur Tik zu empfangen. Ich möchte euch eure Quartiere und das Bad zeigen.»

Sie folgten den grauen Zentaur und waren immer wieder vom Schloss beeindruckt.

«Hier, dies ist euer Zimmer. Das Bad befindet sich hinter dieser Tür. Es wird ein Abendessen vorbereitet, würdet ihr bitte in einer Stunde fertig sein?»

Tjanzer, immer noch mit offenem Mund, nickte und wandte sich wieder dem Zimmer zu. Es war riesig, gut zwanzig mal zwanzig Meter. Fünf Meter über ihnen war eine reich bemalte Zimmerdecke. «Bei uns zu Hause war es nicht ganz so schön», meinte Tik zu Tjanzer schließlich, als die Tür geschlossen wurde. «Hallo, Sire?», fragte sie. Doch Tjanzer war abwesend, fuhr mit der Hand über die tiefblauen Vorhänge mit der goldenen Borte. Ganz ganz vorsichtig lief er durch das Zimmer, als erwartete er in der Mitte eine Wand. «Sire Rodast, Hallo? Was ist mir dir. Hast du noch nie ein Schloss gesehen?»

Tjanzer schüttelte den Kopf. «Nur auf Bildern. Aber ich wußte nicht, dass sie so groß sind.» Er starrte wieder an die Decke.

«Aber ich meine, wo bist du denn aufgewachsen, du bist doch ein Sire, ich, du»

«Unglaublich, wozu braucht man so riesige Räume?», fragte er Tik.

Sie sah ihn ungläubig an. «Sire, du hast.» Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Also fragte sie erneut: «Wo hast du denn gelebt?»

«Na in unserer Hütte.» Er musste lächeln. «Sie passt vermutlich ganz in dieses Zimmer.» Er verdrehte wieder den Kopf. «Allein der Gedanke, diese Wand auch nur von außen zu weißen, verursacht mir Alpträume. Da kommt man ja zu nichts anderem mehr, ist man nur noch Sklave des Hauses.»

Tik stand fassungslos da. «Du hast was? Du kannst doch nicht einfach ein Haus weißen.»

«Wieso, Tariff hatte keine Lust, Tariff ist das Äußere immer ziemlich gleichgültig. Aber die Hütte sah einfach schäbig aus, und Flicker war es auch egal, wer sollte es denn sonst machen. Jacko hatte schließlich genug an seinem Haus zu tun und»

«Du bist ein Sire!», sagte Tik. «Du kannst nicht einfach irgendeine Hütte weißen. Nicht mal deine eigene. Wo kämen wir dahin, wenn das alle Sire tun?»

Jetzt sah er nur noch zu Tik. «Tik, ich verstehe nicht, was ist denn schlimm daran, ein Haus zu weißen? Taron hatte Farbe übrig, und bevor sie fest wurde ... Ich kenne nur Sire Rigan, Tariff, meine zweite Mutter. Ich weiß nicht, was Sire sonst so tun. Tariff würde keine Hütte weißen, sie mag schäbige Sachen.»

Tik nickte, fing dann an zu weinen. Er versuchte sie zu trösten, doch sie wich zurück, wollte allein sein. Er konnte nichts tun, also ging er in das Badezimmer. Es war kleiner, vielleicht fünf mal drei Meter; so groß wie das Zimmer von Flicker und ihm in der Hütte. Der Boden und die Wände waren aus schwarzen Stein, spiegelnden Steinplatten, keine Fliesen wie bei Jacko. Es gab zwei große goldene Hähne. Probeweise drehte er einen leicht auf. Von überall spritze Wasser. Schnell drehte er ihn wieder zu und zog das staubige Hemd aus. Noch mal drehte er am Hahn. Ah, tat das gut. Nach einiger Zeit wurde das Wasser sogar angenehm kühl. Er seifte sich ab und blieb noch einmal bestimmt zehn Minuten in diesem Wasserschwall.

Er schüttelte sich, Tropfen sprangen durch den Badesaal und liefen die Wände herunter. Ohje, danach musste er wohl den Spiegel trocken wischen. Aber jetzt trocknete er sich erst mal ab und kämmte sich durch. Hah, tat das gut. Dann sah er sich diese komischen Flaschen auf dem Regal neben dem Spiegel an. Probeweise öffnete er eine.

«Arrg!» Beinahe hätte er die Flasche fallen gelassen. Schnell schloss er sie wieder.

Tik kam herein. «Sire, was ist passiert?»

Er deutete auf die Flaschen. «Ich weiß nicht, was das für ein scheußlicher Brauch ist. Sie haben Schweiß in diese Flaschen abgefüllt. Riech nicht daran!»

Tik musste lachen. Dann wurde sie wieder ernst. «Sire, du hast noch nie etwas von Parfüm gehört? Das benutzt man, um anders zu riechen.»

«Aber das stinkt nach Schweiß, er riecht genau wie ein Bündel von alten Hemden!»

Tik seufzte. «Sire Rodast, hör mir zu.» Sie senkte die Stimme und kam zu ihm. «Wir sind hier bei Zentauren, die sich wie Sire benehmen. Dazu gehört, dass sie wie Sire riechen wollen.» Sie unterbrach seinen Protest. «Lavendel ist nun mal der Geruch eines Sires. Fast jeder Zentaur empfindet das als angenehm. Sire Rodast, bitte versuch dich über nichts zu wundern. Du musst Haltung bewahren, ernst bleiben, sonst lachen sie nur über uns. Egal was passiert. Das ist die einzige Waffe, die wir haben. Vielleicht kommt sogar ein Zentaur mit gebleichten Haaren, wer weiß? Das ist alles unter deiner Würde. Zeig es!»

«Tik, ich verstehe es nicht. Ich meine, wozu braucht man all das?»

Sie verdrehte die Augen. «Sire Rodast. Ich glaube, ich werde dein Sprecher sein. Du schweigst am besten und lässt mich reden.» Da hatte sie noch eine Idee. «Sire, kannst du deinen Computer das Wappen des Geistes und dazu deines zeigen lassen?»

Tjanzer war erleichtert. «Ja, klar. Und ich finde wirklich, dass du reden solltest. Ich danke dir! Und das mit dem Computer ist kein Problem.» Nur mit Mühe konnte Tik ihn davon abbringen, das Bad aufzuwischen. Dann zog er sich zum dritten Mal auf dieser Reise das saubere Sire-Hemd mit seinem Wappen und dazu die Sire-Decke an.

Schließlich wurden sie abgeholt. Tjanzer lief immer hinter Tik her. Wenn sie vor ihm lief, dann hatte er keine Veranlassung mehr, die Pracht um ihn herum zu bestaunen. Zumindest fast, denn der Speisesaal war noch größer, als sich Tjanzer das vorgestellt hatte. Viel größer. Am Saalende brannten in zwei offenen Kaminen riesige Feuer. Schnell lief er hinter Tik her, die keinen Moment gezögert hatte.

Es war ein großer niedriger Tisch. Rechts und links lagen Teppiche und Felle. Bestimmt zwanzig Zentauren saßen an dem Tisch, sie standen auf, als er eintrat, so dass sich Tjanzer umdrehte. Doch hinter ihm war niemand. Es stank, wie in einer kalten Sauna. Er musste schlucken. Am Tischende blieb Tik stehen, ging in die Knie und zwinkerte ihm zu.

«Äh, ja, ich bin äh, Sire Rodast, ich danke euch für die Gastfreundschaft und das Bad», stotterte er. Tik schlug ihm unauffällig gegen den Vorderlauf. «Ja, dies ist Tik, mein Sprecher.» Dann ging er schnell zum Tisch und setzte sich.

Die anderen Zentauren setzten sich jetzt auch. Am Tisch begann ein Gemurmel. Auch Tik flüsterte ihm etwas zu. «Sehr gut, du hast keinen Zweifel gelassen, dass ein Sire am Tischende sitzen muss.»

Oh, hatte er also. «Wann gibt es zu essen?», fragte er zurück.

«Bald. Aber iss nichts außer dem Brot. Vielleicht wollen sie uns vergiften.» Einen kurzen Moment entgleisten seine Gesichtszüge. Mit Mühe fing er sich wieder. «Lass mich nur machen,», meinte Tik.

«Wir danken für die Mühe», begann Tik. Alle am Tisch verstummten. «Es freut uns, dass das Geschäft gut zu laufen scheint. Wie groß ist denn die Mine hier?»

«Sire, wir sind durch den Besuch geehrt. Mein Name ist Rhuon», antwortete ein hochgewachsener Zentaur am anderen Tischende. Er war Tik sehr ähnlich. «Es läuft nicht schlecht. Es ist Tagebau. Aber wir müssen immer tiefer, es wird immer schwieriger, das Wasser aus der Grube auszupumpen.»

«Das ist recht erfreulich. Wie steht es mit den Arbeitern? Ich meine, versuchen nicht eine Menge, von hier wegzuziehen?» Tik kam schnell zum Kern der Sache. Oha, ob das eine gute Idee war? Die Gesichter mancher schienen sich leicht zu verdunkeln. «Der Qualm im Tal ist doch recht ätzend?»

«Nun, wir zahlen gut», sagte Rhuon. «Und überdies haben einige Familien noch Schulden abzuzahlen. Wir vergeben Lizenzen für Claims. Einige erschöpfen sich manchmal recht bald, dann müssen sie die Schulden natürlich auf unseren Claims abarbeiten.»

«Wieviel Zentauren habt ihr denn auf euren Claims, und wieviel haben denn eigene?»

Rhuon war diese Frage sichtlich peinlich. «Ich weiß nicht genau, dazu muss ich nachsehen.»

Doch Tik wischte es mit einer Hand beiseite. «Wir waren nur neugierig. Weißt du, wieviel ein normaler Zentaur hier verdient?»

«Oh, ein Verwalter bis zu 700. Das geht nach der Größe und Ergiebigkeit des Claims.» Rhuon schien stolz auf diese Zahl zu sein. Tjanzer verstand schon länger nichts mehr, behielt aber ein ausdrucksloses Gesicht bei.

«Und ein normaler Arbeiter?»

«Ach so, ein Blauer. Ridlin, wieviel zahlen wir?»

«Hundertzwanzig bis 300 im Monat, Sire», antwortete dieser. Das Sire war eindeutig an Rhuon gerichtet.

Tik flüsterte Tjanzer etwas ins Ohr. Sie wiederholte es noch einmal. Tjanzer stand auf. «Das reicht, keiner darf heraus!», sagte Tjanzer laut. «Ich muss von jedem im Saal leider die ID verlangen, bitte!»

Tumult brach los. «Das Computerbild!», rief Tik ihm zu.

Tjanzer hielt den Computer vor sich und schaltete ihn an. Über dem Tisch rotierte riesenhaft die Projektion des Wappens des Geistes und auf der anderen Seite sein eigenes. Schlagartig war wieder Ruhe. Tik stand auf. «Sire Rodast möchte die ID sehen», sagte sie scharf. Dann fuhr sie freundlicher fort. «Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Ohne ID ist man doch schließlich ein niemand, darf noch nicht einmal Land besitzen.» Diese unverhüllte Drohung war wohl zu viel.

«Von euch Grünschnäbeln mit eurem teuren Spielzeug lasse ich mir nicht drohen», sagte Rhuon und ging auf sie zu.

Tjanzer sah kurz zu Tik. Doch auch sie hatte wohl Angst. Was würde wohl Jacko tun? Oder Tariff? Und wer könnte überhaupt etwas tun, wenn die falschen Sire nicht einmal einen echten Sire achteten? Natürlich! «Und von einer KI?», fragte Tjanzer ruhig.

Rhuon zögerte. «Bist du wirklich eine KI? Du bist doch viel zu klein? Los, ihr schweigt, wenn es eine KI ist, kann sie für sich selbst sprechen. Also, bist du eine KI?»

Der Computer antwortete. «Ja.»

«Das ist alles?», fragte Rhuon.

«Ja», sagte die Computerstimme. Und dann noch «Sire Rodast.» Tjanzer hob den Kopf, stolz schmiss er sein schneeweißes Haar nach hinten. Er holte Luft, verdammt, nichts hatte ihn je auf eine solche Situation vorbereitet. Doch Zweifel war gefährlich. Und Grünschnabel genannt zu werden, war eine Frechheit. Den Zorn als Hilfe ergreifend, richtete er sich auf. «Was glaubt ihr eigentlich, seid ihr?», schrie er. Daraufhin schwiegen die anderen. «Irgendwann werden die KIs jeden finden, der sich zu Unrecht etwas anmaßt. Keiner hier im Saal ist Sire, nicht einmal im Geiste. Das merkt man schon daran, dass es hier stinkt, als wären hier fünfzig seit vierzehn Tagen ungewaschene Sire anwesend. Also entweder zeigt ihr, was ihr besitzt, oder alles wird euch abgesprochen werden. Von der KI, richtig?»

«Ja!», antwortete der Computer.

«Ist in Ordnung», sagte Rhuon müde und setze sich wieder. Die anderen folgten ihm.

«Wir wollen alles sehen», fügte Tik hinzu. «Auch die Bücher und die Besitztitel.» Sie konnte kaum fassen, was passiert war. War wirklich eine KI in dem Computer? Wie konnte ihr denn soetwas verborgen geblieben sein?

 
Sie arbeiteten die ganze Nacht. Zuerst die Schuldbücher, angeblich waren sie gerade nicht auffindbar. Erst als Tik drohte, dann eben alle Schulden für nichtig zu erklären, tauchten sie plötzlich auf. Tjanzer saß neben ihr und sah sich die ID an. Nur zwei von ihnen hatten eine echte ID, und natürlich hatten sie auch keinen R-Namen. Da sie den beiden auch nicht vorgestellt gewesen waren, konnten sie nichts beweisen. Aber die Besitztitel waren eindeutig verfallen, da niemand sie auf eine neue ID hatte umschreiben gelassen. Lediglich einer der beiden mit ID hatte einen regulären Titel. Mit Freuden kassierte Tik die Titel ein und entwertete sie. Dann die Schuldbücher. Viele hatte alte Schulden, es waren oft illegal Schulden vererbt worden. Die Bücher leerten sich rasch. Die Zentauren mussten mit ansehen, wie ihr Vermögen zerfiel.

Die KI/der Computer gab selten, und dann auch nur auf direkte Fragen, kurze einsilbige Antworten. Ansonsten diktierte Tik und Tjanzer ihm Daten. Als es draußen wieder hell wurde, waren sie fertig. Sie konnten sich zwar kaum mehr auf den Beinen halten, aber sie bestanden darauf, sofort zu gehen. Am Tor konnte Tik nicht widerstehen zu Rhuon zu sagen: «Es steht dir frei, dir eine ID zu besorgen. Dann kannst du ja etwas Besitz erwerben von jemanden, der inzwischen seinen Anspruch darauf angemeldet hat.» Der ehemalige Sire Rhuon kochte vor Zorn, tänzelte drei Schritte auf sie zu.

«Es tut mir Leid, dass es so gekommen ist», sagte Tjanzer. «Es war jedoch alles euer Fehler. Warum habt ihr euch nicht um ID bemüht?» Er schüttelte seinen Kopf. «Seinen Besitz so zu vernachlässigen.» Dabei hatte er erst im Laufe der Nacht so richtig verstanden, worum es eigentlich ging.

Sie schritten erst stolz aus. Aber nach der Biegung galoppierten sie los, herunter in die einladenden, ätzenden Nebel von McDerwitt.

Am Fuße des Berges kamen ihnen eine Menge blauer Zentauren entgegen. Sie blieben stehen, als die Tjanzer und Tik sahen. «Ich bin Sire Rodast(er)», sagte Tjanzer mit neuem Selbstbewusstsein. «Das ist Tik(sie). Hört mal, wir haben euch etwas Wichtiges zu sagen: Rhuon und die anderen haben fast alles verloren, sie hatten falsche Namen, noch nicht einmal IDs und so auch keine gültigen Besitztitel. Außerdem ist das Vererben von Schulden illegal, alle geerbten Schulden sind somit nichtig. Demzufolge sind folgende Zentauren legitime Besitzer eines Claims, sofern sie eine ID besitzen.» Er las die Namen vom Computer ab. Fast keiner hatte eine ID.

Tik drückte ihm etwas in die Hand. «Das kann ID-Karten herstellen. Nur du kannst es bedienen, es reagiert auf keinen anderen», raunte sie ihm zu.

«Damit rückst du jetzt heraus?» Tjanzer war fassungslos.

«Nun, von der KI wusste ich auch nichts.»

Tjanzer lächelte. «Später»

In den nächsten Stunden gingen fast alle Öfen aus, denn jeder wollte Besitz und ID erwerben. Tik und Tjanzer saßen in einem Haus mitten im Ort, feuchte Tücher vor dem Mund, und verteilten IDs und Besitz, für jede ID genau einen zufälligen Claim. Am Nachmittag brach Tjanzer zusammen, musste kurz pausieren. Auch Tik taumelte neben ihm her, sie waren jetzt anderthalb Tage auf den Beinen, fast immer angespannt. Doch sie arbeiteten wie besessen, immer mit der Angst vor den falschen Sire vom Berg. Am späten Abend waren sie endlich fertig, Tjanzer hatte Schüttelfrost und Tik schrecklichen Durchfall. Doch sie schleppten sich zum Ortsausgang nach Westen in das nächste Tal, gegen die Hauptwindrichtung. Um keinen Preis wären noch länger sie in dieser Hölle geblieben.

Als sie am Abzweig vorbeikamen, wo die Straße zum Anwesen der falschen Sire abzweigte, da sahen sie dort zwei tote Zentauren in ihrem Blut liegen. Einer war Rhuon, der andere ein Blauer. So schnell sie noch konnten galoppierte Tjanzer zusammen mit Tik davon.

 
McDerwitt lag hinter und unter ihnen. Sie hatten geschlafen, zum ersten Mal wieder ruhig und ohne Husten. Es war der 24.8.3437. Sie aßen ihr letztes Brot im Trab, wohl wissend, dass sie bis zum Abend noch hundert Kilometer bis zur nächsten Ortschaft hatten.

«Tik, es war schrecklich. Alles.» Tjanzer schüttelte sich.

«Sire Tjanzer, glaubst du mir ging es viel besser? Vor fünf Jahren wäre ich Rhuon gewesen. Aber es ist doch fast gut gegangen, wir hatten Erfolg.» Da sah sie plötzlich auf. «Stellst du mich nun der KI vor?»

Tjanzer lächelte und holte den Computer heraus. «Hallo?» «Hallo» «Wer ist der schönste Zentaur weit und breit?» «Tik» «Und wer bist du?» «Sire Rodast.»

Und zu Tik gewandt: «Tik, sieh her, ich kann die Antworten steuern. Hier gibt es druckempfindliche Flächen, zwei sind immer mit ,,Ja" und ,,Nein" belegt. Auf einer anderen hatte ich meinen Namen. Und sie sind alle darauf reingefallen, sogar du. Stimmst?» «Ja», sprach der Computer. Und Tjanzer lachte, und nach einem Moment fiel Tik mit ein. Plötzlich wurde Tjanzer wieder ernst. «Weißt du, etwas anderes macht mir Sorgen. Du siehst diese Pfähle mit den Drähten? Das sind Telefonleitungen.»

«Ich kennen das Telefon. Du meinst, man wird uns ankündigen?»

«Ja. In so kurzer Zeit können sie sich doch kaum ID besorgen, oder? Aber sie könnten uns etwas vorspielen, ich meine, sie könnten ein Schuldbuch extra nur für uns schreiben. Und wir können das alles nicht nachweisen. Oder sie erzählen, dass es einen Brand gab und sie gerade neue Unterlagen holen. Und es könnte sogar stimmen. So ist unsere Mission sinnlos.»

«Wenn die falschen Sire sich nicht mehr Sire nennen, und die Blauen besser behandeln, dann war es doch schon so ein großer Erfolg.»

«Tik, Entschuldigung, aber glaubst du wirklich, nur weil sie uns etwas vorspielen, ändern sie sich wirklich? Die Zahl derjenigen, die ihre Fehler einsehen, ist doch in der Geschichte immer klein gewesen. Nein, wir brauchen eine bessere Idee. Das Beste wäre ein absolut vertrauenswürdiger Blauer.» Das Letzte hatte er mehr laut gedacht, doch Tiks Gesicht zeigte deutlich, was sie von der Idee hielt. «Ich werde Flicker anrufen. Computer, ich möchte Flicker van Klemt sprechen!»

«Es sind nur Notfallübertragungen aus diesem Gebiet möglich. Falls ein Notfall vorliegt, muss die ID-Nummer langsam gesprochen werden, gefolgt von der Gruppe Pan-Pan-Pan. Soll ein Notfall initiiert werden?»

«Nein, Abbruch.» Er seufzte. «Schade, ich habe eigentlich so lange nicht mehr mit ihm gesprochen.»

«Wer ist Flicker? Du kennst einen Blauen mit Telefon?» Tik verstand nicht.

«Du weißt scheinbar nichts von mir. Man hat dir gesagt, gehe zu Sire Rodast und gibt ihm den Brief. Richtig? Aber egal, ich kann es ja nachholen. Flicker ist mein Bruder, wir sind Zwillinge. Warte, das ist zu kurz. Ich werde dir alles erzählen.» Zu seiner Erzählung von Jacko, Tariff und Felo zeigte er immer wieder Bilder aus dem Computer. Sie schüttelte fast die ganze Zeit den Kopf. Dann war er fertig.

«Ich kann es kaum glauben. Hinter vorgehaltener Hand hatte man sich bei den KIs die Hälfte von dem erzählt, was du mir gerade erzählt hast, und selbst damals klang das einfach unglaubwürdig.»

Jetzt starrte Tjanzer sie überrascht an. «Die KIs haben nie die ganze Geschichte erzählt?»

«Natürlich nicht. Sonst hätten man vielleicht die Sire zu Teufel gejagt, deren Autorität wäre jedenfalls verloren. Das wäre Chaos, Umsturz. Ich verstehe jetzt allerdings nicht mehr, warum dich die KIs überhaupt losgeschickt haben.»

«Vielleicht ist ein Umsturz ja ihr Ziel. Scheiße!», fluchte er. «Jetzt bin ich Tariffs Warnungen zum Trotz in echte Politik geraten. Und ich fühle mich wie eine Spielfigur.» Tjanzer starrte still in die Ferne. «Da kommen welche angetrabt», bemerkte er nach einer ganzen Weile.

Tik sah auf, beschirmte die Augen. «Ja, tatsächlich, fünf Zentauren. Vier Blaue und ein Schwarzer, würde ich sagen. Sollen wir losgaloppieren oder uns verstecken?»

Tjanzer sah sich um, doch diese Frage brauchte nicht beantwortet werden. Hier gab es keinen Ort, wo sich ein weißer Zentaur verstecken konnte. Nur ein paar kopfgroße braune Felsen und einige trockene Dornenbüsche weiter oben. Was war das nur für eine Welt, wenn sie sich schon vor den wenigen Reisenden verstecken mussten?

Die Gruppe hatte sie natürlich längst gesehen; sie hielt schnurstracks auf sie zu. Es waren alles junge kräftige Zentauren.

Schnell waren sie bei Tik und Tjanzer. Sie gingen vor ihm in die Knie. Der Schwarze sprach zuerst: «Sire Rodast, wir sind aus McDerwitt und wollen uns euch anschließen und Zentauren befreien.»

«Warst du nicht selber ein Aufseher?»

«Ja, ich wurde Rera(sie) genannt. Einen richtigen Namen habe ich nicht. Aber ich sehe meine Fehler ein.»

«Nun, du bekommst von mir eine ID. Trera, einverstanden?»

Sie nickte heftig. «Jeder Name, den du willst, Sire!»

«Nun, du musst mit diesem Namen leben. Also Trera.» Zusammen mit Tik produzierten sie eine ID für ehemals Rera, jetzt Trera.

«So hier, verliere sie nicht. Aber überlegt noch mal, ob ihr wirklich mitkommen wollt. Es könnte gefährlich werden.» Er sah das Glitzern in ihren Augen. «Ok, ich hoffe, ihr habt genug zu essen dabei.»


 
Flicker sah den ehemaligen Nachtzentauren Frunje an. Nach zwei Monaten ließen die Entzugserscheinungen endlich nach. Am Anfang war es besonders schlimm gewesen; sie mussten Frunje fesseln und fast die ganze Zeit betäubt lassen. Nach zwei Tagen fiel er dann für einen halben Monat in eine Art Entzugskoma. In dem Maße, wie seine Hautfarbe von schwarz zu hellgrau wechselte, wurde auch seine Stimmung besser und die Folgen des Entzugs weniger.

Die ganze Zeit über befand sich Frunje im Haus der van Klemts, es war einfach viel größer, als Tariffs Hütte. Nur Tom und Flicker schliefen bei Tariff. Wahrscheinlich hatte Tariff nur andere Gesellschaft und neue Geschichten gefehlt; vielleicht war es auch der endlich beginnende Sommer; jedenfalls blühte Tariff auf. Sie machten alle zusammen lange Ausflüge und einmal blieb Tariff mit Felo für zwei Wochen weg, etwas was er früher nie getan hätte.

 
«Also Flicker, noch irgendwelche Fragen?»

Flicker schüttelte den Kopf. «Schöne Ferien, euch.»

«Macht's gut. Wir sind in drei Wochen wieder da!» Raissa umarmte sie und lieft dann auf dem Steg zu Jacko, der schon im Wasserflugzeug saß. Sie winkten und verriegelten dann die Kabine. Das Flugzeug wendete und hob schließlich ab. Wir gern wäre Flicker mitgeflogen; aber für diese zerbrechliche Flugzeuge war er viel zu schwer und zu groß. Das Flugzeug mit Jacko und Raissa verschwand schließlich. Die van Klemts würden jetzt drei Wochen Ferien machen, besser gesagt drei Wochen Nordamerika erkunden.

«Flicker?»

«Was ist, Frunje?»

«Jetzt wo ich deine Eltern kenne, erzählst du mir noch mal, wie dein Vater Felo und Tariff kennengelernt hat?»

«Aber nicht sofort. Komm, wir richten dich für den Besuch von Athur und 117 her.»

Frunje folgte Flicker auf die Terrasse. Dann holte Flicker Schere und Kamm und begann Frunjes Haar zu schneiden. Frunje wurde noch ansehnlicher. Irgendwie wirkte er recht menschlich, sein Unterleib war sehr schlank, er war nicht viel größer als Jacko, kaum zwei Meter. Er war viel schwächer als Flicker, aber dafür viel ausdauernder. Auch wenn er die weiten Strecken unter Drogeneinfluss gelaufen war; sein Körper war davon trotzdem gut trainiert. Und aus dem Fohlen wurde langsam Frunje(er). Zum Geburtstag, so hatten die anderen Zentaur heimlich beschlossen, würden sie Frunje einen neuen Namen geben; einen T-Namen.

Schließlich war alles gerichtet, das Haus aufgeräumt. Flicker und Frunje hatten sich gegenseitig die Mähnen geflochten und das Fell ausgekämmt. Jetzt standen sie am Fahnenmast und zogen die Europaflagge auf, die den Besuch der KI signalisieren sollte. Alles war vorbereitet, und so standen sie mit dem Blick auf das Meer. Der stärker werdende Wind spielte in ihren Mähnen.


 
Jennifer hatte ein schlechtes Gewissen. Über zwei Monate hatte sie sich nicht mehr bei Jacko und Raissa sehen lassen; und als dann gestern Masoud sagte, dass sie angerufen hatten und sie heute verreisen würden, da fasste sie endgültig den Beschluss, sie zu besuchen. Masoud hatte dafür -- wie immer -- nur ein Kopfschütteln üblich. So schlimm, wie er tat, waren die Zentauren wirklich nicht. Im Gegenteil, sie waren immer nett und aufgeschlossen, fast unbekümmert. Und anders als die Bürger hatten sie den Umgang miteinander nicht verlernt; im Gegenteil, die Zentauren liebten Besuch.

Die gute Jasmine kannte den Weg auswendig und langsam setzte ihre sechs Hufe voreinander, immer um ihren Passagier besorgt. Seit sie die Zentauren kannte, hatte sich Jennifer auch viel mehr um ihre beiden Pferde gekümmert. Die Pferde hatten es ihr gedankt: Wenn sie jetzt in den Stall kam, dann drängten sich Joe und Jasmine, wie Jacko sie getauft hatte, dann drängten sie sich ihr förmlich auf.

Von weitem sah sie schon schwedische Europafahne am weißen Mast wehen, noch bevor sie das rote Holzhaus überhaupt sah. So hatte Schweden ausgesehen, ein ganzes Land voller Klippen und roter Holzhäuser? Ganz konnte sich Jennifer das nicht vorstellen, aber es war gewiss eine Idee, die Jacko und Raissa gefallen hätte.

Sie stieg ab und nahm Jasmine den Sattel ab. Dann lief sie um das Haus herum und stellte den Sattel an die Hauswand. Das Haus war leer. Als sie wieder herauskam, standen Jasmine, Flicker und ein unbekannter Zentaur vor der Tür.

«Jennifer! Du hast ja gar nicht angerufen! Hallo», sagte Flicker und lief auf sie zu.

Jennifer war ebenso überrascht. «Flicker, was machst du denn hier? Ich denke, die Fahne sagt, dass eine KI kommen kann?» Sie umarmten sich.

«Ach Jennifer, wir erwarten auch eine KI. Weißt du, ich bin jetzt ein richtiger Bürger, mit allen Dokumenten und so. Ach ja, und das hier ist Frunje, unser Gast, ein ehemaliger Nachtzentaur.»

Flicker schob Frunje zu Jennifer. «Hallo, ich bin Jennifer(sie)», radebrechte sie.

«Ich heiße Frunje», sagte Frunje ganz langsam und deutlich. Seine Stimme war ganz anders als die Flickers, nicht so tief und eher sanft. Zögernd machte es einen Schritt auf Jennifer zu, dann drückte es sie plötzlich an sich und umarmte sie fest, und fing an zu weinen.

Sie fuhr durch seine weiche Mähne. «Nana, was ist denn, mein Kleiner?», sagte sie, natürlich auf Englisch. Frunje verstand zwar nicht, aber trotzdem begann es auf Zentaurisch zu reden. Jennifer hörte zu ohne viel zu verstehen.


 
Das nächste Ziel von Tjanzer, Tik und ihrer Gemeinschaft lag südlich des Magnetic-Korridores. Sie unterquerten die Stelzen, um schnell wieder auf Zentaurengebiet zu verschwinden. Nicht das hier viel los war, doch Tik fühlte sich nicht sehr wohl auf fremdem Territorium und steckte damit Tjanzer und die anderen Zentauren in der Gruppe an.

Fast zehn Tagen waren sie nun auf kleinen Pfaden unterwegs, vor vier Tagen hatten sie den letzten Zentaur gesehen. Sie waren jetzt kurz vor Eureka. Sie rochen bereits den Gestank nach Metall und Rauch, aber sie lagerten noch im Tal davor. Es war kalt geworden, nachts in den Bergen, und so saßen sie vorm Lagerfeuer, ihre Flanken dem Feuer zugewandt.

«Sire Tjanzer, ich habe Angst. Lass mich alleine heruntergehen. Wenn sie dich auch nur sehen, werden sie vielleicht panisch.»

«Tik, bitte, nenn mich doch endlich nur Tjanzer.»

«Sire, du weißt, warum ich es nicht tun kann?»

«Ja.» seufzte er. «Aber Kopf hoch, vielleicht ist hier ja alles in bester Ordnung.»

«Nein, ist es nicht!», sagte sie mit aller Sicherheit. «Wenn sie dann merken, dass wirklich dieser junge Sire zu ihnen kommt, wer weiß, was sie dann tun. Ich habe Angst, echte Angst.»

«Sie werden uns schon nicht umbringen.»

«Doch!», sagte sie voller Bestimmtheit. «Ich habe ein Gefühl. Erst werden sie uns trennen, dann hast du einen Unfall, oder du wirst schwerkrank, Bleivergiftung oder so, und dann können sie machen, was sie wollen. Lass mich gehen. Alleine. Du bist viel zu wertvoll ... »

Erregt war er aufgesprungen. «Wertvoll? Wer ist hier wertvoll? Alle sind gleich wertvoll und du bist mir viel mehr wert als jeder andere Zentaur. Ich liebe dich, ich kann nicht anderes. Und du bist nicht nur schön, sondern auch noch klug, gewandt und gebildet. Ich würde mir nie vergeben, dich zu verlieren. Nein, wenn schon, dann gehe ich alleine dort hinunter.»

Auch Tik war jetzt auf den Beinen: «Du hast ja gar keine Ahnung. Du --»

«Ich habe keine Ahnung? Ich bin also unwissend? Du weißt, was kommt? Nein, wir gehen zusammen dort hinunter, es sei denn, du willst hierbleiben.»

Der Rest sah sie an, wie sie sich kampfbereit gegenüberstanden und langsam entspannten. Flig gähnte. «Zentauren, es ist spät, schlaft. Morgen haben wir neue Ideen.»

«Na gut» Tjanzer entspannte sich. «Ich werde die erste Wache halten. Los legt euch hin, wir sollten noch einmal ausschlafen.»

 
Nach einer Stunde schlief auch der letzte der Gefährten fest.

Tjanzer nahm aus dem erloschenem Feuer mehrere Kohlestücke. Methodisch rieb es sich damit ein, bis er fleckig-grau war. Weder Haare noch Mähne ließ er aus. Dazu zog er ein zerlumptes Hemd von Flig an. Dann ließ er die Gefährten hinter sich zurück und lief, so leise er konnte, die Straße nach Eureka herunter.

Selbst nachts wurde dort heftig gearbeitet, die Berge waren vom rötlichen Schein der Öfen der Raffinerien beleuchtet. Über der Stadt lag beißender Rauch, so dass es von oben aussah, als tauche man in einen Kratersee mit rotglühender Lava. Tjanzer folgte dem Strom der Zentauren mit den leeren Körben. Es ging vorbei an wackligen Hütten, glühenden Essen, Lagerhäuser und einer Reihe anderer Gebäude, deren Bestimmung er in dem düsteren Smog nicht erkennen konnte. Endlich stand er am Rand eines gigantischen Loches in der Erde: Der Tagebau von Eureka. An dem Hang gab es einen breiten spiralförmig gewundenen Weg in die Tiefe, von einigen Scheinwerfern in größeren Abständen schwach beleuchtet. Ein paar Zentauren hatten scheinbar Stirnlampen, jedenfalls bewegten sich ein paar Lichtpunkte auf dem Weg. Der Boden schien endlos weit weg zu sein, fast als würde der Weg bis in die tiefsten Tiefen der Erde führen.

Staunend und zitternd blieb er am Rand stehen und beobachtete die Zentauren, die von hier wie emsige Armeisen wirkten. Es kam ihm ein Gemälde in den Sinn, das ihm Raissa einmal gezeigt hatte: Es hatte ,,der jüngste Tag" geheißen. Darauf war das Ende der Welt als ein riesiger schwarzer Schlund dargestellt gewesen, der die Menschen, unten nur noch glühende Punkte, verschlang. Ja, ein riesiger umgedrehter Ameisenhaufen, und zugleich der Zugang zur Hölle. Er verfolgte die Zentaurenströme zurück bis zu der Stelle, wo sie an ihm vorbei in die Tiefe abbogen.

«He, du da! Komm her!», rief ein Zentaur, der auf der anderen Seite des stetigen Zentaurenstromes stand. «Was stehst du da?»

«Sire Zentaur», begann er. «Ich möchte gerne arbeiten.»

«Dann tue es doch.» Doch Tjanzer rührte sich natürlich nicht. «Du bist du neu?»

«Sire, ich bin erst heute in der Stadt angekommen», versuchte Tjanzer mehr aus dem Zentaur herauszubekommen.

«Ach so. Hast du eine ID?»

Tjanzer reichte ihm eine ID, auf der er als Tjanzer firmierte.

«Fellfarbe weißlich. Hey, das stand auch mal bei mir. Obwohl du ja mehr gräulich aussiehst. So, dort drüben liegt ein Arbeitsgeschirr. Wenn du vier.» Der Zentaur sah auf die Uhr. «Naja, drei Fuhren gemacht hast, das wird so gegen acht Uhr morgens sein, dann melde dich noch einmal bei mir. Ich zeige dir dann dein Quartier, und wo du zu essen bekommen kannst. Ich bin Rid(sie).» Als sie sah, wie Tjanzer das Geschirr mit den Körben in der Hand hielt, kam sie zu ihm herüber. «Warte, ich helfe dir das Geschirr anzulegen.» Sie drückte kurz seine Wade. «Ganz schön hart mein Kleiner. Also, melde dich am Morgen bei mir. Und schön die Gurte festziehen. Hier, die gibt das dem Vorarbeiter dort beim ersten Erz abladen. Die Marke, die du dann bekommst, musst du dir umhängen, hier zwischen die Vorderbeine, damit jeder Vorarbeiter sehen kann, wer da gerade Erz abliefert. Ansonsten lauf der Reihe dort hinterher.» Das Geschirr war für kleinere Zentauren gemacht, Rid musste neue Löcher bohren.

Er folgte eilig den anderen nach unten. Sein Vordermann war so groß wie ein Blauer, aber er war ein Schimmel (wenn es keine Dreckflecken waren). Und er war erstaunlich kräftig, Flicker war bestimmt nicht stärker. Ganz unten in der Grube schaufelten andere Zentauren Erz in die Körbe der wartenden Zentauren. Wenn man genug hatte, wurde einfach losgelaufen.

Er hatte sich für seine erste Fuhre zu viel aufgeladen. Er biss die Zähne zusammen und folgte seinem Vordermann, der deutlich mehr in den Körben hatte. Der sich spiralförmig nach oben windende Weg wurde nur in hundert Meter Abständen spärlich beleuchtet. Es dauerte mehrere Erdzeitalter, bis er keuchend nach anderthalb Stunden den oberen Rand erreichte.

In der feuchten kühlen Nacht blies jeder lange Dampfwolken in die Luft. Doch außer dem Keuchen aus vielen Lungen, dem Klappern und Scharren von Hufen, dem Knarren der Leder- und Plastikgeschirre und einem vereinzelten Fluch war keine Stimme zu hören; keiner sprach oder sang sogar noch. Oben angekommen machten die anderen nicht etwa Pause sondern liefen schneller.

Einen Moment dachte er daran sich hinzusetzen. Doch dann wäre er bestimmt nicht mehr auf alle Viere gekommen. Also schleppte er sich weiter, durch den staubigen und leider auch vollgeschissenen Weg. Denn es gab hier keine Stelle, wo man zivilisiert aufs Klo gehen konnte. Es ging einen endlosen Kilometer zurück nach Eureka. Schließlich blieben sie stehen. Nur alle halbe Minute ging es etwas weiter. Gleich darauf sah er auch warum: Jeder Zentaur stellte sich auf ein Gestell und ging dort auf eine schmale Brücke. Dann wurde die Unterseite der Korbtaschen geöffnet. Das Erz fiel in einen großen Trichter, wo es gewogen wurde. Am Abgang wurde dann die Nummer der Marke aufgeschrieben und man bekam einen Zettel und einen halben Laib Brot.

Als er an der Reihe war, da fiel er fast vom Balken, als das Erz aus den Körben polterte. Danach es war fast wie schweben, als er wieder herunterkam. Der Zentaur brüllte ihn an, vielleicht war er sauer, weil es ein Neuer war, und er eine neue Marke ausstellen musste. Die würde erst beim nächsten Mal fertig sein, weitergehen!

Fast wäre er losgaloppiert. Aber die anderen liefen exakt das gleiche Tempo wie zuvor. Es war eine Art meditieren im Gehen. Doch als er zum dritten Mal die gleiche Strecke lief, da war auch er halb hinweg gedämmert. Erst als er strauchelte und nur mit äußerster Kraftanstrengung ein Einknicken verhindern konnte, konzentrierte er sich wieder auf den Weg. Aber er hatte sich den Knöchel gezerrt, jeder Tritt tat nun weh. Zum Glück war es die letzte Fuhre und dort vorne war schon die Verladestation.

Müde trat er auf den Balken. Fast schon routiniert glich er die Stöße der unregelmäßig aus den Körben rutschenden Erzbrocken aus. Schnell machte er dem Nächsten platz, nahm den Zettel vom Vorarbeiter und ging seinem Vordermann hinterher, in exakt den Tempo, in dem es in die Grube und wieder hinaus ging.

«Hallo, du!», flüsterte er schließlich. «Ich bin Tjanzer(er). Heute angekommen. Kannst du mir sagen, wo man hier schlafen kann?»

Der andere blieb stehen und drehte sich langsam um. Er war nicht größer als Tjanzer, aber fast doppelt so stark. «Ich bin Tjitis(er). Wieviel hast du denn heute geschafft, Kleiner?» Er nahm Tjanzer den Zettel aus der Hand. «Na, das gibt doch ein gutes Abendbrot. Alle Achtung. Komm mit, Kleiner.»

Tjanzer war viel zu müde, um gegen die Anrede ,,Kleiner" zu protestieren. Folgsam trottete er Tjitis hinterher, dorthin wo er für seinen Zettel Essen bekam. Für seine drei Fuhren bekam er ein ganz anständiges Essen. Tjitis erzählte ein bisschen von sich: er war nur ein halbes Jahr älter als Tjanzer.

Der Rest von Tjanzers Karte reichte auch noch für einen Schlafplatz in dem Massenquartier, wo auch Tjitis über den Tag schlief, denn die Nachtschichten brachten mehr Geld. Zuletzt sah sich Tjitis noch den Hinterlauf an und bandagierte dann alle vier Fußgelenke dick ein, während Tjanzer schon fest schlief.

 
Als er am Abend von Tjitis geweckt wurde, dachte Tjanzer zuerst, es wäre mit ihm zu Ende gegangen. Er wollte nicht aufstehen. Seine Beinmuskeln waren hart, bei jedem Schritt tat ihm praktisch alles weh. Tjitis besah ihn sich.

«Nur ein guter Muskelkater. Dagegen hilft etwas Arbeit», meinte er. «Aber zeig' mal deine Hufe!»

Gehorsam hob Tjanzer einen Hinterhuf, verzog dabei aber das Gesicht.

«Hey, Kleiner, du hast ja noch nie Eisen getragen!» Ehrliche Verblüffung war auf Tjitis Gesicht. «Wenn du mehr als eine Woche hier mit uns arbeiten willst, dann hast du deine Hufe abgelaufen. Los, jetzt lassen wir dich beschlagen. Ich werde es für dich auslegen. Wenn du viel Geld hast, dann kannst du dir ja zwei Paar Hufschuhe leisten. Aber Eisen werden es erst einmal tun.»

Er führte Tjanzer weg von der Grube, hin zu den größeren Häusern von Eureka. Mit jedem Schritt ließ der Muskelkater etwas nach; oder er gewöhnte sich an den Schmerz, es war einerlei. Ganz am Ortseingang war die Schmiede. Tjitis sprach kurz mit dem Schmied, während Tjanzer im Stehen einnickte.

Ein Klaps von Tjits weckte ihn wieder. Verdammt, er benahm sich wirklich wie ein halbes Kind.

Die Schmiede interessierte ihn. Der Schmied war ein hochgewachsener Gefleckter. Sein Gehilfe war ein junger Schwarzer, kaum älter als Tjitis oder er selbst. Der Schwarze nahm den rechten Hinterhuf hoch und presste ihn an seine Vorderhüfte. «Wenn du jetzt ausschlägst, dann hast du sofort meine Hufe in der Magengegend», drohte der Gehilfe Tjanzer.

<Wie soll ich denn ausschlagen?>, dachte Tjanzer. Denn den anderen Hinterhuf konnte er ja nicht heben, ohne den, den der Gehilfe hielt, zu befreien. Doch scheinbar war es häufiger vorgekommen, denn der Gehilfe hielt seinen Huf wie in einem Schraubstock. Inzwischen suchte der Schmied geeignete Rohlinge.

Tjanzer stand etwas wacklig auf den drei Beinen. Noch dazu spürte er bei jeder Korrekturbewegung wieder den Muskelkater.

Der Schmied hatte jetzt die passenden Rohlinge gefunden. «Ich muss jetzt den Huf etwas zurechtfeilen und -beiteln. Die meisten sagen, dass kitzelt etwas. Aber man weiß nie, wie es sich genau anfühlt. Sag' Bescheid, wenn es dir wehtun sollte», warnte der Schmied.

Tjanzer balancierte wacker und fühlte sich wie bei seinem ersten und einzigen Zahnarztbesuch. Es kitzelte wirklich. Doch natürlich begann der Hinterlauf zu zucken, so sehr Tjanzer das auch zu unterdrücken suchte. Und damit taten natürlich auch die Muskeln wieder weh. Er biss die Lippen zusammen. Schweiß stand auf seiner Stirn.

«Na super, dass war schon alles», sagte der Schmied. «Jetzt werde ich das Eisen zurechtmachen, damit es genau deine Hufform hat. Du kannst zusehen, wenn du willst, aber komm bitte mit dem Huf nicht mehr auf den Boden.»

Damit ließ der Gehilfe los. Tjanzer widerstand nur mit Mühe dem Drang, sich sofort wieder auf alle Viere zu stellen. Vorsichtig hinkte er zur Esse.

Die Kohlen glühten weißlich, als der Gehilfe den großen Blasebalg betätigte. Routiniert bearbeitete der Schmied das Eisen. Ein Mal hielt er es zu Probe auch an Tjanzers Huf. Es stank schrecklich nach verbranntem Fell, obwohl Tjanzer nichts gespürt hatte und auch nichts verkohlt schien. Es hatte wohl seine Richtigkeit.

Dann endlich war das Eisen fertig. Der Schmied tauchte es in das Fass mit dem kalten Wasser. Dann kam der große Moment: Das Eisen wurde an Tjanzers Huf festgenagelt. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Tjanzer spürte den Ruck von jedem Schlag, doch sonst nichts. Der Schmied erzählte ihm noch, wieviel Nägel und anderes, um Tjanzer abzulenken. Dann ließ der Geselle los.

Der Huf war deutlich zu schwer und auch zu lang. Er stand jetzt schief. Aber sofort war ja der andere Hinterhuf dran. Und bei den Vorderhufen konnte sich Tjanzer so verdrehen, dass er mitbekam, wie die Eisen festgenagelt wurden. Es war ein eigenartiges Gefühl.

Seine ersten Schritte vollständig auf Hufeisen waren seltsam. Nichts stimmte: Die Hufe waren zu schwer und klagen so anders. Und er spürte deutlich den Zentimeter Höhenunterschied. Immerhin hatte er den Muskelkater so fast vergessen.

Heute Nacht war seine erste volle Schicht, fünf Fuhren Erz. Er folgte die ganze Zeit Tjitis, doch die Menge, die Tjitis schleppte, war für Tjanzer viel zu viel.

 
Die Zeit verging irgendwann nicht mehr. Es war wie in Trance. Kurz unterbrochen von den Pausen beim Auf- und Abladen, beim Trinken und Brot essen zog er zusammen mit den vielen anderen Zentauren hier in den Schlund, wie sie die Grube nannten.

Morgens nach der Schicht erzählte Tjitis beim Essen immer ein bisschen von seiner Familie. Sie lebte in den Bergen. Er war das vierte Kind, mehr als sie dort in der kargen Gegend ernähren konnten. Und natürlich auch zwei mehr, als sie eigentlich haben durften, dachte Tjanzer bei sich. Tjitis erzählte und erzählte, während Tjanzer fast mechanisch kaute und mit Mühe seinen Kopf waagerecht hielt. Er merkte kaum, wie Tjitis ihm zwei Pillen in die Hand drückte.

«Hey, die sind teuer. Aber die wirken, machen dich stark. Siehst du, vor einem halben Jahr sah ich auch noch so aus wie du!»

«Danke», murmelte Tjanzer noch. «Morgen bezahle aber ich.»


 
Flig wachte als Erster auf. Es dämmerte bereits. Sofort war er hellwach. Das Wachfeuer war verglommen, alle schliefen. Nur Tjanzer fehlte, aber seine Sache waren noch da. Er weckte die anderen, doch schnell war klar, dass Tjanzer nicht hier in der Gegend war.

In dem ersten Durcheinander hatten sie auch alle Spuren gründlich verwischt und zertrampelt, so auf diesem Fels überhaupt Spuren blieben. Schließlich hielten sie beim Frühstück Rat.

Tik war klar, dass Tjanzer nach Eureka gegangen war. Sie wollte so schnell es ging hinterher, doch die anderen hielten sie zurück. Sie diskutierten lange, ob sie nur einen Spion herunterschicken sollten oder ob sie alle herunter sollten und dafür das Risiko eingingen, für die bestimmt angekündigten Prüfer gehalten zu werden. Da hielt es Tik nicht mehr aus und so sprang auf und galoppierte durch den Nachmittag auf Eureka zu.

Tik blickte von einem Berge auf den riesigen Schlund von Eureka und sah auf die Massen herunter. Wie sollte sie hier Tjanzer finden? Dann hörte sie Hufgetrappel und die anderen traten neben sie, staunten sprachlos. Wieder ging die Sonne unter. Ihr Entschluss stand fest: Morgen würden sie in Eureka anfangen zu suchen.

Doch ihre Suche war erfolglos. Sie sahen keine Spur von Tjanzer, der einzige echte Sire weit und breit war wirklich ein Sire, Rid hieß sie. Sich bei ihr zu erkundigen, das wäre nun wirklich zu auffällig gewesen. Zumal hier scheinbar jeder nur seinen Vordermann in den Schlangen der Zentauren kannte. Nach drei Tagen Arbeit in der Grube hatten sie genug -- sie zogen zum südlichen Ende von Eureka und warteten. Nur einer von ihnen würde immer dort unten als ihr Spion arbeiten.


 
Jennifer war zusammen mit Frunje an der Klippe am Steg hinter dem Haus der van Klemts. Frunje lag auf den Boden, den Kopf auf ihren Schoß gelegt und ließ sich streicheln. Jennifers Computer lag daneben. Gerade versank die Sonne im Meer. Nur zwei kleine Wolkenfetzen waren am Horizont. So ging es fast seit drei Tagen. Jennifer schien das Fohlen Frunje ins Herz geschlossen zu haben.

Flicker wartete noch, bis es stockdunkel war und es draußen klamm wurde. «Jennifer, Frunje, der Tee wird kalt!», rief sie.

Tom und Flicker saßen schon und kauten die zweite Stulle, als die beiden endlich hereinkamen. «Es tut mir Leid, dass wir zu spät kommen. Aber ich wollte Frunje unbedingt noch vom Mond und den Menschen auf dem Mond erzählen.»

«Wie geht das eigentlich?», fragte Tom ganz neugierig.

Jennifer zuckte mit den Achseln. «Wir müssen halt dieser Computerkarte vertrauen. Mein Zentaurisch ist dafür zu schlecht.»

«Jennifer, heute will ich dir eine andere Geschichte erzählen. Toms Geschichte.» Und Flicker begann zu erzählen, von der Ausbeutung und dem Versuch der Rebellion. Jennifer hörte sehr interessiert zu. Oft fragte sie nach selbstverständlichen oder scheinbar unbedeutenden Einzelheiten. Als Flicker ihre Erzählung beendet hatte, dachte sie einen Moment nach.

«Was war das vorhin für ein Wort, Sezession?», versuchte Flicker die Stille zu brechen.

«Ach, vor langer Zeit hatten auch Menschen, andere Menschen als Sklaven. Welche mit dunkler Hautfarbe. Das war mehr als 300 Jahre vor dem Kometen.»

Natürlich wollten sie alles darüber wissen. Der Abend reichte nicht aus, doch Jennifer hatte ein interessiertes Publikum gefunden, und so setzten sie den Geschichtsunterricht am nächsten Tage fort. Sie gingen vorwärts und rückwärts durch die Geschichte. Flicker wollte alles über die Revolutionen, die Sklaverei und Leibeigenschaft wissen. Jennifer war begeistert. Sie brach auf, um aus ihrer Bibliothek Bücher und andere Ausdrucke zu besorgen. Jetzt bedauerte sie es, dass Masoud immer noch keine Zentauren auf seinem, ihrem Gebiet duldete.


Aufruhr

Flicker stand oben auf dem Turm des Marktplatzes von Burns -- Zentaurenverwaltungssitz Nordkaliforniens. Neben ihr standen noch Tom, Frunje und der uralte Tjorrgo. Noch standen sie so weit hinten, dass man sie von unten nicht sehen konnte.

Flicker scharrte unbewusst mit dem linken Vorderhuf. Nicht nur, dass sie hier viel zu hoch waren, jedenfalls nach dem Maßstäben vernünftiger Zentauren. Nein, da unten waren bestimmt tausend Zentauren, die dann alle ihr zuhören sollten. Zumindest war das ja ihr Ziel. Flicker las noch einmal den Text der von Tom vorbereiteten Rede durch. Sehr langsam.

Da begann das Glockenspiel. Flicker zitterte am ganzen Leibe; und nicht wegen dem ohrenbetäubenden Lärm. Da kam der Schlussakkord. Tom und Frunje trugen das große Transparent, eine bestimmt zehn Meter lange Stofffahne, nach vorne und warfen das untere Ende über die Brüstung. Die Fahne entrollte sich wie beabsichtigt, und jeder Zentaur konnte darauf lesen: «Sire wählen!» Darunter war noch ein Logo: Es zeigte je einen weißen, einen blauen und einen braunen Zentaur unter einem Regenbogen. Darüber waren drei goldenen Sterne zu sehen. Das Logo hatte Tom gemalt, und auch die Worte waren von ihm. Sie hatten sich lange um einen kurzen griffigen Spruch gestritten: ,,Weg mit den Sire!", war zu kriegerisch. ,,Freiheit für Zentauren" unpassend, ,,Sire = Aristokratie" unverständlich, ,,Zentaurenregierung frei wählen" zu lang für das Transparent und ...

Flickers Überlegungen wurden von einem Schlag auf ihren Hintern jäh unterbrochen. Reflexartig machte sie drei Schritte nach vorne, bis an die Brüstung. Tom und Frunje traten neben sie. Wie vereinbart brüllten sie: «Viel Land und Frieden!»

Der Lärm der vielen Zentauren dort unten verstummte nahezu sofort. Selbst die Händler traten unter ihren aufgespannten Planen hervor, um dieses ungeheuerliche Ereignis zu sehen.

Flicker zögerte immer noch. Da rief Tom herunter: «Sire Rhean(sie) will euch etwas erzählen.»

Flicker war so wütend, dass sie sich vergaß. «Ich bin Flicker(sie)», rief sie. «Mein Vater war ein Bürger.» Das Gemurmel unten wurde noch lauter. «Und ich bin Handelszentaur. Ich bin weit herumgekommen. Es ist das Naturell der Zentauren, nach Weite und Freiheit zu streben. Und wirklich, jeder Zipfel, der nicht von Bürgern in Anspruch genommen wurden, gehört uns. Vor tausend Jahren hatte man uns ausgelacht, als die Zentauren die ersten Schiffe bauten! Und heute gibt es fast keine Bürgerschiffe mehr, die Weltmeere gehören uns. Danach haben die Bürger nicht mehr gelacht. Sie hatten uns damals die Raumfahrt verboten, festgeschrieben in der Weltcharta von 1056, benannt nach dem Menschenjahr 3211.

Und was tun unsere Sire? Anstatt sich für uns einzusetzen, verhindern sie alle Aktivitäten, ich erinnere nur an die Zerstörung der Rakete Tjirkantos von hundertfünfzig Jahren. Sie sagen, dass die Raumfahrt von Zentauren Krieg mit den Bürger bedeuten würde. und wenn es stimmen würde? Einen Krieg mit Bürgern hieße heute, einen Krieg mit den KIs zu führen. Und auch KIs können rechnen: Es gibt vierhunderttausend Menschen und eine Million KIs in Nordamerika. Dem stehen wir, fast hundert Millionen Zentauren gegenüber. Niemand würde einen solchen Krieg beginnen. Das wissen die Sire, oder sollten es wissen. Wieso verhindern sie dann unsere Weltraumfahrt? Warum sollen wir nicht auch Kommunikation und Strom aus dem All bekommen?

Nicht nur das, die Sire tun auch nichts gegen die neue Sklaverei, Zentauren als Sklaven von Zentauren. Die Sire tun auch nichts, um den blauen Zentauren, die sich ja nicht freiwillig für ein blaues Fell entschieden haben, zu helfen, um sie den normalen Zentauren gleichzustellen. Statt dessen sollen wir glauben, die Sire wären etwas besseres, weil sie weiß sind. Vielleicht war es zu den Zeiten des Kometen noch so, dass die weißen bessere Gene hatten; aber jetzt sind sie nur noch ein Haufen erbkranker Zentaur, deren größte Angst es ist, einen nichtweißen Nachkommen zu haben.

Nein, von den jetzigen Sire haben wir nichts. Die Sire müssen gewählt werden. Sie müssen sich unser Vertrauen verdienen, oder sie müssen gehen. Wir werden die Sire aufrütteln. Morgen ziehen wir los. Wer bleibt zurück?»

Dann trat Flicker zurück zu den andern. Ihre Hufe schlugen laut auf den Bretterboden, so leise war es. Das einzige Geräusch kam noch vom Knacken der Turmuhr. Dann begann das Gemurmel, bis es zu einem Brausen anlief. Sie zitterte schrecklich. Die anderen nickten ihr zu. Doch würden sie heil wieder von dem Turm herunter kommen?

Auf der Ebene unter der Uhr warteten schon einige Rotjacken. Aber sie waren unschlüssig. Schließlich war Flicker ein weißer Zentaur. Ein Sire ruft gegen die Sire auf, das war für sie unvorstellbar. (Hätten sie bessere Geschichtskenntnisse gehabt, dann wäre ihnen die Revolte von 714 eingefallen. Damals strebte der übergangene Sire Trius an die Macht, er verlor jedoch.)

Schließlich trat ihr Anführer hervor. «Sire, äh, ich glaube, äh, das war verboten.»

Tjorrgo sprach als Erster. «Jeder Zentaur darf doch sich selbst beleidigen. Und ihr seht es doch selbst: Dies ist Sire Rhean, die sogar der dritte Sire werden sollte.» (Was selbstverständlich nicht ganz der Wahrheit entsprach; aber als Handelszentaur gehörte auch eine freiere Wahrheitsauslegung zur Grundausrüstung.)

Die Rotjacken scharrten mit den Hufen. Dann hatte sich der Anführer ein Herz gefasst. «Sire, wenn Sire es uns bitte befehlen würdest ... »

Flicker zuckte mit den Achseln. Sie hasste es zwar, aber wenn es half, missbrauchte sie ihr weißes Fell eben: Sie befahl den Rückzug.


 
Es war Mitte November, Tjanzer hatte jetzt seit einem Monat Nachtschichten gemacht. Die Arbeit forderte viel; er hatte sogar verdrängt, wieso er eigentlich hierher gekommen war. Die Arbeit zählte und auch das Geld: Es gab ein Gefühl von Wichtigkeit, etwas das ihn wirklich über den gewöhnlichen, dummen Zentaur in den Bergen erhob. Natürlich war er längst schuldenfrei.

Das Zeugs, das Tjitis ihm am ersten Tag gegeben hatte, half tatsächlich. Die zwei Pillen jeden Abend hatten geholfen, die Last, die er jetzt mit jeder Fuhre hochtrug, zu verdoppeln. Dann kam der schwarze Tag: Zuerst vertrat sich Tjitis und konnte nicht weiter. Ein Arzt diagnostizierte einen Bänderriss. «Das kommt von diesen verdammten Kraftdrogen», schimpfte er. «Da hält der Rest nicht mehr mit den Muskeln mit. Kein Zentaur sollte je eine halbe Tonne schleppen!»

Auf drei Beinen hinkte Tjitis schweigend und mit schmerzverzerrtem Gesicht dem Arzt hinterher. Tjanzer ging jetzt langsam weiter. Immer wieder ließ der falsche Vordermann ihn aus seiner Arbeitstrance schrecken. Je öfter ihn so ein Schreck durchfuhr, umso erschöpfter fühlte er sich. Er beschloss, heute Nacht einmal weniger in den Schlund zu steigen.

Endlich kam die letzte Fuhre der heutigen Nacht. Müde ging er auf den Balken und hielt sich so fest er konnte. Da polterte aus den Körben schon das Erz. Doch ein Brocken wurde scheinbar so unglücklich abgelenkt, dass dieser seinen rechten Hinterlauf traf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Schmerz endlich sein Gehirn erreicht hatte. Es gab aber Wichtigeres zu tun, so musste er wieder von der Bühne herunter, ohne dabei in die Grube zu dem Erz zu stürzen.

Tjanzer murmelte etwas und hinkte dann mit dem gleichen Tempo wie die anderen auch wieder automatisch zum Schlund von Eureka. Jetzt, wo der Tag anbrach, war der Schlund nicht mehr schwarz sondern grau. Dafür konnte man durch den ganzen Staub und Dreck kaum mehr den Boden erahnen, den des Nachts die Lichter noch deutlich markiert hatten.

Dann strauchelte er und fiel einfach um.


 
Rid stand einen Moment am Abhang auf einen Zaun gestützt und sah die armen Schweine dort unten arbeiten. Da bemerkte sie aus den Augenwinkeln einen Zentaur außerhalb der Reihen wanken. Und der Vorarbeiter war mal wieder nirgendwo zu sehen.

Sie ging auf den Zentaur zu, als dieser einfach umfiel, auf die leeren Körbe. Schnell war sie neben ihm, griff nach der Marke. ,,Tjanzer" irgendwie kannte sie den Namen. Da fiel ihr die Nacht vor ein paar Wochen ein, als dieser Zentaur zu ihr kam, um zu arbeiten. Sie hatte ihn kleiner in Erinnerung. Aber trotz des Drecks und der Striemen und des Gestanks nach dem Kot auf den Wegen war er immer noch schön, sie konnte sich gut daran erinnern.

Sie hob sein Gesicht an. Da erwachte er. «Sire?»

«Komm mit, ich bringe dich zu Arzt.»

Sie war nicht sicher, ob er überhaupt verstand. Sie half ihm, auf alle Viere zu kommen. Dann ging sie vorsichtig los.

Tjanzer versuchte ihrem Tempo zu folgen, doch sie war zu schnell. Er konnte einfach nicht mehr schneller als das Tempo an der Grube laufen. Es war, als wären alle anderen Gangarten ausgelöscht.

Sie drehte sich um und sah ihn zurückbleiben. «Komm, ich stütze dich.»

Müde und hinkend zog sich Tjanzer fast nur mit den Vorderfüßen voran, heftig auf die Sire gestützt. Der gerade anbrechende Morgen verlieh ihm noch ganz wenig neue Kraft. «Ich kann nicht mehr. Sire», stammelte er.

«Komm, in meine Hütte dort. Noch hundert Meter.»

Kaum war er in der Hütte, da brach Tjanzer auf dem Boden zusammen.

Rid drehte das Licht an, und erschrak. Das gesamte Fell des rechten Hinterlaufs war dick blutig. Aber an die Wunde selbst kam sie nicht recht heran, er lag auf der rechten Seite. Aus der Wunde tropfte noch immer Blut auf den Boden. Hätte sie das am Rand gesehen, hätte sie ihn bestimmt nicht hierher gebracht. Sie versuchte, Tjanzer zu wecken. «He, du, Tjanzer, los, du musst aufwachen!»

Sie rüttelte ihn, doch Tjanzer schlief fest. Sie lockerte die Gurte des Geschirrs und machte einen Pressverband um den verletzen Hinterlauf, ohne die Wunde richtig zu sehen. Dann hob sie ihn an, so gut sie konnte und schob den Korb den Geschirrs, auf dem Tjanzer lag, unter ihm hervor. Mit einem Lappen versuchte sie ihn trockenzuwischen. Dann legte sie ihm die Decke über, die den Körben zur Dämpfung gedient hatte.

Sie stand auf, sah auf ihn herunter. Warum machte sie das alles für einen unbekannten, jungen Zentaur? Da fiel ihr der Geruch auf. Wie konnte sie vorher so blind gewesen sein. Schnell holte sie einen nassen Lappen und wusch an einer Stelle das Fell, bis es weiß war. Natürlich. Wer war dieser Zentaur wirklich? Sie war unschlüssig, was sie jetzt tun sollte, roch immer wieder an dem Lappen: Lavendel, ganz intensiv, der Geruch eines Sires.

Na gut, der neue Tag würde sicher Antworten bringen. So müde, wie sie war, ...

 
Tjanzer erwachte stöhnend. Er versuchte aufzustehen, schrie aber vor Schmerzen. Sofort kam Rid aus dem Nachbarzimmer angelaufen. Tjanzer war tatsächlich wieder weggedämmert. Es musste der Blutverlust sein. Der dumme Idiot, wie lange war er denn so herumgelaufen! Und warum hatte sie, verdammt noch mal, immer noch keinen Arzt geholt! Aber wenn er es bis jetzt ausgehalten hatte, dann würde er auch den Rest überleben. Zuerst würde sie ihn waschen.

Sie hatte noch etwas lauwarmes Wasser. Das kippte sie eimerweise über Tjanzer und schrubbte ihn. Tjanzer brabbelte dazu unverständliche Worte. Als sie anfing, ihn einzuseifen, da wurde ihr Verdacht vom Vortag Gewissheit. Endlich war sie fertig und sah einen ganz und gar schneeweißen, nach Lavendel duftenden Zentaur vor sich liegen.

«He, Tjanzer, oder wie auch immer die heißt, du musst bitte aufwachen.» Sie rüttelte ihn.

«Müde. Hunger», murmelte er.

Sie rüttelte ihn wieder. «He, sieh mich an. Wie heißt du?»

«Tjanzer», murmelte er. «van Klemt», setzte er noch fast unhörbar hinterher. «Schlafen»

Sie versuchte nun, ihn auf ihr Bett zu hieven. Ein wenig schien er zu kooperieren. Kaum war er sicher auf dem Bett fiel sein Kopf auf die Lehne, er stöhnte. Rid bereite inzwischen eine dicke Brühe.

«Hier deine Suppe!», rief sie und hielt Tjanzer den Teller hin.

Dieser erwachte sogar, vielleicht vom Geruch der Suppe. Sie fütterte ihn Löffel für Löffel. Mit jedem Löffel schien er wieder mehr zu Kräften zu kommen. Sie holte einen zweiten Becher.

«Rid, du bist wirklich ein Sire?», fragte er plötzlich, so dass sie fast die Kelle fallen ließ.

«Ja, mein Vater war Sire Raldron. Weißt du 1232 gab es Krach mit Sire Rigan, als Rigan die Triade der Sire verlassen wollte. Da ist Raldron hinter Rigan her. Unterwegs hatte er wohl fast mit jeder geschlafen, die wollte. Meine Mutter war braun, doch das einzige, was ich von ihr geerbt habe, ist der Thymiangeruch. Aber man hat mich trotzdem zum Sire gemacht. Wenn du willst, dann erzähle ich dir die ganze Geschichte vom Streit damals, obwohl sie»

«Nein», sagte er schwach, «kenne ich auswendig.»

Fast hätte sie den Becher fallen gelassen, in die sie eben den Tee kippen wollte. Auswendig! Das Ganze war eigentlich ein riesiges Geheimnis. Sie war wütend, was wurde hier gespielt? «Dann erzähl doch endlich deine eigene. Verdammt, hältst du mich für blöd? Als du hier völlig fertig hereinkamst, völlig verschwitzt, glaubst du, irgendjemand hätte nicht den Lavendelgeruch eines reinrassigen Sires bemerkt? Du stankst ja fast zehn Meter gegen den Wind. Und warum hast du das alles getan? Und warum nennst du dich Tjanzer? Und du hast eine gültige ID, wie --»

«Verrat mich nicht!», flüsterte Tjanzer.

Jetzt zerschellte wirklich die Tasse auf dem Boden, die sie eben noch in der Hand gehalten hatte. Sie verstand nichts mehr. Einen Sire verraten? «Warum verdammt? Dein Bein muss genäht werden. Das wird sonst eine schreckliche Narbe geben.»

«Nein, nicht. Lass mich, bitte.» Er sah fast verängstigt aus und zitterte.

Sie schüttelte den Kopf, rührte noch einmal um und füllte einen zweiten Becher für Tjanzer. Nach dem vierten Becher schlief er wieder ein und war nicht mehr zu wecken. Na gut, wenn er es wollte. Laut der ID war er ja volljährig. Trotzdem, diese Wunde und das geschwollene Gelenk, die mussten dringend behandelt werden. Sie legte noch etwas Brot bereit und ging dann wieder hinaus.

 
Das letzte Licht der untergehenden Sonne blendete Rid. So früh war sie seit Wochen nicht mehr wach gewesen. Sie ging zu zum Kiltoan, dort würde sie sich nach ein paar Gerüchten umhören. Vielleicht hatte man ja dort ein paar gute Ideen.

«Was würdet ihr von einem Sire halten, der heimlich mit falscher ID durch die Gegend zieht?», fragte sie in die Runde.

Triastos sah sie groß an. «Das ist lächerlich! Wie soll denn das gehen?»

Aber die ruhige Rugis antwortete stattdessen: «Es gibt zwei Gerüchte. Das interessantere ist die Geschichte von einem Sire, der aus dem All gekommen sein soll. Im Frühjahr tauchte dieser hier bei uns in Kalifornien auf und verschwand dann im Norden. Man spricht davon, dass dieser eher wie ein Blauer aussah, andere erzählen, dieser Sire könne die Fellfarbe nach Belieben wechseln.»

Rid beschloss, den Bogen weiter zu spannen: «Aber warum sollte der Sire das heimlich tun? Und außerdem ist er wohl sehr jung.»

«Kennst du ihn?», fragte Triastos staunend.

«Blödsinn, jeder weiß, dass die Zentauren auf der Erde in einem Genlabor entstanden sind. Es gibt keine Zentauren im All.»

Rugis nickte. «Genau. Das zweite Gerücht heißt, es würde ein Prüfer durch das Land reisen, um die Versklavung von Zentauren endgültig zu beenden.»

Da wurde Rid plötzlich sehr nachdenklich. «Vielleicht kannst du mir helfen, Rugis. Hast du einen Moment Zeit?»

 
Der Arzt stand neben Tjanzer und begutachtete die Wunde. «Sie hat sich geschlossen und sieht nicht zu dreckig aus. Ich denke nicht, dass man eine erneute Öffnung riskieren sollte. Es wird so oder so eine hässliche Narbe geben. Der Kleine ist doch auch so hübsch genug. Noch eine Woche ruhen, dann ist er wieder wohlauf. Salzreiches Essen könnte helfen, er hat viel Blut verloren. Hier sind ein paar Blutbildner und ein paar Eisenpillen. Zweimal täglich. Und haltet ihn von Kraftdrogen fern, davon hat er schon zuviel genommen, wie es aussieht.» Damit zwinkerte er Rid zu, die ihn nur grimmig ansah. Hastig verabschiedete sich der Arzt.

Rid stand jetzt allein mit Rugis um Tjanzer herum. «Er ist wirklich nicht hässlich», sagte Rugis. «Aber ich verstehe nicht, wieso er nicht als Sire erkannt werden wollte. Ein reinrassiger Sire ist er auf jeden Fall. Eher sogar noch als du.»

«Und er kannte die Geschichte von Raldron auswendig, wie er sagte.»

Sie schüttelten beide die Köpfe.

«Ich denke, wir sagen besser nichts», meinte Rugis nach langem Schweigen.


 
Die Wind peitschte den Regen vor sich her. Es war ein trüber Novembernachmittag. Flicker war durchweicht; sie fror. Doch die Geräusche von 680 Hufen hinter und neben ihr waren ein mächtiger Antrieb. Und eigentlich war das Wetter ideal; die Gefahr, jetzt auf einen Bürger zu treffen war klein. Und bei diesem ungemütlichen Wetter lief auch keiner freiwillig langsam.

Wieder versicherte sie sich mit einem Blick bei Frunje und Tom, die neben ihr liefen. Auf der Spitze des letzten Hügel vor Portland warteten sie kurz, bis alle da waren. «Also, wir werden gleich dort zur Magnetic-Station gehen. Da ist eine Menge Beton und andere Bürgerbauten, denke ich. Wir sind als Gäste gekommen, deswegen bitte ich euch, alles sowenig dreckig wie möglich zu machen. Also geht jetzt noch mal auf's Klo. Und wir sollten so leise wie möglich hintraben, äh. Und wenn wir einen Bürger sehen, dann sind wir freundlich zu ihm. Ihr könnt ihn auch zu mir schicken. Sagt ,,Please, go there!" und zeigt in die Richtung. Gut, dann los und keine Angst.»

Das war natürlich leicht gesagt; doch selbst Flicker war unsicher, was sie erwarten würde. Langsam näherten sie sich von Süden dem fünf mal fünf Meter großen Betonquader, der das einzige sichtbare Zeichen der Station war. Als sie vorsichtig um diesen herum lief, kam ihr ein Bürger entgegen. Flicker erstarrte.

«Bürger Flicker van Klemt?», fragte der Bürger auf Englisch.

Flicker nickte.

«Eine schönen Guten Abend. Ich bin KI 27, oder auch Jesaja. Ich begrüße euch alle auf meiner Station. Die Station liegt unter der Erde, ihr müsst den Fahrstuhl benutzen. Ist euch das vertraut?»

«Fahrstuhl?»

«Vertraut mir einfach. Ihr müsst nur in diesen Stahlkasten gehen, der fährt euch dann unter die Erde, wo die Züge sind. Ist das ausreichend als Erklärung?»

Flicker nickte wieder und übersetzte es den anderen. Da meldete sich Tom. «Ich kenn' das, ich werde als Erster gehen, und du als Letzter. Frage die KI, wieviel auf einmal hineinpassen?»

«Elf, vom Gewicht her. Das ist aber sehr eng.», antworte Jesaja auf Englisch.

Flicker nickte dankbar und rief nach hinten: «Ok, wir können nur in kleinen Gruppen nach unten, die ersten wird Tom begleiten. Los, zehn zu Tom!»

Zehn mutige Zentauren traten vor. Ganz langsam und natürlich ging Tom in den Fahrstuhl, die anderen folgten ihm zögernd. Als alle drinnen waren, schlossen sich die Türen. Die Zentauren draußen wurden unruhig. Doch Flicker beruhigte sie. Wenn sie schließlich in das All wollten, dann durfte eine Fahrstuhltür wohl kein Hindernis darstellen. Nach zwei Minuten war Tom wieder da. Flicker drängte die nächsten Zehn in den Fahrstuhl. Von da an ging alles glatt.

Endlich waren die letzten an der Reihe. Als alle drinnen waren, begann Tom sie vorzubereiten; er leierte es mittlerweile fast herunter, schließlich war es das 18 Mal. «Also, gleich scheint der Boden nachzugeben. Das ist nichts Gefährliches, dieser Fahrstuhl ist ein Stahlkasten, der an einem Seil aufgehängt ist und gleich 120 Meter unter die Erde heruntergelassen wird. Wie ein Eimer in einem Brunnen. Und los geht's.» Er drückte einen Knopf.

Trotz der Warnung schrien sie auf. Aber es war eher Überraschung denn Angst. Kurz darauf war es vorbei, dann ein Gefühl wie beim Aufkommen nach einem Sprung. Flicker musste lächeln. Dann öffnete sich die Tür und es verschlug ihr den Atem. Sie waren in einer sehr hohen Halle, bestimmt fünf Meter hoch. Es war angenehm warm und hell. Alle zusammen füllten sie fast die Halle. An der rechten Seite war ein sehr langer Magnetic. So nah hatte Flicker ihn noch nie gesehen.

Die KI Jesaja kam mit dem leeren Fahrstuhl nach ihnen. «Euer Ziel ist Dallas, das ist die nächstliegende Station zum Zielort und dauert ungefähr vier Stunden. Ihr müsst euch alle in diesen Zug zwängen, in diese Station passt leider kein größerer Zug. Oder ihr teilt euch und wartet acht Stunden auf den nächsten Zug.»

Gerade merkte Flicker, wie sie unruhig mit dem Huf scharrte und stellte ihn sofort wieder fest auf den Boden. «Nein, wir werden den schon nehmen. Was sollen wir jetzt genau tun?»

Jesaja lächelte. «Nun, einsteigen. Die Wagen sind für Arbeiter, wenn ihr verzeiht, und haben deswegen nur Stehplätze. 800 Menschen passen gerade so herein, vielleicht geht es. Steigt ein, und dann geht es los.» Die KI drehte sich zum Zug, worauf sich sowohl die Glastüren der Station wie auch die Türen des Zuges nahezu lautlos öffneten. Alle Zentaur drehten ihre Köpfe dorthin.

Flicker schloss die Augen und dachte an die Erzählungen von Jacko. Nein, Ruhe bewahren und sich keine Verwunderung anmerken lassen, sagte sie sich. Also forderte sie die anderen auf einzusteigen und ging dann langsam auf die nächste Tür zu, so langsam dass auch ein halbtoter Zentaur noch hätte mithalten könnte. Sie bückte sich und trat ein, setzte sich dann auf Vorder- und Hinterbeine an ein Fenster. Andere folgten, bis schließlich keiner mehr auf dem Bahnsteig war. Es war gar nicht so eng, wie sie nach der Rede von Jesaja befürchtet hatte. Als alle es sich irgendwie bequem gemacht hatten, ertönte ein gedämpfter Gong. Eine Stimme sprach dann dazu in bestem Zentaurisch: «Willkommen an Bord von Zug 421. Bitte Vorsicht, die Türen werden jetzt geschlossen. Das Reiseziel ist Dallas, die voraussichtliche Ankunftszeit ist 19 Uhr 23. Bitte Vorsicht, wir fahren ab.»

Wieder war es ein Gefühl wie im Fahrstuhl, nur nach vorne. Flicker jauchzte, auch andere lachten. Daran konnte man sich gewöhnen. Viel zu schnell war es vorbei. Auf dem Display neben dem Fenster war eine Karte zu sehen, und ein blinkender Punkt symbolisierte den Zug. Daneben stand 200 m/s.

Zuerst war es draußen dunkel. Doch nach fünf Minuten wurde es heller, als der Magnetic aus dem Tunnel auftauchte. Selbst in dem schwachen Tageslicht konnte Flicker durch die regennassen Scheiben ihr wahnsinniges Tempo erkennen. Es war wie ein Rausch. Alle drängten sich vor die Scheiben, auf die ein wild gewordener Regen pladderte.

Bald änderte sich auch das Wetter, der Regen hörte auf und nach einer Stunde sahen sie endlose Ebenen und Wälder vom aufgehenden Vollmond beschienen. Von Zeit zu Zeit tauchten sie wieder in Tunnel ein und durchrasten eine Station. Bei diesem Tempo sah draußen irgendwie alles gleich aus, und so war es überraschend, als sich plötzlich wieder die Stimme in Zentaurisch meldete: «Es ist 19h21, wir erreichen in zwei Minuten das ehemaligen Forth Worth bei Dallas. Es ist wolkenlos, die Außentemperatur beträgt 292 Kelvin, Tiefsttemperatur ist voraussichtlich 279 Kelvin. Ich hoffe, es hat euch gefallen.» Die Zentauren johlten und bedankten sich so. Dann bremste der Zug auch schon.

 
Solange sie noch auf Menschenland waren, musste Flicker noch ein Gespräch führen. Sie ging etwas abseits, als müsste sie auf Klo und holte dann die Computerkarte heraus. «Flicker van Klemt für KI 14, Athur Turner.»

Nur wenige Sekunden später schwebte Athurs Hologramm über der Karte. «Seid gegrüßt, Flicker van Klemt.»

«Athur, ich brauche ganz schnell die ID einer der desertierten KI.» Doch Athurs Gesicht war erstarrt. Dann ertönte ein kurzer Pieps und direkt auf der Karte konnte er lesen ,,1671". Gleichzeitig bewegte sich wieder Athurs Bild. «Tut mir Leid, diese Information ist klassifiziert. Über eine Funkleitung darf diese Information nicht übermittelt werden. Wenn ich sonst zu Diensten sein kann?»

«Danke Athur, ich hatte es eh erwartet.» Sie lächelte Athur zu.

«Eine hervorragenden restlichen Tag wünsche ich», lächelte Athur zurück, als die Leitung wieder getrennt wurde.

In der Dunkelheit legten sie zwischen die wenigen Häusern von Dallas und sich noch einige weitere Kilometer, bis sie endlich pausierten. Der Regen hatte aufgehört und im Osten dämmerte schon der neue Tag.


 
Rugis und Rid hielten abwechselnd bei dem weißen Sire namens Tjanzer Wache. Dieser schlief zwei Tage. Von Zeit zu Zeit rief er Namen, Tariff und Tik, Flicker und Felo, die Namen von Blauen und manchmal sogar Jacko: kein normaler Zentaur hieß so. Besonders wenn er Jacko gerufen hatte, redete er danach in einer unbekannten Sprache. Dann redete er bestes Zentaurisch. Einmal verstanden sie sogar den Satz: ,,Jacko, hast du im All nur Sterne gesehen?" In diesen Momenten zweifelten sie daran, dass die Zentauren tatsächlich aus einem Genlabor stammten.

Endlich ging das Fieber zurück. Am Abend des dritten Tages, Rugis war mit der Wache dran, erwachte Tjanzer. Er öffnete einfach nur die Augen und sah sich um. Rugis gähnte gerade.

«Wo ist der Sire, wie hieß sie gleich?», fragte er.

Rugis verharrte mit halboffenem Mund. Was war das für eine seltsame Frage nach dem Aufwachen? «Rid ist unterwegs, arbeiten», sagte sie. «Ich bin Sire Rugis»

«Du bist doch gar kein Sire!», entgegnete er.

Rugis zuckte mit den Schultern. Dass sie braun war, konnte jeder sehen. Der Zentaur dort sollte freundlich und dankbar sein. «Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt, aber hier wird jeder Vorarbeiter mit Sire angesprochen.»

«Und wie würdest du mich also ansprechen?»

Jetzt wand sich Rugis. «Äh Sire, natürlich. Obwohl du doch Tjanzer heißt, aber, äh, und »

«Aber ich bin kein Vorarbeiter. Du würdest mich Sire ansprechen, weil ich weiß bin? Ich soll dich Sire ansprechen, weil du Vorarbeiter bist? Da stimmt doch etwas nicht. So war das nicht vorgesehen. Gut, ich bin kein Sire, und du bist keiner. Wie heißt du richtig?»

Rugis war verunsichert. Verdammt, da wachte ein völlig geschwächter, gerade volljähriger, weißer Zentaur auf, und als allererstes machte der sie verbal fertig. «Willst du nicht erst einmal etwas essen?»

«Danke, gern», sagte Tjanzer, der jetzt wieder den Kopf hängen ließ. Doch Rugis hatte sich schon zum Herd umgedreht und schürte das Feuer. Da öffnete sich die Tür und Rid trat herein. Sofort sah sie, dass Tjanzer wach war.

Sie trat zu ihm. «Na, geht es dir wieder besser? Dann hätten wir gerne ein paar Antworten. Wie heißt du richtig?»

«Ich heiße Tjanzer, und sie dort heißt Rugis, oder irre ich mich?»

Rugis flüsterte Rid eine Warnung ins Ohr. Dann wandte sich Rugis wieder dem Herd zu, spitzte nur die Ohren. «Also gut, Tjanzer.» Rid sprach dieser Wort äußerst gedehnt, fast höhnisch. «Du kommst also aus dem All?»

Jetzt war es an Tjanzer, verdutzt dreinzusehen. «Ich, wie kommst du denn darauf?»

«Du hast im Schlaf davon geredet, und manchmal auch in einer unbekannten Sprache.»

«Du meinst, wie jetzt. Mit dieser Holzfällersprache der Bürger. Nun, ist meine zweite Muttersprache. Und ihr dummen Zentauren versteht wirklich kein Wort! Das meint ihr doch? Nun, dass war Englisch, ich bin schließlich Handelszentaur. Und unser Nachbar war ein Mensch, der hat mir und meinem Bruder Flicker immer vom All erzählt, der war nämlich dort.» Erst in diesem Moment merkte er, wie zweideutig das ,,der" eigentlich war.

Das Gesicht von Rid veränderte sich stetig. Von Verwunderung, Staunen, Ärger und zurück. Endlich hatte sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen. «Na gut, lassen wir deinen Herkunft einen Moment beiseite. Warum bist du hier?»

«Nun, ich wollte arbeiten. Daran besteht doch kaum Zweifel, oder? Und ich habe mehr als 300 verdient, falls die nicht mit den Arztkosten verbraucht wurden.»

Rid staunte immer mehr. «Aber du bist doch weiß. Ich meine, weißt du denn nicht, jeder weiße Zentaur, jeder Sire hat das Anrecht, dass man ihm jede Hilfe gewährt und ... » Sie wurde immer leiser.

Tjanzer schüttelte den Kopf. «Das wäre mir peinlich. Im Dorf hat es ja auch keiner getan, jedenfalls nicht, weil ich weiß war. Was kann ich schon für mein Fell? Ich würde auch nicht jedem hergelaufenem Zentauren mein Brot schenken, wenn er nicht wenigstens eine gute Geschichte erzählen kann. Eigentlich habt ihr ja eine sehr gute verdient. Oder soll ich die noch etwas aufheben?»

«Eine Geschichte, aus dem All, bitte!» Rid drehte sich zu Rugis um. Das hatte sie noch nie erlebt, die ruhige Rugis so aus dem Häuschen.

Tjanzer lächelte: «Ich hätte es mir denken können. Aber gern, doch vorher möchte ich gerne etwas zu essen haben.» Und er musste noch aufs Klo. Wacklig stakste er hinaus.

Bald war die Suppe fertig, und während draußen die Nachtschicht begann, lauschten sie gespannt, wie Tjanzer von Jackos und Raissas Raumflug erzählte. Zwar waren die Zentauren erst irritiert, dass die Geschichte von Menschen handeln sollte. Aber die Faszination des All war auch für sie einfach zu groß. Erst weit nach Mitternacht war Tjanzer mit der kürzesten Kurzversion durch, und erschöpft legte er sich wieder hin.

 
Es war später Nachmittag, als Tjanzer aufwachte. Rid war im Stehen eingeschlafen und lehnte an der Wand neben dem Herd. Rugis war nirgends zu sehen. Tjanzer schob sich leise vom Bett und öffnete den Ofen. Es war noch etwas Restglut da. Er warf zwei Kohlen dazu und pustete. Jetzt musste er nur noch warten, bis das Wasser kochte. Dann ging er sich waschen.

Bei jedem Schritt schmerzte der rechte Hinterlauf. Doch gleichzeitig spürte er ein Ziehen und Jucken der verheilenden Wunde. Er musste dem Drang, sich dort zu kratzen, mühsam unterdrücken. Und so angenehm war die dazu nötige Verrenkung nun auch wieder nicht.

Im Licht des Tages und endlich richtig wach musste er wieder an Tik und an seinen Auftrag denken. Die Aufgabe, die ihnen die KI gegeben hatten, war unlösbar, oder? Schließlich gab es selbst hier, wo die Zentauren ganz normal behandelt wurden, falsche Sire. Und er, der einzige echte Sire hier, nannte sich Tjanzer, hatte keinen R-Namen! ,,Da stimmt etwas nicht!", hatte er gesagt. Das war richtig, doch nun, was tun?

Ein Eimer kaltes Wasser machte ihn endlich wach.

«Soll ich dir einen zweiten über den Kopf schütten?»

Tjanzer drehte sich um. Die braune Rugis war neben ihn getreten. Da kam ihm eine Idee. «Rugis, kommt mit, ich habe da etwas für dich.»

Ihr Ziel war Tjanzers Schrank in der Sammelunterkunft. Nervös starrten die restlichen Zentauren Rugis, aber noch mehr Tjanzer an. Er nahm seinen Beutel heraus und sie gingen wieder langsam zurück. «Weißt du, Rugis, ich bin wirklich ein Sire. Sire Rodast ist mein offizieller Name. Und ich darf IDs verteilen. Du hast keine, nicht wahr?»

Rugis war wieder ganz klein geworden. «Ja, Sire, es stimmt. Ich bitte dich aber» Sie war in die Knie gegangen.

«Ich heiße immer noch Tjanzer, verstanden? Und du bist gleich Rugis. Los, steh auf. Finger dorthin.»

Rugis war sichtlich verwirrt. «Wie, was, du stellst eine ID auf Rugis aus, Für mich? Aber ich bin doch»

Tjanzer sah sie mit gerunzelter Stirn an. «Ich denke, du wolltest Sire Rugis genannt werden?»

«Ja, Sire, das schon, aber, ich meine, ich bin braun, und, äh»

«Wovor hast du Angst? Die ID ist echt. Als leg den Finger hier rauf. Kennst du noch mehr ohne ID?»

 
Am nächsten Morgen hatte es sich in Eureka herumgesprochen, dass ein echter Sire hier war und echte ID auf jeden beliebigen Namen verteilte. Die Menge vor Rids Hütte war dicht gedrängt. Doch fast immer waren es Zentauren mit gültiger ID. Und die wenigen, die keine ID hatten, waren so einfallslos, sich entweder R-Namen oder, wenn sie blaue waren, T-Namen zu wünschen. Da nannte Tjanzer von sich aus einen sehr jungen, kräftigen Blauen ,,Jacko". Dieser verstand die Welt nicht mehr, dachte an einen Schreibfehler. Auch die anderen waren irritiert. Wütend verließ nun Jacko die Hütte, und brüllte hinaus, dass dort drinnen merkwürdigen Namen vergeben würden und schwenkte, seine ID. Das Gemurmel draußen wurde bedrohlich lauter.

«Warum hast du das getan?», fragte Rid. «Das ist doch ein Menschenname!»

«Hast du es nicht gemerkt? Wenn jeder Zentaur einen R-Namen, oder auch jeden anderen Namen bekommen kann, dann kann man einen Sire nicht mehr am Namen erkennen. Ein R-Name wird bald wertlos sein. Und auch einen Blauen erkennt man nicht mehr am Namen, die Welt wird etwas gerechter.»

Rid stand mit offenem Mund da. Rugis nickte: «Deswegen also. Du bist der Sire von McDerwitt!»

«Es scheint Zeit, für meine ganze Geschichte zu sein. Und wir sollten verschwinden, bis die sich da draußen etwas beruhigt haben. Los Rid, sag ihnen, dass ich keine ID im Moment mehr habe.»

Rid stand abwartend da. «Sie werden mich zerreißen.»

«Einen Sire? Einen Vorarbeiter? Wohl kaum!», meinte Tjanzer.


 
Flickers Karte zufolge, die im Morgennebel grünlich über dem Computer schwebte, sollte im Tal dort vorne der Colorado mit dem San Saba Fluss zusammenfließen. Dort war Saba, der Ort der Zentauren-KI, benannt nach dem legendären Königreich. Und natürlich waren dort die Sire.

Sie entrollte die Fahne, die Tom aus dem Transparent gemacht hatte. Der weiße, der blaue und der braune Zentaur unter den Sternen und einem Regenbogen flatterten im Wind. Dann trat Flicker zu den anderen am Abhang.

Sie sahen in das grüne Tal, und sie sahen Saba. Es war ein atemberaubender Anblick. Es war eine Sache zu wissen, dass es eine recht freie Kopie der legendären Festung Carcassonne war. Schon Jennifers Burg, die Flicker nur einmal von weitem gesehen hatte, war ihr riesig erschien. Aber das hier übertraf einfach alles.

Genau über dem Zusammenfluss von San Saba und Colorado ragte ein Hügel auf, der komplett von unzähligen Mauern und blaugedeckten, spitzen und zugleich wuchtigen Türmen bedeckt wurde.

Die anderen Zentauren waren genauso beeindruckt. Als Flicker sie so dastehen sah, bekam sie Angst. Angst, dass sie sich jetzt nicht mehr den Sire entgegenstellen würden. Sie überlegte, während die anderen immer noch die Festung anstarrten. Da endlich wusste sie, war sie tun musste: «Kommt, ich möchte euch von der Burg dort erzählen. Wisst ihr, Saba stand einmal in Frankreich, in Europa. Der Kontinent, der mit dem Kometen vernichtet wurde. Und es gibt eine Legende von der einzigen Eroberung dieser Festung. Wollt ihr die Geschichte hören?»

Natürlich wollten sie die Geschichte hören. Dabei kannte Flicker gar keine Geschichte, allein ein Lied, das ihr Jacko einmal vorgesungen hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle, Europa war lange tot, nach der Wahrheit würde niemand fragen. Dass sie jederzeit auf die Feste heruntersehen konnte, inspirierte Flicker zusätzlich. So begannen die Worte zu fließen und bald hatte sie zwei Stunden erzählt, was sich wohl im späten Mittelalter zugetragen haben mochte. Zum Schluss sang sie eine Strophe von dem Lied.

Die anderen Zentauren waren begeistert. Einer rief sogar aus: «Jetzt stürmen wir Carcassonne.» Und eher sie es sich versah, galoppierte sie zusammen mit den anderen 170 Zentauren auf die Festung Saba zu.

 
Schon eine Stunde später waren sie ziemlich verschwitzt am Tor. Die riesige Zugbrücke war nicht hochgezogen worden, und als Flicker sie im Vorbeigehen genauer ansah, bezweifelte sie, dass sie überhaupt noch bewegt werden konnte. Ohne zu zögern trat sie auf das Holz. Tom lief mit der aufgerichteten Fahne neben ihr her.

Aus dem Seitengang am Torbogen trat ein einzelner Zentaur. Er trug am Oberkörper eine Art Lederrüstung und darüber ein weißes Tuch, auf dem in der Mitte das Wappen der Schönheit, der Sire zu sehen war. An seinem linken Vorderbein war ein Schwert befestigt und seitlich über dem Pferdebauch hing weißer Stoff, ebenfalls mit dem Wappen der Sire. Der Zentaur musterte sie.

«Ich bin Rhean Flicker van Klemt(sie)», sagte Flicker. «Ich danke dir für den freundlichen Empfang. Wir wollen mit den KIs reden.»

Der Wache klappte die Kinnlade herunter. Eine ganze Weile sagte sie gar nichts.

«Kannst du uns vielleicht eine Unterkunft zeigen? Wir sind 170», fragte Flicker, als die Wache noch immer schwieg.

Daraufhin drehte sich die Wache auf den Hinterbeinen herum und sprang in den niedrigen Gang neben dem Tor, wo sie schnell davongaloppierte. Flicker war zwar kleiner als die Wache, doch in diesem Gang konnte sie unmöglich so schnell folgen. Also ließen sie die Wache ziehen. Die anderen jubelten, als sie wieder in das Tor traten. Flicker winkte ihnen zu und da kamen sie auch schon über die Zugbrücke galoppiert. Immer weiter liefen sie, Flicker war schon gar nicht mehr an der Spitze. Sie lief eher langsam hinterher, und sah sich um.

Doch auch bald wurden die anderen wieder langsamer. Staunend sahen sie zu den zehn Meter hohen Mauern auf. Nachdem sie ein weiteres Tor durchquert hatten, sahen sie endlich andere Zentauren. In dem Hof hinter dem Tor war eine Schmiede und eine Küche. Die Zentauren, die dort arbeiteten, erstarrten sofort. Scheinbar hatten sie noch nie so viele Zentauren hier gesehen, dabei war auf dem Hof noch Platz für die doppelte Anzahl.

Sie wurden langsamer. Dann teilten die 170 sich, damit Flicker wieder nach vorne kam: Im nächsten Torbogen standen acht bewaffnete Zentauren, fast wie der am ersten Tor gekleidet, nur diesmal waren die Wappen auf rotem Grund und zeigten einen galoppierenden braunen Zentaur: Das Wappen der Berater. Ein stattlicher Brauner stand daneben.

Flicker ging ohne zu zögern auf diesen zu. «Viel Land und Frieden», begrüßte sie förmlich. «Ich bin Flicker(sie) aus Zikaku.»

«Berater Tirtura(sie). Warum bist du hier?»

«Ich möchte die KIs sprechen! Sag ihr 1671.»

Die andere schüttelte den Kopf. «Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du bist ein blauer mit einem ausgeblichenem Fell, gerade eben volljährig. Das ist doch»

«Verdammter Idiot! Wir sind nicht 3000 Kilometer gekommen, um uns diese Beleidigungen anzuhören!», unterbrach ihn Tom, der immer noch mit der Fahne neben Flicker trat.

Die Braune wirkte verdattert, genauso wie Flicker.

«Los gehen wir weiter!», sagte Tom.

Flicker gab den anderen ein Zeichen. Zuerst wankten sie. «Wie in Carcassonne!», rief Frunje. Da begannen sie vorwärts zu laufen.

«Halt!», rief die Braune. «Stehenbleiben!» Die Wachen wichen zwar etwas zurück, doch jetzt hatte die Braune das eher rituelle Schwert gezogen.

«Lass uns durch!» Flicker stand der Braunen direkt gegenüber. Flicker war zwar kleiner, dafür wusste sie aber, was sie wollte.

Endlich hatte auch die Braune einen Entschluss gefasst. «Ich darf euch nicht durchlassen. Wir werden euch eher töten.»

Flicker war genauso entsetzt wie der Rest. Da sprach Tom: «Du, ein Zentaur, willst Zentauren töten? So weit seid ihr also gekommen, in eurem Elfenbeinturm. Seid ihr ihre Sklaven?», rief er den Wachen zu. «Nein? Warum seid ihr dann bereit, Zentauren zu töten, das schrecklichste Verbrechen zu tun, was sich vorstellen lässt? Ich denke, hier ist das Herz aller Zentauren. Ist das Zentaurenherz schon kalt? Ist denn kein Platz für Gäste? Lasst uns durch. Und lasst euch überraschen, Tirtura(sie), die KIs werden mit uns sprechen wollen! Los!»

Zusammen mit Flicker gingen sie voran. Die Wachen wichen immer weiter zurück, bis sie sich teilen mussten. Fassungslos sahen sie, wie 170 jubelnde Zentauren in den inneren Burghof liefen. ,,So fiel die Feste Carcassonne", sie sangen immer wieder den Refrain des Liedes.

Die Braune lief neben Flicker her. «Ihr macht einen Fehler!», rief sie. Doch die anderen drängten sie von Flicker ab, und als sich Tirtura wieder umsah, waren auch die Wachen verschwunden. Sie begann vor Angst zu schwitzen.

Auch Flicker war unwohl. Doch die anderen waren nicht mehr aufzuhalten. Sie verteilten sich in den fünf Eingängen in der Burg. Geschrei, einmal sogar Schmerzensschreie waren zu hören. Die Beraterin stand immer noch neben Flicker; diese hatte jedoch genauso viel Angst, vordem was sie jetzt losgetreten hatten.

Da kamen die ersten Zentauren zurück. Sie trieben einige Wachen und zwei Berater vor sich her. Kaum waren sie im Hof, drehte sich die Hälfte um, und verschwand wieder in der Burg. Tom kam aus einem der Eingänge und lief auf die erstarrte Flicker zu, schüttelte sie an der Schulter.

«Los, komm mit. Ihr zwei dort, folgt uns.»

Flicker ließ sich wie in Trance von Tom in die Burg führen. Zwei Zentauren folgten, jeder hielt ein erbeutetes Schwert in seiner Hand. Tom führte sie durch ein Wirrwar von Gängen entlang. Überall galoppierten Zentauren, Möbel krachten, Schreie waren zu hören, Flüche und vereinzelt Schwertgeklirr. Es war ein wüstes Chaos. Endlich waren sie vor einer bewachten Tür. Dort standen zwei stattliche Zentauren, die zitternd ihre Schwerter auf sie richteten.

Tom trat vor: «Dies ist Sire Rhean(sie), er muss mit den Sire reden.» Dann ging er einfach weiter auf die Tür zu, Flicker und die zwei Zentauren mit ihm. Die eine Wache versuchte als Warnung einen Schwertstreich gegen Toms Hinterlauf. Das Schwert traf jedoch die Prothese und prallte mit einem metallischen Klirren ab. Tom lächelte nur. Da ergriffen die Wachen die Flucht.

Der Angriff hatte Flicker aus ihrer Lethargie gerissen. «Sie wollten dich wirklich verletzen», flüsterte sie, dann wiederholte sie es noch einmal lauter. Das dritte Mal brüllte sie es fast. Dann griff sie an Tom vorbei die Türklinke und riss die Doppelflügeltüren auf.

Auf der anderen Seite standen zwei Sire. Flicker hatte noch sie zwar noch nie gesehen, aber von Tariffs Beschreibungen war klar, dass der rechte, größere und brutalere der zwei nur Ruron sein könnte. Dieser hatte ein Breitschwert ergriffen. Doch der andere ergriff das Wort: «Ich bin Sire Raldron(er), und dies ist Sire Ruron(sie). Was soll das? Und wer bist du überhaupt, Blauer?»

Die beiden Zentauren mit den Schwertern wollten schon losschlagen, doch Flicker trat ihnen in den Weg. «Meine Farbe tut nichts zur Sache, ebenso wenig wie die eure. Ich bin Flicker von Klemt(sie). Kommt mit, und es wird euch nichts geschehen.»

Die Wirkung dieser kaum versteckten Drohung war sehr unterschiedlich: Ruron wurde immer wütender -- Raldron hingegen sah niedergeschlagen aus. Da schrie Ruron: «Niemals, ich bin ein Sire. Wachen!»

«Es wird keine kommen», sagte Tom schlicht.

Ruron schien völlig verblüfft. Es war deutlich zu sehen, dass sie nicht wusste, was zu tun war. Dann ging ein Ruck durch Ruron und er riss das Schwert hoch, machte einen Schritt auf Flicker zu. Noch bevor Ruron überhaupt zuschlagen konnte, traf sie ein Schwerthieb am Arm und der andere in die rechte Vorderflanke. Ruron brach sofort blutend zusammen.

«Aufhören, verdammt! Was soll das!», herrschte Flicker die Zentauren an. «Los, sofort verbinden. Es soll keine Toten geben!» Tom und der eine Zentaur verbanden Ruron, während der andere bei Raldron stand.

«Es ist vorbei», sagte Raldron plötzlich.

«Sie wird es überleben», widersprach Tom.

«Egal, ob sie es überlebt, es ist vorbei», wiederholte Raldron. «Lass mich gehen, und sehen, ob ich dem Gemetzel nicht ein Ende bereiten kann.» Raldron trat an einen Schrank, Flicker und die Wache folgten ihm auf Schritt und Tritt. Raldron öffnete den Schrank. «Hier ist Raldron. Wir ergeben uns. Kämpfe einstellen, wir ergeben uns.» Dann trat er einen Schritt zurück. Alle Energie schien plötzlich von ihm gewichen zu sein, und er klappte fast zusammen. Jetzt wirkte er älter noch als vierzig.

Flicker stützte ihn. Langsam führte sie ihn durch die Burg zurück zum Hofe. Es war leise geworden.

Ihr Weg führte durch teilweise schlimm verwüstete Räume, durch geborstene Türen. «Ich habe Angst», flüstere Raldron unvermittelt Flicker zu. «Ich habe manchmal davon geträumt. Seit Rigan davongelaufen ist. Und jetzt, wo es passiert ist, habe ich noch mehr Angst. Denn ich weiß nicht, was kommt. Verstehst du, ich habe es kommen sehen, die Aufstände auf den Höfen, die falschen Sire, unsere drei dummen Kinder und schließlich die Geschichte mit Rigan. Ich kenne die Vergangenheit sehr gut: Als Tariff gegangen war, habe ich wieder zu studieren angefangen. Alles ist einzeln schon einmal passiert, so war 507 die große Hungerrevolte, als zu viele Zentauren im Krieg waren. Damals gab für uns Sire aber noch ein Ziel, den Krieg, und wir Sire waren zahlreicher und stark. Heute gibt es in Nordamerika ganze acht Sire, ohne dich, wenn du überhaupt einer bist. Und davon sind maximal die Hälfte einem normalen Zentauren ebenbürtig. Ja, die Zeichen waren eindeutig, mit allem geht es bergab. Sogar die letzte große Erfindung von Zentauren liegt mehr als 170 Jahre zurück. An den Universitäten lehren sie Englisch und Höflichkeit. Wissenschaft ist kaum dabei. Ja, mit uns geht es bergab, wir folgen den Menschen.» Er wurde immer leiser und begann plötzlich zu weinen.

Sie standen vor dem Tor zum Hof. Flicker blieb stehen. «Geht es wieder?», fragte sie. Dabei fühlte sie sich mindestens genauso elend wie Raldron.

Raldron wischte sich die Augen aus, schniefte einmal und nickte dann.

Sie traten auf den Hof. Der trübe Novembertag neigte sich seinem Ende entgegen. Im schummrigen Zwielicht schienen alle Zentauren ob Freund oder Feind gleich. Kurz darauf gingen einige Lampen an, die die Szenerie etwas erhellten. Auf der rechten Seite standen sechzig Zentauren, bewacht von hundert oder mehr. Die meisten ließen die Köpfe hängen, nur wenige waren grimmig.

Frunje trat auf sie zu. «Fast alle haben sich ergeben. Es fehlen noch nur vier Zentauren außer den Sire.»

«Gab es Tote?», fragte Raldron.

Frunje sah zu Flicker, doch sie nickte nur.

«Ja, drei von uns und fünf auf der anderen Seite.»

Sie sahen wie Raldron um Fassung rang. Dann drehte sich dieser um und hinkte wie ein lahmer Zentaur langsam zu den sechzig Zentauren der Burg. Die Wachen zögerten einen Moment, doch dieser gebrochene Sire war genug des Triumphes, so dass ihm ein Spießrutenlauf erspart blieb.

«Du musst jetzt etwas sagen!», flüsterte Frunje Flicker zu.

Flicker wollte mit dem Kopf schütteln, doch Frunje hatte sich schon abgewendet. «Die Feste Carcassonne ist heute also wahrlich gefallen», begann er eine Rede. «Danken wir Flicker dafür!»

Der Hof hallte von dem Gebrüll der Zentauren. Frunje trat zurück. Flicker hatte keine Ahnung, was sie jetzt sagen sollte. Da kam Tom mit der blutbedsudelten Ruron in den Hof. Alle drehten sich zu den beiden um.

«Dafür werdet ihr bezahlen!», rief Ruron, als sie die Zentauren sah.

Tom rührte keine Mine. «Wir haben bereits bezahlt, jeder hat bezahlt. Es gab Tote. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Tote sehe, aber es ist kein Anblick, an den ich mich gewöhnen kann. Es gab drei Tote, und zu sehen, wie sie vor einem liegen und röchelnd verenden.» Er schüttelte sich. «Nein, die Toten haben immer zuviel bezahlt.»

Er sah zu Flicker. Als er sah, dass Flicker den Tränen nahe war, fuhr er fort. «Wir haben viel bezahlt. Es muss den Preis wert gewesen sein. Noch zweifelt ihr, doch wenn ihr später mit euren Enkelfohlen im Winter am Ofen sitzt, dann könnt ihr erzählen, dass ihr dabei wart, hier und heute. Dabei wart, beim großen Aufbruch der Zentauren in die Zukunft, dem Moment, als sich die Zentauren den ersten Schritt auf dem großen Zug in die Zukunft taten. Ich danke euch, auch im Namen von Flicker, aber mehr noch im Namen aller Zentauren der Welt. Euer Mut hat den Tag möglich gemacht: Jetzt brauchen wir euren Einsatz, um diese Zukunft zu bauen. Eine Zukunft, in der kein Zentaur mehr Sklave von Zentauren sein muss, in dem kein Zentaur ohne ID durch das Leben laufen muss. Eine Zukunft, in der jeder Zentaur, sei er weiß, blau, grau, schwarz oder grün kariert gleiche Chancen hat. Und eine Zukunft, die den Zentauren das All bringen wird, in der die Zentauren nach den Sternen greifen werden.»

Der Boden vibrierte beinahe, so laut war der Jubel. Tom gebot Ruhe. «Doch der Weg vor uns ist zuerst eng. So werden wir zuerst nur langsam gehen können. Noch geht es steil bergauf. Anders gesagt, zuerst bleibt fast alles beim Alten. Nachdem nun auch ihr alten Regenten unsere Vision kennt, frage ich euch, wollt ihr uns nicht anschließen? Wir brauchen gerade zu Anfang sicher Hilfe mit Kommunikationsanlagen und anderem. Wer will mit uns in eine neue, vielleicht unsichere, aber sicher großartige Zukunft gehen?» Er gebot Flickers Anhängern Ruhe und ging auf die alte Burgbesatzung zu.

Die Zentauren dort scharrten unsicher mit den Hufen. Die Rede hatte sie sichtlich beeindruckt; doch andererseits waren sie die alte Regierungsmacht gewohnt. Da entstand Bewegung und Raldron trat nach vorne: «Ich habe den Tag kommen sehen. Einige Zentauren sind heute gestorben.» Er machte eine Pause. «Das ist schlimm. Aber noch schlimmer wäre es, wenn sie umsonst gestorben wären. Deshalb lasst uns etwas Neues versuchen, denn wir sind am Ende. Jeder von uns wusste es doch: Die Aufstände auf den Höfen, die Sklaverei, die falschen Sire, die keine ID haben und sie ihren Zentauren auch verweigerten, und viele andere Zeichen; und nicht zuletzt unser Versagen.» Protestgemurmel wurde laut. Doch Raldron fuhr fort: «Wir sind so viele Zentauren, wie noch nie auf diesem Kontinent gelebt haben, doch darunter sind leider nur so wenig bemerkenswerte wie die, die heute Saba erobert haben. Wir hier sind am Ende, also werden wir mit euch neu beginnen, wenn ihr uns wollt.»

Dann trat er langsam auf die Wachen zu, die für ihn eine Gasse bildeten. Das Gemurmel in Hof wurde lauter und lauter. Schließlich schrien alle durcheinander. Ein Handgemenge entstand unter den Gefangenen. Die Bewacher hatten bald beide Seiten getrennt. Schließlich gab es zwei Gruppen: vierzig Zentauren standen um Raldron, zwanzig bei Ruron. Jetzt waren sie mehr als zweihundert müde Zentauren, die zwanzig ebenso müde Zentauren bewachen mussten. Tom teilte schnell die Wachen für die Nacht ein. Morgen mussten sie die Leichen verbrennen.

Flicker hatte noch Jahre später von diesem Tag Albträume.


 
Tik hatte von oben dem merkwürdigen Auflauf zugesehen. Flig hatte die Morgenwache. Er hatte sie kaum angetreten, als etwas Seltsames geschah: Ein blauer Zentaur war aus einer der Hütten im Zentrum von Eureka galoppiert und irgendetwas in der Hand geschwenkt. Nun standen sie dort alle am Kamm und sahen nach Eureka herunter.

Inzwischen hatten sich eine ganze Menge Zentauren vor die Hütte gedrängt. Schließlich war wieder einmal einer herausgekommen, wieder etwas in der Hand schwenkend, was die Menge erregt hatte. Doch dann schienen die Zentauren dort zu diskutieren und sich langsam wieder zu zerstreuen. Tik gähnte gerade, als Flig schrie: «Da ist Sire Tjanzer!»

Sie verschluckte sich und hustete so heftig, dass sie sich hinlegen musste.

«Das ist wirklich unser Sire!», rief jetzt auch Trera.

Endlich sah Tik mit tränenden Augen, wie Tjanzer zusammen mit einem anderen Sire und einem Braunen hinter einer der Hütte hervorkamen und langsam davon trabten. «Hey! Rodast! Tjanzer!», rief sie, sprang auf und lief den Hang hinunter.

Sie überschlug sich fast, doch dann wurde der Boden ebener und sie galoppierte los. «Mein Sire!», rief sie wieder, doch Tjanzer bog weit vorne langsam um eine Häuserecke, ohne sie gehört zu haben. Sie galoppierte hinterher.

Als sie um die Ecke bog, stieß sie fast mit Tjanzer zusammen. Sie bäumte sich auf, um zu bremsen, auch Tjanzer stieg auf. Sie landeten dicht voreinander, so dicht, dass sie sich an den Vorderhüften berührten. Tik umarmte Tjanzer heftig, er erwiderte.

Bestimmt zwei Minuten stand sie da. Tiks Atem wurde langsam ruhiger. «Sire, das darfst du nie mehr tun! Wir hatten solche Angst um dich. Ich freue mich ja so, dass dir nichts passiert ist!»

«Ach Tik, es ist schön, dich wiederzusehen.»

«Hm-hm», räusperte sich der neben Tjanzer getretene Sire.

Sie lösten sich. «Ähm, das ist Rid(sie). Rid, das ist Tik(sie).»

Tik nickte Rid kurz zu. Dann sah sie wieder zu Tjanzer. «Du siehst gut aus. Ehrlich gesagt, so kräftig hatte ich dich gar nicht in Erinnerung. Was hast du denn so getrieben?»

Bevor Tjanzer etwas sagen konnte, antwortete schon Rid: «Er hat im Loch gearbeitet, der Narr. Bis er vor fast fünf Tagen fast gestorben wäre!»

«He, so schlimm war es wirklich nicht», protestierte Tjanzer schwach.

Doch Rid redete einfach weiter: «Zwei Tage lang hat er geschlafen, dann ist er aufgewacht. Seine ersten Worte waren: Verrate mich nicht!» Rid schüttelte den Kopf, und Tik starrte Tjanzer groß an. «Eben hat er angefangen, jedem eine ID zu geben, für einen beliebigen Namen! Und dann hat er einen Blauen ,,Jacko" genannt. Vielleicht kannst du ihn bremsen.» Rid war nahezu atemlos.

«Ist das alles wahr?», fragte Tik.

«Ja», antwortete Tjanzer kleinlaut. Dann nahm er sie wieder in die Arme und küsste sie.


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