kentaur -Träge fließen die Tage von Markus Pristovsek


Teil 1
Aus der Vergangenheit ...

All ... ... und Erde Gäste Unterwegs Burns

Teil 2
... durch die Gegenwart ...

Kinder & Fohlen Flickers Auszug Nachtzentaur Verschiedene Sire Aufruhr

Teil 3
... in die Zukunft

Frieden Partner Aufwärts Abschied

Von den Sternen Geborener
kehrst zu den Sternen du zurück.
altindischer Wede

Frieden

Erol dachte an den heimatlichen Hof zurück. Wie hatten sie ihn alle bedrängt. «Geh' nicht!». Sie hatten fast gefleht. Doch ihn hatte nichts mehr dort gehalten.

Oh, sie waren keineswegs unfreundlich. Nie hatten er dort Hunger gelitten, nie war er geschlagen worde; ja er hatte nicht einmal richtig arbeiten müssen. Nur fühlte er sich so nutzlos dort. Sein Lebensinn konnte nicht darin bestehen, besonders reinrassige Nachkommen zu zeugen oder auszutragen. Egal wie genetisch wertvoll sie sein würden. Und die Bildung, die sie auf dem Hof von der alten KI bekommen konnten, hatte ihr Übriges getan, hatte ihn neugierig auf die Welt da draußen gemacht.

Die anderen hatten bis zur letzten Minute auf ihn eingeredet. Doch er hatte sich nicht beirren lassen. Sie hatten ihn nicht verstanden. Den Hof zu verlassen, dass war jenseits ihres Weltbildes. Nunja, er verstand ja auch nicht, wie man freiwillig auf dem Hof bleiben konnte, mit dem Stolz auf seine Nachkommen als einzige Leistung im Leben. Und wenn er er wirklich eines fernen Tages bereuen würde, sie würden ihn immer noch willkommen heißen. Oder zumindest seine Gene. Er schüttelte sich wiederholt.

Das lag jetzt schon fast tausend Kilometer hinter ihm. Der Magnetic bremste. «Portland: 17h22», sagte die Zug-KI knapp. Offiziell fuhr er als Sklave. Oh ja, offiziell waren sie auch auf dem Hof Sklaven. Die einzige Möglichkeit, legal mit einem Bürger (der alten KI eben) zusammen zu leben. Aber das lag heute alles hinter ihm. Jetzt war er ein ganz gewöhnlicher Zentaur. Zumindest fühlte er sich so.

Portland, das war nicht sein eigentliches Ziel. Das war nur die Magnetic-Station, die Burns am nächsten lag. Die Universität von Burns war sein Ziel. Eine Universität, ein Ort für die Vermittlung von Wissen, das erschien ihm heillig. Aber noch lagen 250 vor ihm, auf der bequemeren Flussroute sogar mehr als 300. Er war zwar nie mehr als fünfzig Kilometer am Stück gelaufen, doch gerade deshalb wählte er den direkten Weg. Und auf der Flussroute wäre er lange Zeit im Bürgerland geblieben. Den Abend würde er aber noch in der Magnetic-Station in Portland bleiben.

 
Die Sonne war gerade erst am Horizont zu erahnen, als er aufbrach. Die kahlen Äste der Büsche waren gefroren: Es war die erste Frostnacht in diesem Jahr. Die kleineren Pfützen waren durchgefroren. Trat er mit einem Huf darauf, dann gaben sie einen seltsamen singendem Klang von sich; war es eine tiefere Pfütze, dann brach der Huf krachend ein. Wie ein Knall hallte es dann durch die Stille ringsum.

Er ließ seinen Blick über die dicht bewachsenen Berge schweifen. Hier irgendwo, gar nicht weit hinter Portland und nur wenig über dem Fluss, war die unsichtbare Grenze zwischen Bürger- und Zentaurenland. Dort würde aus dem Sklaven Erol der Zentaur Terol werden. Doch zuerst musste er den Weg überhaupt finden, denn die Hauptroute für Handel ging nach Süden. Der Weg nach Bend war ein kaum begangener Pfad. Ohne den Kompass und seinen guten Handatlas (ein Geschenk der KI, über das er sich wirklich gefreut hatte) wäre er daran vorbeigelaufen. Es ging fast rechtwinklig vom Flusstal weg auf die Berge zu. Sofort war er vollständig vom dunklen Nadelwald umgeben.

Noch bevor es richtig bergan ging, war die Sonne wieder hinter einem Bergrücken verschwunden. Zuerst war der Weg uneben, Tierspuren und Hufspuren in dem gefrorenen Sand forderten seine volle Aufmerksamkeit. Je mehr er sich vom Schlangenfluss entfernte und anstieg, desto mehr Kiesel knirschten unter seinem Hufen, desto glatter wurde der Boden. Dafür wurde der Weg enger, drängte sich immer häufiger durch niedrige Büsche. Ständig blieb er mit seinen Satteltaschen hängen. Dabei hatte er gar nicht so viel eingepackt. Wie sollte hier bloß ein Handelszentaur mit Ladung durchkommen? Gut, er war etwas kräftiger, das wusste er. Aber trotzdem ...

Es war schon Nachmittag, als der Weg ebener wurde und sich schließlich wieder zu etwas senken begann. Er kaute auf einem Apfel herum, nach fünf Energieriegeln brauchte er einfach etwas anderes. Trotz der wiedergewonnenen Sonne war es hier immer noch frostig. Sein Atem trieb in eisigen Wolken dahin. Er stand in der Sonne und ließ sie still auf sein dichtes braunes Fell und sein Gesicht scheinen.

Irgendwie musste er eingenickt sein, denn als er aufwachte, verschwand die Sonne gerade hinter einem Gipfel. Er sah auf die Uhr. Halb drei, und er war noch keine vierzig Kilometer gelaufen. Aber weit genug, sagten seine Beine, als er weitertraben wollte. <Na gut>, dachte er bei sich selbst, <ich muss eben langsam anfangen. Und ich kann jetzt einen schönen Schlafplatz und vielleicht etwas zum Essen finden.>

Seine Satteltaschen legte er ab, während er etwas in den Wald eintauchte. Doch der Wald war hier dicht, selbst ohne die Taschen kam er nicht allzu weit. Er sammelte etwas trockenes Holz und schöpfte aus dem kleinen Bach Wasser für die Suppe. In dem langsam schwindenden Tageslicht schaffte er es nach mehreren Versuchen tatsächlich, ein Feuer einigermaßen gleichmäßig zum Brennen zu bringen. Er hatte die Isomatte ausgerollt und ließ sich seinen Unterbauch vom Feuer wärmen.

Verdammt, brauchte das Wasser lange zum Kochen! Endlich konnte er die zwei Würfel einrühren. Es roch verführerisch, doch als er dann die Suppe löffelte, war sie ziemlich dünn. Aber er hatte nur noch sechs Würfel, damit wollte er lieber sparsam umgehen. Eigentlich hatte er gehofft, andere Zentauren zu treffen, mit ihnen zu essen. Dafür hatte ihm die KI die hundert Solarzellen mitgegeben, zum Handeln. Er erinnerte sich, einmal hatte die KI Zentaurenkäse organisiert. Sie selber hatten auf dem Hof aus ihrer Milch keinen Käse gemacht, ja selbst die Milch gaben sie zur Verarbeitung ab. Dieser echte Zentaurenkäse hatte unbeschreiblich gut geschmeckt, doch sie hatte nicht das Rezept herausfinden können.

Mit der Taschenlampe in der Hand holte er noch einmal Wasser für einen Tee. Dabei stieß er sich ständig an tiefhängenden Ästen und trat mit den Beinen gegen übersehene Steine. Als er endlich wieder am Feuer war, musste er schon wieder Holz für das gierige Feuer brechen. An das Leben als freier Zentaur musste er sich noch gewöhnen.

Während das Teewasser warm wurde, sah er noch einmal auf den Altas. Doch es gab keinen Zweifel: Heute hatte er genau 39 zurückgelegt; mit dem Doppelten hatte er gerechnet. Und auf der Karte, wie auch auf den Satellitenbildern, war in dieser Gegend kein Haus weit und breit zu sehen. Im Geiste rechnete er seine ganze Planung neu durch, trotz des Gefühls im Hinterkopf, dass dies sicher nicht das letzte Mal sein würde.

Der wärmende Tee tat gut. Ach, wie sehnte er sich nach einer warmen Dusche. Er stank schon ziemlich nach Kamille. Und erst recht seine Jacke und der Pullover. Also zog er sich aus und legte sie sich als Kopfkissen unter. Dann wickelte er sein Vorderteil in die Decke. Ein paar Mal hatte er erst auf der Seite geschlafen. So unbequem hatte er es aber nie in Erinnerung gehabt. Immerhin war die dicke Bodendecke aus trockenen Tannennadeln recht nachgiebig. Eine Zeit lang wälzte er sich auf der Suche nach einer bequemeren Stellung hin und her, bis er schließlich einschlief.

 
Er erwachte frierend. Es war noch vor Sonnenaufgang, im Osten begannen gerade erst die Sterne zu verblassen. Doch er fror dermaßen, dass er nicht mehr schlafen konnte. So heftig zitternd, wie er es noch nie erlebt hatte, zog er sich seinen klammen Pullover und die Jacke an. Sie wärmten überhaupt nicht, im Gegenteil. Bei jedem Atemzug spürte er, wie die eiskalte Luft seine Lungen bis zwischen die Vorderbeine füllte. Schnell packte er die Sachen in die Satteltaschen. Seine kalten Finger wollten ihm nicht gehorchen, nur mit äußerster Anstrengung konnte er den Riemen schließen. Endlich galoppierte los.

Doch nur ein kurzes Stück, denn es war immer noch dunkel im Wald und er wollte nicht stürzen; außerdem spürte er seine Muskeln noch viel stärker als gestern Abend. Er wurde langsamer. Die Wärme kroch von der Vorderhüfte allmählich nach oben. Als die Sonne aufging und seine Uhr den einprogrammierten Alarm zu spielen begann, da hatte er die Jacke geöffnet. Frühstückszeit.

Tee wollte er nicht kochen; das eiskalte Wasser aber auch nicht trinken. Also beschränkte er sich auf einen halben Laib Brot und einen Energieriegel. Höchste Zeit, dass er wieder in die Zivilisation kam. Doch die lag noch fast 130 weit weg.

Die nächste Zeit lief er mit einem Wassersack unter dem Pullover. Solange er lief, hatte er genug überschüssige Wärme. Und das warme Wasser schmeckte ganz anders; zwar nicht mehr so frisch, aber es biss auch nicht mehr in der Kehle.

Mit der Zeit hatte er ein Tempo gefunden, bei dem er stetig laufen konnten. Das war gar nicht so einfach, wie er gedacht hatte, denn der Weg ging ständig auf und ab und ständige Gangartenwechsel hätten viel zu viel Kraft gekostet.

Als die wieder sinkende Sonne die Bergipfel berührte, sah er sich nach einem Rastplatz um. Da fiel ihm eine Qualmwolke nicht viel weiter vorne auf. Gab es dort etwa ein Haus? Mit einem leichten Endspurt hielt er im schwindenen Licht auf die Stelle zu.

Es war kein Haus. Aber es war fast so gut: Es war ein Teich mit warmen Wasser! Es schmeckte zwar scheußlich, aber zumindest seinen Oberkörper würde er hier waschen. Er kniete sich an das Ufer und beugte sich tief hinein. Tat das gut! Er schrie freudig in die Wildnis. Leise kam ein Echo zurück, während die Geräusche im Wald verstummten und nur noch das leise Glucksen des Wassers zu hören war.

Das Feuer klappte schon ein wenig besser und etwas abseits fand sich auch noch eine Quelle mit trinkbarem Wasser. Er war sehr hungrig, und so löste er in der Suppe auch noch drei Riegel auf. Jetzt war sie halbwegs sättigend. Als Nachtisch gab es noch den vorletzten Apfel und sonst Tee. Es war bestürzend, wie schnell die Vorräte wegschmolzen.

Heute zog er sich weder Jacke noch Pullover aus, sondern wickelte sich nur noch zusätzlich in die Decke.

 
Er wachte vom Piepen der Uhr auf. Er fror zwar nicht stark, aber er fühlte sich trotzdem elender noch als gestern. Hier war der Boden uneben und härter -- einige Steine waren unter der Isomatte gewesen, und jeder hatte einen blauen Fleck hinterlassen, auch wenn er sie wegen des Fells natürlich nicht sehen konnte. Und außerdem taten die Beine weh; nicht nur die Muskeln, einfach alles, jede Bewegung. Fast ein wenig, als hätte er Krämpfe überall. Er stakste zum Pool. Mehr als eine Stunde blieb er im warmen Wasser. Wenn er sich hinsetzte schaute nur der Kopf heraus.

Er überlegte, ob er den Tümpel mit Seife verdrecken sollte, als ihn Hufgetrappel aus seiner wohligen Trance schreckte. Da sah er auch schon den Zentaur. Er war ziemlich klein, aber bestimmt kein Fohlen. Dazu waren sie Beine im Vergleich zum Oberkörper zu kurz. Er sah schon seltsam aus. Aber so klein wie er war, so gut kam er durch den Wald.

Er war aufgeregt, gleich würde er den ersten richtigen freien Zentauren treffen. Auch wenn er ihn sich größer vorgestellt hatte. Schnell stieg er aus dem Wasser, trocknete sich schnell Kopf, Mähne und Oberkörper ab. Da kam auch schon der Zentaur den Hang herunter. Er fiel fast von der Böschung, als er Erol sah. Auch Erol war überrascht: Dieser Zentaur war sehr klein. Fast einen Meter kleiner. Außerdem hatte sein Fell eine seltsame Farbe, ein Graublau.

«Hallo, ich bin Terol(er)», rief Erol auf Zentaurisch.

Der andere kam ganz dicht heran. Erst einen Meter vor ihm stoppte er. «Ich bin Fira(er).» Sie musterten sich. «Was bist du denn für ein Zentaur?», fragte Fira.

Erol war irritiert. Wieso begann dieser Name mit einem F? «Ein Kaltblut-Zentaur. Und du?»

«Wo kommst denn du her, dass du das nicht weißt? Ein Blauer natürlich.»

Nun, das sah Erol auch. «Ich», fing Erol an. Doch dann fehlten ihm die Worte.

Der andere Zentaur, Fira, musterte ihn immer noch mit merkwürdigem Gesichtsausdruck. «Was ist ein Kallfut

«Wo ich wohnen, alle sein Kaltblutzentauren. Sehen wie ich», radebrechte er.

Fira schüttelte den Kopf. «Du hast einen merkwürdigen Dialekt. Ich wollte nur ein Bad nehmen. Meistens gehe ich dazu ja an eine andere Quelle, aber dann hatte ich deinen Schrei gestern abend gehört, und da wollte ich heute nachsehen. Egal, ich wasch mich schnell, und dann lade ich dich ein, und du erzählst mir von den Allgutzentauren.»

«Sprechen langsamer. Ich sprechen wenig Zentaurisch», sagte Erol, worauf Fira erneunt den Kopf schüttelte. Dann stieg Fira in das Wasser und Erol ging zum Lagerplatz und packte alles zusammen. Grob bürstete er sein Fell durch, damit es nicht so schrecklich zusammenklebte. Er schloss den letzten Riemen der Satteltasche und ging langsam zur Quelle zurück.

Fira war wieder aus dem Wasser heraus und schüttelte sich gerade trocken. Dann kam Fira auf ihn zu. «Du bist so riesig. Ich habe noch nie einen so großen Zentauren gesehen!» Dann beugte Fira sich vor, bis sein Oberkörper nicht höher als die Vorderhüfte war und lief einfach unter Erol hindurch, stellte sich dann direkt vor ihn und beugte seinen Oberkörper zwischen Erols Vorderbeine.

«Unglaublich. Wie schwer bis du denn?» Als Fira sein fragendes Gesicht sah, wiederholte er noch einmal langsamer und überdeutlich: «Dein Gewicht. Wie schwer? Ich wiege 215 Kilogramm.»

«Sechs acht fünf Kilogramm. Warten kurz. Stehen bleiben.» Zweihundertfünfzehn Kilo, der Blaue war ein Leichtgewicht! Dann stellte er sich quer zu Fira, griff mit seinen Armen um den Unterleib und hob Fira einfach hoch. Er war wirklich nicht viel schwerer als ein Fohlen.

Fira blieb die Luft weg. Dieser Zentaur, Terol, er trug ihn einfach so, ohne allzu große Anstrengung. Jetzt lief er sogar los. Doch am Rand der Lichtung mit der Quelle, wo der Anstieg in den Wald begann, da setzte Erol ihn ab. «Wald eng», lachte er.

Fira lachte. Was war das bloß für ein Zentaur! Dann lief er mit wenigen Sprüngen die Böschung hoch und rief Erol zu, ihm zu folgen. Doch Erol hatte überraschend große Schwierigkeiten, die Böschung hoch zu kommen. Ständige rutschte unter seinem Gewicht der Sand unter den großen Hufen weg. Doch schließlich war auch er keuchend oben.

Fira lief langsam voraus. Doch Erol konnte nicht folgen, denn Fira lief geradewegs durch das Unterholz, so schien es ihm. «He, Fira, stehen bleiben. Zu eng Wald!», rief er.

Fira drehte sich um. Natürlich, wenn man so groß war, dann hatte man im Wald Probleme. Er dachte einen Moment nach, dann fiel ihm ein besserer Weg ein, an der eingestürzten Brücke vorbei. Als Erol die Ruine sah, da wusste er, warum der Weg fast zugewachsen war. «Warum du nicht neu bauen?»

«Kann nicht. Siehst du, 10 Meter. Das müssen ganz dicke Stämme sein. Die sind zu schwer um sie allein ... »

«Ich haben Geschirr», sagte Erol. «Ich helfen Brücke, dann ich essen bei dir. Ja?»

Fira zuckte mit den Schultern. Warum nicht? «Ja, ich hole Axt und Säge. Warte.» Fira galoppierte schnurstracks zu seinem Winterunterschlupf: einer überdachten Felsnische -- und kam kurz darauf mit Axt, Säge und ein paar Seilen zurück. Erol hatte inzwischen endlich das Frühstück nachgeholt und war voller Tatendrang.

Bäume fällen war Schwerstarbeit. Erol hätte nie gedacht, dass ihm einmal die Arme so weh tun konnte. Gerne machte er Pausen und radebrechte vom Leben auf dem Hof. Endlich hatten sie drei großen Bäume gefällt und entastet. Erol spürte seine Beine gar nicht mehr. Denen ging es vermutlich wieder besser. Dafür taten ihm Arme und Rücken einschließlich Schulter und Vorderhüfte weh. Jetzt legte sich Erol mit Firas Hilfe sein Geschirr an. Dann wurde der erste Baum angebunden. Erol legte sich ganz vorsichtig in das Geschirr. Solche Arbeiten hatte er auf dem Hof genug getan.

Es ging viel leichter, als sie beide erwartet hatten. Das größte Problem war zu verhindern, dass der Baum irgendwo hängen blieb. Bevor es dunkel wurde, lagen drei Baumstämme über dem kleinen Fluss und bildeten so einen schmalen Steg. Stolz sah Erol auf das Werk, dann folgte er Fira zu seiner Behausung.

Erol sah bis zuletzt nicht die Unterkunft. Erst als Fira hinter Büschen verschwand, sah er eine schmale Tür. Er legte seine Satteltaschen ab und ganz vorsichtig zwängte er sich durch die Tür. Es war stockdunkel, bis der unstete flackernde Schein eines kleinen Feuers in einer Nische die Felswände erhellte.

Er war schockiert, wie klein die und primitv diese Behausung war. Es war eine kleinen Felsspalte, nicht viel breiter als drei Meter und doppelt so tief. Das Dach war sehr tief, kaum schulterhoch. Der Boden bedeckten irgendwelche vertrockneten Pflanzen. Außer der Feuerstelle mit ihrem natürlichen Kamin gab es nur noch ein wackliges Regal. Kein Bett, kein Tisch, ja nicht einmal eine Decke sah er. Und natürlich erst recht kein elektrisches Licht.

«Wir haben uns jetzt wirklich ein Abendbrot verdient. Die Suppe muss noch etwas kochen, aber wir können ja schon mal mit dem Brot anfangen.»

Schweigend aßen sie das Abendbrot. Es gab altes Eichelbrot, dazu noch einen Rest Käse, den Fira eingelagert hatte. Nach einer kurzen Weile war Fira satt. Erol wurde es immer peinlicher weiter zu essen. Er hatte schon die dreifache Menge von Fira verdrückt, und war noch nicht einmal richtig satt. Obwohl ihn Fira immer wieder ermunterte, fühlte er sich als Dieb und hörte auf.

«Es lecker schmecken. Lang Zeit ich Zentaurenkäse hatte essen. Und Brot gut auch.» Erol nickte Fira zu, doch scheinbar verstand er ihn nicht so richtig. Er verfluchte wiederholt, dass sie auf dem Hof nur Englisch geredet hatten. Um Fira zu verstehen zu geben, was er meinte, griff er nach seiner Satteltasche und holte ein Solarmodul heraus. «Für Essen»

Fira starrte entgeistert auf das Modul. Er kniff kurz die Augen zu, schüttelte den Kopf.

«Fira nicht gut?», fragte Erol besorgt.

«Doch, doch», erwiderte Fira schnell. «Äh, funktioniert das? Ist das ein Solla Modl

«Ja, ein Solarmodul. Für Fira, für Essen.»

«Terol, ich kann es nicht annehmen. Stecke es bitte weg.»

«Fira nehmen. Ich eins null haben.»

Firas Augen wurden zu Wagenrädern. Sein Mund stand offen. Erol sah ihn besorgt an. Doch dann fing sich Fira wieder. «Du hast keine Ahnung, was das wert ist. Oder?» Und er erklärte ihm, was ein Zentaur von Geld wissen musste. Zuerst musste er Erol überhaupt das Konzept des Geldes erklären. Und endlich verstand Erol: Was er da in der Hand hielt, dafür musste ein Zentaur ein ganzes Jahr hart arbeiten. Trotzdem drückte er es Fira in die Hand.

Und Fira erklärte ihm noch mehr: Dass der Lohn für ein Essen üblicherweise in einer Geschichte bestand; und die Geschichte von dem Hof der Kaltblutzentauren sei mehr als genug gewesen. Und dann begann er mehr zu erzählen, wie die Zentauren hier lebten. Und von den Blauen, von den Sire, von Handelszentauren, von Tramps und schließlich von sich und dem Leben hier draußen. Erol lauschte gespannt; er verstand zwar nicht alles. Aber es war spannender und wichtiger als alles, was er bis jetzt gelernt hatte.

Während Fira erzählte, kniete er sich kurz hinter Erols Mähnenansatz und begann die geschundenen Schultern-, Vorderhüft- und Armmuskulatur zu massieren. Erol genoss und wollte sich revanchieren, doch er setzte zuviel Kraft ein; außerdem fehlte ihm jegliche Übung.

 
Fira schreckte hoch. Was war das für ein merkwürdiges Geräusch? Es war eine sehr verzerrte und abgehakte Melodie. Er sah sich schnell um; doch es war immer noch dunkel. Da regte sich auch Erol. «Nnn. Es ist ja noch dunkel! Morgen»

«Terol, was ist mir dir? Alles in Ordnung? Und hörst du das auch?»

«Ah Fira.» Da fiel Erol wieder ein, Zentaurisch zu reden. Er quittierte den Alarm. «Uhr sprechen. Ende schlafen. Gut Morgen»

«Du bist wirklich der seltsamste Zentaur, von dem ich je gehört habe. Bleib noch etwas liegen, ich mache Frühstück.»

Waren es gestern noch die Beine, die ihm schmerzten, so waren es heute der obere Rücken, die Arme und die Schultern. Selbst die Bewegungen beim Essen taten weh. Wenn Erol die Arme nicht unbedingt brauchte, ließ er sie einfach herunterhängen. Dann schob er sich wieder vorsichtig durch die Tür. Mit Abendbrot und Frühstück in den zwei Magenkammern passte er nicht mehr so recht durch den Türrahmen. Mit Firas Hilfe blieb die Tür doch stehen.

Fira half auch beim Packen und schnallte ihm die Satteltaschen um. Dann war Erol fertig zum Aufbruch. Aber auch Fira hängte sich einen Beutel um.

«Terol? Könntest du mich eigentlich tragen? Du verstehst?»

«Ja. Kommen!» Erol kniete sich hin.

Fira stellte sich quer über seinen Rücken. Erol stand auf und ging vorsichtig los. Weit konnten sie so natürlich nicht kommen, dazu war der Pfad zu eng. Also ließ er den lachenden Fira wieder herunter.

«Du zeigen Weg zu Bend?»

«Ich komm' mit», sagte Fira. «Und ich werde dir alles von den Zentauren erzählen, und ich werde dir Zentaurisch beibringen. Dann kannst du mir vielleicht das Sollarr Moddull geben. Los geht's.»


 
Es war sehr früh am Morgen. Fast alle standen sie um die acht frischen Gräber neben den Mauern von Saba. Flicker stand bei Tom und weinte. Sie hatte die Verantwortung für die acht Toten, egal was Tom zu ihrer Beruhigung gesagt hatte. Und sie würde keine Grabrede halten.

Tom seufzte. Die Zentauren brauchten ein Symbol. Und das war eben Flicker, weil sie weiß war. Doch so, wie es aussah, würde eher Raldron einen Führer abgeben denn Flicker und dass konnte Tom einfach nicht zulassen. Also hielt er die Rede selbst.

Noch einmal atmete er tief durch. «Es hat acht Tote zuviel gegeben. Ich übernehme dafür die Veranwortung. Ich wollte nie euer Führer sein, aber die Umstände haben mich dazu bestimmt. Wenn all das hier sein Ende gefunden hat, dann werde ich mich einer Gerichtsverhandlung stellen. Solange bitte ich um euere Geduld.

Als nächstes braucht es Frieden. Dazu habe ich eine gute Nachricht: Die Regierungs-KIs der Menschen werden mit uns reden. Über neue Gebiete für uns, vielleicht über mehr. Vielleicht werden in zehn Jahren Sire wie Blauer, Mensch wie Brauner Tür an Tür zusammen leben und arbeiten. Wir würden Strom aus den Energiesatelliten bekommen. Vielleicht werden Zentauren ins All fahren. Über all das werden wir reden. Ich brauche zwei Freiwillige, die bereit sind, einen Menschen von Fort Worth hierher zu tragen.»

Zuerst nickten sie, dann sahen sie überrascht aus und am Ende der Rede wusste keiner mehr recht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Tom sah es den Gesichtern deutlich an. «Ich lass' doch keinen Menschen auf mir reiten!», rief irgendwer.

«Ich möchte gehen», trat Raldron vor. «Immerhin kann ich etwas Englisch.»

Ein überraschten Atmen ging durch den Kreis. Gemurmel begann. Jetzt baute sich ein Zentaur aus Flicker Gefolge aus Burns vor Tom auf. «Tom, was du verlangt ist eine Frechheit. Wir sind immerhin Zentauren.»

«Ob du nun hundert Kilo Steine oder eine KI trägst, wo ist der Unterschied?»

«Steine greifen mich nicht an!», rief der Zentaur empört.

Was sagte der Zentaur? Das war doch ausgemachter Schwachsinn! «Kein Mensch wird dich angreifen», sagte Flicker.

Doch Tom sah, dass sie Flicker nicht so recht glaubten. «Du willst dem Menschen nicht zeigen, dass er auf deinem Rücken nur deine Gesetze gelten? Dass, egal was er versucht, es schließlich nur auf dich ankommt?» Tom lächelte. «Wir haben immerhin einen Friedensvertrag, er wird dich also nicht angreifen. Und vergesst nicht, wir sind mit dem Magnetic der Menschen hierher gefahren. Genug Gründe, auch einmal einen Menschen zu transportieren. Aber ich sehe keinen Grund, warum du ihn unentgeldlich befördern sollst. Selbst für Steine gibt's ja Geld. Also, gibt es noch weitere Freiwillige?»

Der Zentaur schüttelte zwar den Kopf, erwiderte aber nichts mehr. Nun begannen zögerlich, sich weitere Freiwillige zu melden. Sie wählten zwei aus. Raldron bestand zusätzlich darauf mitzugehen. Und Frunje wollte unbedingt mit. So zogen dann vier Zentauren mit Flickers Computer los.

«Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee war», meinte Tom zu Flicker. «Den Computer mitzugeben, meine ich. Die KI der Magnetic-Station hätte bestimmt nicht auf sie geschossen.»

«Ich glaube, wir können Raldron vertrauen.»

«Ich wünschte, er wäre kein Sire gewesen», seufzte Tom.

 
Den ganzen restlichen Tag beseitigten sie das Chaos auf der Burg. Tom sah Flicker oft am Fenster stehend, hinausblickend zu der Böschung, wohin der Weg zum Magnetic führte. Doch es waren fast 240 Kilometer, sie würden frühestens Morgen überhaupt in Reichweite von Fort Worth zum Telefonieren sein. Frunje würde das erledigen. Und dann bräuchten sie nochmal einen Tag, bis sie an der Magnetic-Station wären. Und dann müssten sie bestimmt zwei Tage Pause machen, nach diesem Gewaltmarsch. Flicker schien es immer noch zu bedauern, dass sie hierbleiben musste. Doch er hatte es ihr lange erklärt, und sie hatte genickt.

Es gab genug zu tun, um sich abzulenken. Am zweiten Tag war die Burg langsam von Möbeltrümmern befreit, und am dritten Tag hatte jeder einen festen Platz zum Schlafen gefunden. Die ganze Zeit redete Tom von den Plänen, wie die Burg wieder für alle Zentauren ein Ort werden könnte. Je mehr er sprach, umso stiller wurde Flicker.

Nun begannen sie die Burg auf die Verhandlungen vorzubereiten. Da kam ein hochgewachsener schwarzer Zentaur auf Flicker zu: «Viel Land und Friede. Ich bin 1671», sagte dieser auf Englisch.

Flicker ließ den Stuhl fallen, den er gerade trug. «Tom!», rief sie. «Komm her!»

Tom galoppierte durch den Saal, dass die Dielen dröhnten. Beim Abbremsen kam er jedoch auf einen Teppich, so dass er vorne ausglitt und auf dem Teppich rutschend direkt vor ihren Hufen zu stehen kam. Flicker unterdrückte mühsam ein Lachen und half ihm hoch. «Tom, mmpf, hier ist eine KI.» Dann musste sie sich wieder abwenden.

«Geht es jetzt wieder?», fragte Tom beleidigt. Doch dann musterte er die KI. «Du bist wirklich eine KI?»

«Ja», sagte diese. «Dieser Körper ist vollständig robotisch. Ich habe zwei Radionukleidgeneratoren in mir.» Die Zentauren-KI griff an das Vorderbein und klappte es auf. Flicker und Tom erstarrten. Unter der Schale mit dem Fell waren Drähte, Schläuche und Metall zu sehen. 1671 klappte den Oberschenkel wieder zu. «Ich will euch danken.»

Jetzt waren die beiden noch verwirrter. «Wieso, ich verstehe nicht. Ich meine, wir haben dich doch entmachtet.»

Der KI-Zentaur nickte. «Ja. Aber die anderen KI haben die Störsender abgeschaltet. Ich kann wieder mit ihnen reden. Du weißt nicht, was das für eine KI bedeutet.»

«Hast du Nachrichten von den anderen?», fragte Flicker.

«Deswegen bin ich gekommen. Sie werden morgen Mittag zusammen mit 14, 271 und Jennifer hier eintreffen, soll ich ausrichten.»

«Morgen!», rief Flicker. «Verdammt, wir sind noch nicht so weit.»

«Warum hast du dich nicht gemeldet, um die KI zu holen?», fragte Tom leicht ärgerlich.

«Meine Generatoren liefern zusammen kurzfristig maximal 700 Watt. Davon brauche ich 200 für mich, 250 für die Kühlung. Ich kann keinen Menschen tragen; ja ich kann nicht einmal richtig arbeiten. Dieser Körper ist sehr empfindlich.»

«Du hilfst uns!», sagte Flicker resolut. «Einen besseren Dolmetscher gibt es nicht. Und du führst Protokoll. Hast du eigentlich noch einen richtigen Namen?»

«Tki 1671» Die KI verneigte sich.

Tom traute ihr zwar nicht ganz, schwieg aber. Und mit keinem Wort waren die anderen KI erwähnt, noch kannte man deren Aufenthaltsort.

 
Am nächsten Morgen waren sie schon keinesfalls bereit, die Gäste zu empfangen. Der Raum war zwar hergerichtet, die Unterkünfte waren bereit. Doch Tom und Flicker saßen im Konferenzsaal und überlegten immer noch, über was man eigentlich reden sollte, und in welcher Reihenfolge. Ein großes Durcheinander war zu erwarten. Am meisten störte Tom allerdings, dass es Flicker gar nicht so richtig zu interessieren schien, was nun geschehen würde, abgesehen von dem Bau dieses dummen Raumschiffes.

Mittags waren sie kaum weiter gekommen. Da kam durch das offene Fenster ein Flicker vertrautes Geräusch. Sie sprang zum Fenster hin. Und richtig, dort über der Ebene kamen langsam vier Flugzeuge auf die Burg zu. Die größten Flugzeuge, die Flicker je gesehen hatte. Auch Tom stand jetzt neben Flicker am Fenster. Immer mehr Zentauren strömten aus dem Burgtor, den landenden Flugzeugen entgegen. Dann sah er, wie aus dem ersten Flugzeug stolz Raldron ausstieg. Die Zentauren jubelten. Flicker lächelte: Es war wirklich klug von den KI gewesen, mit Flugzeugen und Zentauren hierher zu kommen.

Als nächstes stieg Athur aus. Es musste Athur sein, selbst aus einem Kilometer Entfernung war Flicker sicher. Es sei denn, es gab noch mehr Bürger, die sich mit einem schwarzen Zylinderhut kleideten. Er schwang sich auf Raldron. Dann galoppierte Raldron los, so schnell er konnte.

Schnell liefen auch Tom und Flicker zum Tor. Von weitem sahen sie sie angaloppieren: Raldron und Athur, einen zweiten Menschen auf einem Zentaur von Burns und zum Schluss Jennifer auf dem gelben, wie hieß er doch gleich, und daneben lief Frunje.

Raldron war der Erste. Athur saß so aufrecht auf seinem Rücken wie immer, eine Hand auf der Schulter von Raldron, mit der anderen hielt er seinen Hut fest. Es sah so lächerlich aus, Flicker brach fast vor Lachen zusammen. Die anderen sahen sich fragend um. «Athur, nein, wie kannst du, ... », hörten sie Flickers Gestammel auf Englisch, ohne es natürlich zu verstehen.

Dann standen sie alle vor dem Tor. Die Bürger waren abgestiegen. Als Erstes rannte Jennifer auf Flicker zu und warf sich ihm in die Arme. «Ach Flicker, ich bin so froh, dass alles funktioniert hat. Und ich danke dir aus ganzem Herzen, dass du mich heute eingeladen hast. Heute, wo zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Geschichte gemacht wird. Danke.»

Flicker wusste nicht recht, wie ihm geschah. Doch dann ließ sie auch schon wieder los. Jetzt trat Athur vor. Er nahm den Hut ab, und verbeugte sich tief und sprach in bestem Zentaurisch: «Flicker van Klemt, liebe Zentauren, liebe Bürger. Mein Name ist Athur Turner. Ich bin Nummer 14, die älteste noch existierende KI. Ich kann für alle KIs der Bürger Nordamerikas sprechen. Ich danke euch allen für die Einladung. Hoch leben die tapferen Zentauren!» Gekonnt warf er den Zylinder in die Luft und fing ihn wieder auf, ohne die Hand auch nur das kleinste Bisschen bewegt zu haben. «Hoch!» Mehr Zentauren fielen mit ein. «Hoch!» «Hoch!» Beim dritten Mal war es ein tosendes Donnern geworden. Die Zentauren trommelten mit ihren Vorderhufen.

 
Sie waren jetzt zu siebt im Konferenzzimmer. Auf der Fensterseite saßen Jennifer, Taskan (eine australische KI) und Athur Turner. Ihnen gegenüber waren Raldron, Tom und Flicker. Am Kopfende stand Tki 1671.

Den Tisch hatte man mit dem neuen Banner der Zentauren in der Mitte geteilt. An die Wand projezierte Flickers Computer eine aktuelle Ansicht Nordamerikas; grün waren die Gebiete der Zentauren, blau die der Bürger markiert. Viele große weiße Flächen waren dazwischen, die nicht geklärten Gebiete.

Tom führte den Vorsitz. Flicker wollte nicht, und Raldron sollte nicht. Sie sprachen Zentaurisch, da Jennifer die einzige war, die es nicht richtig verstand. Englisch wiederum sprachen Tom und Raldron nur schlecht. Und schließlich war es die Burg der Zentauren.

«Gut, auf Flickers Vorschlag seid ihr eingeladen worden. Unsere erste Forderung ist sehr einfach: Gebt uns das All frei! Wir wollen eigene Energiesatelliten, eigene Kommunikationssatelliten. Wir möchten gleichberechtigt anerkannt werden.» Tom trat einen Schritt zurück, um anzudeuten, dass er fertig war.

«Einverstanden», sagte Athur. Selbst Flicker blieb die Luft weg. «All das ist auch unser Ziel. Wir bieten den Zentauren sogar noch mehr: alle Satelliten, die zu der Nordamerikanischen Union gehören, sollen unser sein. Unser aller. Denn wir schlagen einen gemeinsamen Staat vor. Einen Staat, dessen Repräsentanten gewählt werden. Ein jeder darf kandidieren, sei es Zentaur, Mensch oder KI.»

«Wir sollen gemeinsam mit Bürgern leben?» Tom hatte mit so etwas nicht gerechnet. «Ich glaube nicht, dass ein Zentaur sich von einem Menschen regieren lassen wird.»

«3317 wurden die letzten Wahlen abgehalten; damals gab es weniger Kandidaten als Wahlkreise. Die Gefahr besteht kaum. Selbst wenn ein paar Wahlkreise von Menschen oder KIs gewonnen werden; die Zentauren werden mit Sicherheit die Mehrheit in der Regierung stellen.»

Raldron und Tom flüsterten lange. Raldron war sofort überzeugt, nur Tom war noch immer skeptisch. Schließlich nickte Tom Athur zu. «Wir sind einverstanden.»

«Es ist sehr schön, dass wir uns grundsätzlich einig sind. Für eine Übergangszeit von 25 Jahren schlage ich vor, dass jedem Minister ein Zentaur und eine KI als Berater zugeordnet sind.»

Die Zentauren verstanden nicht. Selbst Flicker konnte mit Minister nicht anfangen. «Wir verstehen nicht, was du willst», sprach Tom. «Aber Posten im Vorhinein wollen wir nicht vergeben.»

Athur verzog keine Mine. Es könnten noch lange Verhandlungen werden. Aber die schließlich hatte die KI ja schon anderthalb Jahrtausende auf soetwas gewartet. «Ihr versteht nicht,», begann er.


 
Mittlerweile war es fast eine Woche her, seit sich Tjanzer verletzt hatte. Immerhin hatte ihm das ihm ihre Mission wieder zu Erinnerung gebracht. Doch gleichzeitig hatte die Woche in ihm etwas ausgelöst: den Wunsch, nicht die Auswüchse zu bekämpfen; es musste sich etwas grundlegend ändern. Der Versuch, Zentauren beliebige Namen zu geben war untauglich gewesen, die Zeit war dafür noch nicht reif gewesen. Alle schwiegen sie höflich darüber. Doch einfach weiter machen wie bisher, von Mine zu Mine ziehen, das wollte er nicht. Er würde Eureka nicht eher verlassen, bis er eine neue Idee hatte, das stand für ihn fest. Statt dessen würde er arbeiten, da konnte er genug überlegen.

Es war noch früh am Morgen, die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen. Leise schlich sich Tjanzer aus dem Gästehaus, hängte sich seine Marke über die Vorderhüfte und schloss den Riemen für die Körbe. Er selbst war sich nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee war, der Hinterlauf schmerzte zwar nicht mehr, aber so viel Belastung ... Andererseits zog es ihn einfach hinaus. Und er musste es sich und den anderen einfach beweisen.

Zuerst wurde er in der Dunkelheit kaum wahrgenommen. Unten im Schlund war es noch stockdunkel. Tjanzer ließ seine Körbe nicht so voll machen, eine Verletzung, bedauerte er. Der Vorarbeiter nickte bloß, ohne überhaupt aufzusehen.

Während er die langen Spiralen hinaufstieg, kletterte die Sonne über den Horizont, und auch ein blinder Zentaur konnte den Sire in ihren Reihen erkennen, der geduldig mit ihnen nach oben trottete. Die Reihen begannen zu wanken. Doch wenn sein Vordermann zur Seite trat, um ihm Platz zu machen, dann trat Tjanzer ebenfalls zur Seite und drehte sich um, den Grund zu suchen. Dann lief sein Vordermann wieder weiter. Schließlich kam ein Vorarbeiter heraufgaloppiert.

«Warum arbeitest du?», fragte dieser keuchend.

«Du arbeitest doch auch», antwortete Tjanzer.

«Du bist doch ein reinrassiger Sire. Jeder kann es sehen, sogar riechen.» Er schien wirklich überrascht. «Warum arbeitest du?»

«Du siehst meine Marke? Ich habe hier schon fast einen Monat gearbeitet. Ich will mein Geld wie jeder ehrliche Zentaur verdienen. Ich will niemanden bestehlen, ich will keiner Leute Almosen. Wenn du mich heute abend einladen würdest, dann würde ich dir eine Geschichte erzählen, wie es sich gehört. Vermutlich sogar eine gute Geschichte.» Er lächelte. «Ich lade dich ein, vielleicht kennst du ja ein paar Geschichten aus dem Schlund. He du, lass uns weitergehen, wir behindern alle.» Er gab dem völlig verwirrten Zentaur einen Stoß. «Also, ich heiße Tjanzer, du bist heute abend eingeladen. Ich wohne noch bei Rid.»

Der Vorarbeiter blieb verdattert stehen, während sich die Kolonne langsam wieder in Bewegung setzte.

Immer wieder wollten die anderen Tjanzer vorlassen, doch immer wies er es bestimmt zurück. Am Entladebalken nahm er die gleiche Brotration wie alle im Empfang und ließ sich die Ladung auf seine Karte eintragen. Alle wirkten sie hilflos, doch was sollten sie tun? Und er hatte eine Marke, und er war schon häufiger im Schlund gewesen, daran war kein Zweifel. Also behandelten sie ihn nach einer Weile auch nicht anders.

Er war gerade beim dritten Abstieg, als er Stimmen hörte. «Zur Seite!», wurde gerufen. Irgendwer galoppierte den Weg hinunter. Mechanisch trat auch Tjanzer etwas zur Seite und kaute auf dem Kanten herum. <So schnell sollte man aber hier nicht herunterlaufen!>, dachte er bei sich.

«Mein Sire. Rodast!»

Es war Tik, die so herunterlief! «Langsamer!», rief er ihr zu.

Doch sie galoppierte weiter, bis sie neben ihm stand.

«Sire, wie kannst du das bloß tun! Bist du von Sinnen? Noch dazu mit deiner Verletzung!»

«Wir können das Geld doch gut gebrauchen.»

Tik stand mit offenem Mund dar. Nach einem Moment hatte sie sich gefasst. «Was hast du gesagt?»

«Das ist das erste Geld, das ich selber verdient habe. Ich will mir davon eine Querflöte kaufen, also werde ich noch ein paar Wochen hier arbeiten. Bitte, Tik, du weißt, ich liebe dich. Ich tu' das nicht, um dich zu verletzen. Aber irgendwie bin ich es mir selber schuldig. Bitte lass mich weitermachen, ein paar Wochen noch.» Er ging auf sie zu und umarmte sie fest. Es war nicht ganz die Wahrheit, Querflöte war ihm merkwürdigerweise als Erstes in den Sinn gekommen; wichtig war für ihn nur, auch als Sire zu arbeiten. Die erste richtige Arbeit in seinem Leben.

«Ich habe Angst um dich!», flüsterte sie.

«Wenn du so schnell heruntergaloppierst, habe ich mehr Angst um dich. Bitte, sag' ja.»

«Ich kann es dir nicht ausreden?» Er schüttelte den Kopf zur Antwort. «Dann werde ich dir folgen.»

Er konnte es Tik auch nicht ausreden. Sie umarmten sich lange, bis schließlich der Hintermann sich räusperte.


 
«Diese arroganten Idioten!» Erol schimpfte immer noch, obwohl Burns nun schon fast zwei Stunden hinter ihnen lag. Um seinen Ärger weiter abzureagieren, machte er einen gewaltigen Satz. Fira musste wieder einmal in einen kurzen Galopp wechseln, um nicht weiter zurückzufallen. Das war das anstrengenste an Terol.

« Wie hieß die doch gleich? Tjirrtos. Keine 20 Jahre, und maßt sich an, entscheiden zu können, dass ich als Handelszentaur nichts tauge. Ich sei zu sehr eine Motivation. Ha, dabei konnte die nicht auf einen 1200 Jahre alten Stammbau zurückblicken. Und ich sprechen zu schlecht Zentaurisch. Idioten, das tat schließlich nichts zur Sache. Dass ich besser Englisch als diese Schnösel von Zentaur kann, dass ... »

So ging das nun die ganze Zeit. Und fast alles war Englisch, Fira verstand fast nichts. Letzteres war allerdings eher eine Erleichterung. Das Thema war ohnehin klar. Fira seufzte. «Sie sagte Mutation. Und können wir bitte bitte etwas langsamer traben?»

Was Erol aber am meisten zu schaffen gemacht hatte, war die Ablehnung, die ihm entgegen geschlagen war. Fira schien daran gewöhnt. Doch Erol war stolz darauf, einer der kräftigsten Kaltblutzentauren zu sein, so viel hatte er vom Hof mitgenommen. Aber hier sahen ihn die Zentauren wie eine Mutation an, die besser heute als morgen verschwinden sollte. Gut, auf einem Foto ohne Maßstab konnte man ihn für einen Blauen halten.

Nicht, dass dies viel erklärt hatte. Erol war auch die Selbstverständlichkeit, mit der Fira die Ablehnung hinnahm, ein Schock. Trotz alledem waren sie zur Universität gegangen. Eine Studentin hatte sie vor dem Portal abgefangen und zum Essen eingeladen. Tjifrien hieß sie.

Sie war der einzige Lichtblick ihres Aufenthaltes in Burns. Sie hatten sich auf Englisch unterhalten, sie war dankbar dafür, dass sie ihr Englisch trainieren konnte. Und er war schockiert, wie schlecht doch manchmal ihr Englisch war, fast so schlecht wie sein Zentaurisch. Dabei sollte sie in einem Monat den Abschluss als Handelszentaur machen.

Aber viel schlimmer war, was sie von der Universität erzählt hatte. Das man dort eigentlich nur noch Recht, Medizin und Englisch lernen konnte. Die Universität, von der sie erzählte, war so völlig unterschiedlich von der, die er nach den Erzählungen der KIs erwartet hatte. Natürlich sagte er es auch; er erzählte von Forschung und von Mathematik und Physik, von Computern und irgendwann auch wieder von sich.

Es war Nachmittag, als sie sich wieder getrennt hatten. Zum Schluss hatte sie ihm angeboten, sie auf ihren Handlungsreisen zu begleiten. Er hatte genickt, natürlich gerne, doch zuvor würde er seine Englischprüfung machen.

Sie hatte ihn traurig angesehen, hatte betont, dass ihr Angebot trotzdem gelte. Er hatte es erst zwei Stunden später verstanden, nachdem sechs Rotjacken ihn aus der Universität schleppten. Kaum war er auf dem Platz gewesen, da hatte er sich losgerissen. Er würde es diesen Idioten zeigen.

«He, Terol, es wird Nacht», rief Fira ihn aus den Gedanken. «Ich sehe bald keinen Stein mehr vor meinen Hufen. Lass uns einen Rastplatz suchen.»

Erol wählte seine Wort sorgfältig. Er wollte nicht mehr wie ein schwachsinniger Zentaur reden. «Fira hat Recht.» Er wurde langsamer und sah sich um. Heute nacht würde es keinen schönen Lagerplatz geben, sie waren in einer trockenen staubigen Landschaft.

 
Ein kleiner Felsen diente ihnen als Windschutz. Die angewehten Tumbleweeds boten nur Holz für ein kleines qualmendes Feuer. Schon weit vor Mitternacht war es unter dem Gefrierpunkt. Er ließ Fira sich dicht neben ihn legen, mit der Isomatte und ihren zwei Decken ging es gerade so.

Am Morgen ließen sie sich Zeit. Sie kochten sich einen Tee, und striegelten sich gegenseitig den Staub aus dem Fell. Dann endlich war die Sonne durch die Wolken gekrochen und sie zogen los.

Gerade ein halbe Stunde nachdem sie aufgebrochen waren, hörten sie einen Zentaur den Weg entlang galoppieren. Neugierig bleiben sie stehen.

Der Zentaur war Schweiß überströmt, als er ebenfalls bei ihnen stehen blieb. Aus einer Tasche zog er einen Umschlag hervor. Keuchend hielt er ihm Erol hin.

«Komm, hier ist etwas zu trinken.» Fira reichte dem Zentaur den Wasserschlauch.

Inzwischen hatte Erol den Umschlag geöffnet. Es war ein Brief von Tjifrien, der Studentin aus Burns. Sie hatte von seinem Rausschmiss erfahren und entschuldigte sich dafür. Dann schrieb sie, dass sie sich wirklich freuen würde, wenn er sie beim Handeln eine Zeit lang begleiten würde. Falls sie sie nicht zum Umkehren bewegen könnte, würde sie ihnen raten zu der großen Mine in Eureka zu gehen, wo man einen so starken Zentaur freudig empfangen würde. Sie würde dann ebenfalls nach der Wintersonnenwende in den Süden reisen.

Als Postscriptum stand da noch, eine Anwort habe sie bereits bezahlt.

Also drehte er den Brief um und schrieb, dass sie auf keinen Fall mehr nach Burns zurückgehen würden. Aber für den Vorschlag mit Eureka seien sie sehr dankbar. Zumindest den Winter würden sie vielleicht dort bleiben.

Der Bote konnte inzwischen wieder vernüftig reden. Fira hatte ihm etwas geholfen, sich den Schweiß abzuwischen, so dass er sich wieder ein Hemd anziehen konnte. Sie aßen noch etwas gemeinsam, und dann machten sich Erol und Fira auf den Weg nach Süden.


 
Es war Anfang Dezember. Der erste Frost hatte Eureka erreicht, und die Wege schlüpfrig gemacht. Noch immer stiegen Tjanzer und Tik in das Loch. Die Wirkung war immens: Kein Aufseher stand jetzt einfach nur gelangweilt herum, zumindest nicht, wenn ein anderer mehr tat als er. Rid streute jetzt die Wege mit Sand, das lag ihr mehr als die Plakerei mit den Körben. In den letzten zwei Wochen war so trotz des Frostes die Produktion um fünf Prozent gestiegen.

Alle arbeiteten sie jetzt im Schlund von Eureka. Schnell hatten sich die anderen Zentauren an den Sire im Schlund gewöhnt. Obwohl Tik versuchte, ihn weiterhin Sire oder Rodast zu nennen, war er doch für die meisten einfach Tjanzer, bis auch Tik schließlich aufgab.

Tjanzer ging jetzt auch regelmäßig zu der Sammelunterkunft zum Abendbrot. Zuerst gab es auch hier wieder einen Auflauf. Aber Tjanzer war stur wie ein Bock; und nach einer Woche sah niemand mehr auf, wenn ein Sire die Sammelunterkunft betrat. Niemand machte mehr Platz, wenn ein weißer Zentaur kam. Auch nicht, wenn es Rid war.

Tjanzer war gerne in der Sammelunterkunft. Die anderen konnten das nicht verstehen. Sie sahen kopfschüttelnd zu und machten gute Mienen zum bösen Spiel. Sie verstanden ihn einfach nicht.

Tjanzer selbst verstand sich ja auch nicht. Gut, dieses Leben der falschen Sire in McDerwitt in ihrem Schloss mit Zentauren als Sklaven, das war ihm so fremd und krank erschienen wie sonst irgendwas. Aber hier gab es sowas nicht. Ok, ein paar falsche Sire. Aber die lebten nicht in einem Schloss, sie bekamen lediglich mehr Geld, weil sie es irgendwann zum Aufseher geschafft hatten.

Aber arbeiten, irgendwie brauchte er das, einen Kontrast zu seinen vorherigen Leben. Die Arbeit machte das Leben farbiger, intensiver, die Abende in der Sammelunterkunft lustiger, die Sonnenaufgänge am morgendlichen Schichtende prächtiger, den Sternhimmel dunkler. Und der monotone Tritt, den sie schritten, ließ viel Zeit zum Nachdenken, mehr sogar noch als vorher, als sie unterwegs waren.

Vieles ging ihm durch den Kopf. Oft war es Tik, die sich gleichzeitig um ihn sorgte, aber auf seine Zuneigung so zurückweisend reagierte. Er verstand diesen Zentaur einfach nicht. Falls er nicht an Tik dachte, dann waren da die anderen Zentauren, und die Aufgabe, die die KI ihnen gegeben hatten.

Je länger er daran dachte, umso mehr sah er die Größe der Aufgabe, umso mehr resignierte er. Und dann erkannte er es: So konnte er den Zentauren nicht richtig helfen. Es war schön gewesen, die befreiten Zentauren von McDerwitt zu sehen. Das war aber eine einzelne isolierte Aktion gewesen. Doch gegen die jahrhundertalte Missachtung der Blauen war genauso wenig ein Kraut gewachsen wie gegen Habgier und Machtgelüste, oder im kleinen Eigennutz und Betrug.

Ein jeder Zentaur schien einen zu brauchen, auf den er herabblicken konnte; sei es ein Brauner, ein Blauer, ein armer Schlucker, ein Mensch, ein falscher Sire, ein Ausbeuter. Die Auswahl war groß. ,,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" ,,Was du nicht willst das dir getan, dass tu auch keinem anderen an." Ohja, Sprüche gab es genug in den 10 Jahren Hochkultur auf diesem Planeten. Was hatte man nicht schon alles an Kommunen, Religionen, Verfassungen, Systemen, -ismen, und Gesetzen ausprobiert! Nichts hatte der Realität standgehalten, was nichts letztlich auf der Maximierung des Reichtums der Herrschenden basierte. Er konnte keinen Zentauren vollständig befreien, denn es wollte niemand befreit werden. Selbst er war freiwillig der Unfreiheit verfallen gewesen, als er die Kraftdrogen genommen hatte.

Sein Unvermögen eingestehend, zusammen mit dem empfundenen Unwillen, Politik zu machen, trottete er in den Schlund, auf der Suche nach einer besseren Idee.


 
Tjiba, eine stattlichere ältere Braune stand draußen vor ihrer Hütte. Sie hatte gerade ihre vierte Fuhre hoch gebracht und kaute auf dem Abendbrot herum, während sie noch ein wenig die ersten Sonnenstrahlen genoss. Da sah sie einen Zentauren den Weg flott herunter traben. Die Wolken, die der Atem in der Luft hinterließ, bewiesen, dass dieser dort schon länger so gelaufen war. Kaum hatte dieser sie erblickt, hielt er auf sie zu.

«Guten Morgen», stieß er keuchend aus.

«Guten Morgen. Was kann ich für dich tun?», fragte sie.

«Ich suche die Sire.»

«Komm erst mal rein, du bist ja ganz durchgeschwitzt. Hier, ich werde dich erstmal trocken reiben.» Beide lächelten sich zu. Der Zentaur zögerte kurz, trat dann aber in die etwas wärmere Stube.

Eine ganze Weile genoss er es, einfach abgerieben zu werden. Schließlich verdrehte er sich wieder zu ihr. «Ich werde nur kurz die Nachricht abliefern und dann zurückkommen. Weißt du, wo die Sire sein könnte?»

«Ich glaube, ich habe sie vorhin beide bei der Frühschicht gesehen.»

Er sah sie groß an. «Stimmt es wirklich, dass die Sire hier arbeiten?»

Tjiba grinste. «Ja, dass sind wirklich echte Sire. Du kommst bald zurück? Es gibt ein gutes Frühstück.»

«Ich werde mich nachher auch mit einer Geschichte bedanken, wenn du willst.» Er zwinkerte ihr zu. «Ich bin gleich zurück.» Er galoppierte los, dass der Dreck hochsprang.


 
Tjanzer stand in der Schlange an der Entladebühne und fror. <Eigentlich wäre das Alles eher etwas für Flicker; schließlich war er kräftiger und hatte auch noch das dichtere Fell. Bestimmt ist er jetzt bei Tariff. Verdammt, ich sollte auch zu Hause sein.>, tagträumte er. Immerhin, noch eine Woche, dann hatte er genug. Zumindest sagte er sich das immer.

Jemand stieß ihn an. «Äh, Sire, ich habe eine Nachricht, für alle Sire. Wie heißt du? Hallo?»

«Äh, ja. Tjanzer(er). Was?» Tjanzer war noch immer in Gedanken bei Flicker, Tariff und Jacko.

Der Bote lief bei so viel Vertraulichkeit rot an. «Sire, deinen echten Namen, bitte.»

«Ach so. Rodast. Zufrieden?»

Der Bote gab ihm einen Umschlag, verbeugte sich und galoppierte schnell wieder davon.

Dieser Umschlag trug alle drei Siegel, die der Sire, der Berater und der KIs. Er riss ihn auf und las. Der Brief war von Flicker. Er hatte kurz die Ereignisse zusammengefasst.

 
Tjanzer hatte nun früher Schluss gemacht und saß mit dem Brief vor sich in der Unterkunft. Mit einem halben Ohr lauschte er den Gesprächen, während er langsam einen Berg Kartoffel-Eichel-Gratin aß. Plötzlich verstummten die Gespräche. Tjanzer sah auf: Ein außergewöhnlicher Zentaur hatte den Raum betreten.

Dieser hatte braunes, dichtes, an den Beinen zotteliges Fell. Was ihn jedoch von allen anderen Unterschied, war seine schiere Größe: er überragte alle anwesenden Zentauren um einen halben Kopf, so dass er sogar sich etwas unter den Türbalken ducken musste. Und zwei so breit wie dieser dort nebeneinander hätten nie durch die große Tür gepasst. Alle sahen sich ehrfürchtig um. Hier in Eureka galt Kraft. Und noch nie hatte jemand einen solchen Zentaur gesehen.

Der andere Zentaur sah sich um. Da entdeckte er Tjanzer und kam schnurstraks auf ihn zu. «Hallo Sire.» Er verneigte sich.

«Ich bin Tjanzer(er). In Eureka gibt es keine Sire mehr. Aber komm, ich lade dich zum Essen ein.»

Der andere machte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, nickte dann. «Danke, Sire. Ich bin Terol(sie).»

«Lass das dumme ,,Sire"! Wo kommst du denn her, erzähl uns doch von dir!» Tjanzer lächelte ihr zu und gab dem Zentaur an der Theke Handzeichen.

«Ich komme aus dem Norden. Ziemlich weit in der Mitte. Dort ist unser Hof», sagte sie langsam, als müsste sie sich an jedes Wort erinnern.

«Ich habe noch nie einen Zentauren wie dich gesehen. Ich kenne nicht einmal ein Pferd, das so kräftig wäre», sagte Tjanzer voll Bewunderung.

«Oh doch, die gibt es. Man nennt sie Kaltblüter, weil sie so kaltblütig, das heißt ruhig, sind. Die ersten zwölf Zentauren hatten Warm- oder Vollblütler als genetische Vorfahren.» In der zweiten Hälfte des Satzes hatte sie ins Englische gewechselt.

«Dein Vater war also ein Kaltblutpferd?», fragte Tjanzer interessiert, ebenfalls auf Englisch. Er merkte es nicht einmal.

«Nein, ein Kaltblutzentaur, wie ich auch. Unser Hof besteht schon seit Zeiten weit vor dem Kometen. Als die ersten Zentauren auf das Festland kamen, da hat der damalige Besitzer alles dafür gegeben, wenigstens einen oder zwei zu bekommen. Er hatte damals Kaltblüter gezüchtet. So versuchte er, durch Kreuzungen auch Kaltblutzentauren zu züchten. Das war natürlich sehr langwierig. Irgendwann im Krieg ist dann der letzte Mensch auf dem Hof gestorben. Aber eine KI haben wir immer noch. Und die machte einfach weiter, kreuzte mal Zentauren mit Menschen, mal wieder mit Kaltblütlern. Damit ja keine Degeneration eintritt. Und das hat funktioniert, wie man sieht. Bis heute.» Sie warf sich in Pose.

Tjanzer schüttelte den Kopf. «Zwingt die KI euch dazu?»

«Nein, deswegen bin ich ja auch gegangen. Sie waren nicht glücklich darüber. Aber sie haben mich nicht aufgehalten. Ich nicht, ich will etwas Richtiges tun. Für alle Zentauren. Deswegen bin ich hierher gekommen. Ich kann fast 700 Kilo Erz mit einer Fuhre hochtragen.» Sie schien wirklich stolz zu sein.

Tjanzer hatte den Mund vor Erstaunen weit geöffnet. Er schüttelte den Kopf. «Und das machen deine Beine einfach so mit?»

«Naja, ich wiege ja auch fast soviel.» Sie zuckte mit den Schultern, und wandte sich dem Essen zu, schlang es förmlich in sich hinein. Aber wenn sie wirklich das zweieinhalbfache vom ihm wog ...

Tjanzer schüttelte sich erneut. «Sag mal, musst du nicht unheimlich viel Essen?»

Sie hielt inne. «Ja, für jedes Kilogramm das 1,1-fache eines normalen Zentauren. Ich schleppe zwar mehr als die anderen, aber ich verdiene vermutlich weniger daran. Das ist mein Kreuz. Aber eigentlich geht es mir nicht um das Geld. Ich warte auf einen Handelszentaur aus Burns.»

«Willst du denn Handelszentaur werden?»

« Ich? Sieh mich an: Ich bin so weit von jeder Zentaurennorm entfernt. Nein die wollten mich nicht nehmen. Höchstens als Packpferd. Ha!», rief sie, dass die Tassen klapperten. «Und an Reichtum bin ich nicht interessiert. Ich will etwas für die Zentauren tun. Eine Wissenschaft studieren. Diese Zentauren lehren Englisch an Universitäten, und sind stolz darauf, wenn sie es akzentfrei können. Aber die wirklich wichtigen Dinge kann man nur in Nairobi lernen. Die einzige Zentaurenuniversität, die Wissenschaften lehrt.»

«Mein Vater war auch Wissenschaftler.» Zum ersten Mal war Tjanzer stolz auf Jacko. «Er war sogar im All.» Tjanzer machte eine Pause.

«Was ist?», fragte Erol.

«Normalerweise kommen zehn oder mehr Zentauren zu mir, und dann muss ich alles erzählen. Aber heute interessieren sie sich gar nicht für uns.» Tjanzer war verwirrt.

«Die können doch alle kein Englisch.»

Tjanzer sah ihn entgeistert an. «Du meinst, wir haben die ganze Zeit Englisch geredet?», sagte er auf Englisch. Dann begann er zu lachen. Erol fiel mit ein.

Die Zentauren in der Unterkunft sahen sie misstrauisch an; andererseits waren sie von diesem Sire dort schon so einiges gewöhnt, und wandten sie sich kopfschüttelnd wieder ihren Dingen zu. Aber sie hätten schon gern gewusst, was sich die beiden da erzählt hatten.

Tjanzer hatte sich wieder etwas gefasst. «Ok, bleiben wir bei Englisch. Ist es deine Muttersprache? Ich meine wegen der KI? Wie war doch dein Name?»

«Nicht alles auf einmal! Also mein echter Name ist Erol. Ich habe mich Terol genannt. Und Englisch ist meine Muttersprache, Zentaurisch spreche ist eher schlecht. Du hast es gehört. Es passt auch leider zu den Vorurteilen der Leute: Viel Muskeln, wenig Gehirn.»

«Wenn du fertig bist, dann bekommst du eine ID auf den Namen Erol», sagte Tjanzer ernst.

«Das muss dann noch mindestens eine halbe Stunde warten», meinte Erol. Sie lachten.

«Das mit deinem Hof ist interessant», sagte Tjanzer, während Erol genüsslich den zweiten Teller verschlang. «Weißt du, ich frage mich immer, was Zentauren dazu bringt, freiwillig Unfreiheit zu ertragen. Ohne Zwang, ohne Gewinn. Warum bleiben immer noch Zentauren bei euch auf dem Hof?»

Erol sah auf: «Was bringt dich dazu, so zu leben, wie du lebst? Du brauchst ein Ziel. Etwas, an dem du dich festhalten kannst. Meine Brüder sind stolz darauf, die besten Kaltblutzentauren zu sein, die Erben einer 1500-jährigen Tradition.»

Tjanzer erkannte die Wahrheit in ihren Worten. Doch was war das Ziel von den Arbeitern von Eureka? Geld? Nein, allen Zentauren fehlte ein richtiges Ziel, der Stolz, etwas zu dem sie aufblicken konnten, etwas wofür sich Ehrgeiz lohnen würde. Er überlegte laut: «Ich verstehe. Doch ein normaler Zentaur hat fast nichts, auf das er aufblicken konnte. Sklaven aus einem Genlabor ... Deswegen kamen sie damals zu Tariff. Sie suchten ein Symbol. Aber wir haben nichts, keine Religion, keine feste Überlieferung, nur ein paar Geschichten.» Er murmelte immer leiser vor sich hin.

«He, Sire, geht es dir gut?» Erol schüttle ihn.

Tjanzer war aufsprungen und klopfte Erol auf die Schulter. «Ich glaube, ich weiß jetzt endlich, was ich tun kann!»

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. «Was ist in dich gefahren?»

Da erzählte Tjanzer von dem Auftrag der KIs, von seiner Reise und schließlich von dem Umsturz, von dem er erst heute erfahren hatte. Dann schloss er: «... und du hast mir gezeigt, dass die Zentauren etwas brauchen, auf das sie Stolz sein können. Ein Erbe, eine Geschichte, eben etwas Eigenes.»

«Siehst du, ich bin überzeugt, die Zentauren brauchen Fortschritt und Wissen. Einen Ort wie Nairobi, eine Universität, die diesen Namen auch verdient.» Auch Erol redete enthusiatisch. «Und natürlich gehört zu einer richtigen Universität auch die Künste und Geschichte dazu. Du solltest mich nach Nairobi begleiten.»

Doch Tjanzer schüttelte den Kopf. «Ich will etwas für die Zentauren tun. Nairobi gibt es schon. Nur gibt es in Nordamerika eben nichts Vergleichbares. Gründen wir doch einfach eine Universität.»

Erol sah ihn groß an. «Du meinst, wir sollen eine Universität gründen? Aber dazu fehlt mir noch zu viel Wissen.»

«Ich habe dir doch von dem Brief erzählt. Bestimmt findest du ein paar KIs, die die Idee so gut finden, dass sie sich dir anschließen würden.»

Erol war noch nicht überzeugt. Man sah, wie sie sich dies in allen Konsequenzen durch den Kopf gehen ließ.


 
Es war wieder einmal Abend geworden. Raldron und Flicker waren das Ostufer hinaufgaloppiert, um sich ein wenig die Hufe zu vertreten und den Sonnenuntergang zu bewundern.

Die Sonne berührte gerade den Horizont. Der Wind war wieder kühl geworden.

«Flicker, warum hast du den Umsturz eigentlich angezettelt? Ich meine, jeder hat gemerkt, dass du nur noch der Form halber bei uns sitzt», fragte Raldron.

«Wie, auch, das war eigentlich gar nicht ich. Oder besser gesagt, ein Umsturz war nicht mein Ziel. Ich will immer noch in das All, mit einigen Zentauren losziehen, neue Welten besiedeln.» Flicker deutete ein Lächeln an. «Die alte Sage auf fremden Planeten doch noch wahr werden lassen. Dagegen ist dieser Kleinkram fürchterlich langweilig.»

Raldron nickte. «Ja, aber er ist wichtig. Ohne das würden eure Anstrengungen vergeblich bleiben.»

«Es sind eher Toms denn meine. Er ist immer noch mit Leib und Seele dabei.»

«Und er scheint mich immer noch nicht zu verstehen», seufzte Raldron.

«Ja, er ist eben ein überzeugter Rebell. Wenn er nicht diese Prothese hätte, wäre er bis an sein Lebensende herumgezogen und hätte Höfe befreit, in dem er sie angezündet hätte.»

«Er ist ein echter Idealist. Solche wie ihn gibt es nur einmal in einem Jahrhundert. Aber ich verstehe nicht, wieso er es sich mit Bürgern immer so schwer tut. Ohne sie wäre er doch schon längst tot, von Zentauren getötet.»

Flicker dachte lange nach. «Ich glaube, er ist eifersüchtig. Jeder Schritt erinnert ihn aufs Neue daran, dass die Zentauren so eine Prothese nie fertig gebracht hätten. Und er ist sehr ehrgeizig.»

«Das ist gut. Wer nichts mehr will, ist schon gestorben.» Und nach einige Zeit fügte Raldron noch hinzu: «Uralte chinesiche Weisheit.»

Der Wind rauschte im Strauchwerk hinter ihnen. Sie blieben still stehen. Der Wind spielte ihn ihren Mähnen, Fesseln und Schweifen. Das Tal mit der Burg lag schon völlig im Dunkeln, in einigen Fenstern brannte Licht. Der Wind trieb ihnen auch den Geruch von Feuer und frischem Eichelbrot zu. Dann kamen die ersten Sterne, und rechts von ihnen stand groß und rot der Mond im Nordosten.

Da regte sich Flicker. Sie streckte ihre Faust aus: «Warte nur. Einmal werde auch ich so lächelnd herabblicken!» Dann lachten sie. «Los, gehen wir.»


 
Auch Jennifer war gar nicht weit von Raldron und Flicker auf der Böschung und bewunderte mit Athur ebenfalls den Sonnenuntergang. «Athur, was fühlst du jetzt?»

«Die schwache Wärme der Sonne im Gesicht. Den Wind in meinen Haaren.» Er drehte sich zu ihr. «Vergiss nicht, ich bin Nummer 14. Ich habe eine kleine Idee, was ein biologisches Wesen fühlen könnte.»

Jennifer hatte die Antwort überrascht. Doch nach einem Moment hatte sie die kurze Verwirrung hinter sich gelassen: «Athur, kennst du Liebe, echte Liebe? Ich liebe Frunje, habe es aber ihm aber nicht nicht gesagt. Denn ist es noch ein Fohlen, erst nächstes Jahr wird es dreizehn.» Sie holte tief Luft, flüsterte dann aber: «Athur, ich möchte gerne ein Zentaur werden. Hilfst du mir? Bitte!»

Athur schwieg.

«Athur Turner, hast du mich verstanden.»

«Ja, doch ich muss noch überlegen.»

Sie schwiegen lange. Erstaunlicherweise brach dann Athur die Stille: «Jennifer, welches ist dein Eindruck von Tom? Er ist so anders als die Zentauren, die ich bisher kennen gelernt habe. Er führt die Verhandlungen so stur und zielgerichtet, wie es eher ein Mensch oder ein KI täte.»

«Wie, du meinst» Jennifer war mit ihren Gedanken ganz woanders.

Doch Athur hatte es nicht bemerkt. «Die Zentauren sind meiner Erfahrung nach Träumer, aber wenn sie sich schließlich der Realität stellen müssen, dann sind sie Realisten und Pragmatiker. Darüber hinaus sind, im Gegensatz zu einer KI, die meisten von ihnen eher faul. Tom ist der angesehene Führer der Zentauren, obwohl er so anders ist.»

«Gerade deshalb sehen die anderen vermutlich zu ihm auf, deswegen führt er sie. Flicker hat dir sicher von Toms Leben erzählt; er ist dafür geboren. Es gibt ein altes Wort: Berufung. Die alte Geschichte ist voll von Leuten wie Tom. Das ist es, was mich sicher macht, hier und heute einem historischen Moment beizuwohnen.»

Die Sonne war schon lange untergegangen, da fragte Jennifer Athur erneut: «Bitte, Athur, eine KI vergisst keine Frage. Kannst du aus mir einen Zentaur machen? Ich muss es wissen.»

«Komm, reden wir auf dem Rückweg.» Sie standen auf, klopften sich den Sand aus der Kleidung.

«Ich habe ein Problem», sagte Athur. «Wenn ich dir jetzt eine Antwort gäbe, und sie würde ,,ja, aber" lauten, dann wärst du unzufrieden. Wenn sie ,,nein" lautete, dann wärst du ebenfalls unglücklich. Die Frage ist unfair.»

«Irgendwer wird es mir schon sagen, irgendwann», erwiderte sie trotzig.

Athur nickte. «Das bestätigen in der Tat auch meine Erfahrungen. Also gut, ich denke, es gäbe zwei Möglichkeiten. Beide würde jeder Zentaur sofort ablehnen.»

Sie balancierten den engen Weg herunter.

«Du brauchst einen Zentaurensklaven, oder einen hirntoten Zentaur. Ersteres ist wahrscheinlicher. Das dauert fünf bis zehn Jahre. Dann kann man entweder versuchen, dein Gehirn samt Augen zu transplantieren, oder du wirst digitalisiert und ein Empfänger wird dem Zentauren eingesetzt.»

Sie liefen wieder schweigend nebeneinander. Aus dem Saba begann Nebel zu steigen, das Gras wurde feucht und die Kleider klamm.

Jennifer flüsterte wieder, so das ihre Worte im Rascheln des Grases fast untergingen: «Vermutlich würden die meisten Zentauren das ablehnen. Könnten wir das heimlich tun?»

«Die Liebe ist wahrlich irrational.» Sobald Athur sah, wie Jennifer wie ansetzte, kam er ihr zuvor: «Nach meiner Erfahrung ist die Wahrscheinlichkeit, dass du es in fünf Jahren noch immer tun willst, bei weniger als 30 % Wenn du weiterhin fest entschlossen bist: Alles, was man dazu braucht, ist eine Gewebeprobe. Vermutlich reichen schon ein paar Haare. Wie willst du denn werden?»

«Natürlich wie Frunje», sagte sie bestimmt.

«Jennifer, das ist keine gute Idee. Funje sieht nur so aus, weil er einen Gendefekt hat. Wer könnte denn noch Vorbild sein?»

Jennifer überlegte kurz. «Dann eben Flicker.»

Wenn Athur ein Mensch gewesen wäre, oder sogar ein echter englischer Butler, dann hätte er geseufzt und die Augen nach oben verdreht. «Jennifer, wenn Flicker das Vorbild sein soll, dann wird der Zentaur mit mehr als 60 % Wahrscheinlichkeit Busen entwickeln.»

«Wo ist das Problem?», fragte sie trotzig.

«Warum zeigt sich Flicker fast nie nackt? Dabei hat er nur Brustwarzen. Und du weißt, dass selbst Tariff Felo ablehnt, ja, Felo selbst findet ihre Busen schrecklich. Nur ein einziges Mal hat Felo sich selbst mit ihnen geliebt; als Jacko sie geliebt hatte. Wenn die Wahl bestanden hätte, Felo hätte sich sofort operieren lassen, Felo hat es mir selbst so erzählt.» Als Jennifer schon wieder widersprechen wollte, hob er die Hand. «Außerdem ist Flicker weiß. Das erregt zuviel Aufsehen, etwas das der fraglichen Sache keinesfalls dienlich wäre.»

«Schon gut, ich habe verstanden: Es soll ein ganz normaler hübscher unauffälliger Brauner sein.» Jennifer schnaubte wütend.

Schweigen gingen sie über die Zugbrücke.


 
Tjanzer arbeitete immer noch, aber eigentlich nicht mehr, um sich eine Querflöte zu kaufen. Die Arbeit war mehr nebenbei. Er hatte endlich etwas für sich gefunden. Er würde Zentaurkultur sammeln. Die gesamte Kultur, nicht nur ein paar Geschichten. Ein Buch der Zentaurengeschichten schwebte ihm vor. Dann hätte jeder Zentaur etwas, worauf er stolz sein konnte. Das war besser als alle Zentauren befreien zu wollen -- vor allem, wenn sie selbst nicht wollten. Und dann würde er mit Erol, Tik und allen, die Lust hatten, im Frühjehr losziehen, um die ersten Universität in Nordamerika zu gründen.

Deswegen war er auch, wenn er nicht arbeitete, immer in der Sammelunterkunft mit dem Computer, jederzeit bereit eine Geschichte oder ein Lied aufzunehmen. Und manchmal hatte er Glück, und es kam wirklich ein Zentaur vorbei, der singen konnte. Eher hörte er eine Geschichte in einer der unzähligen Variationen aus der Überlieferung.

Außerdem hatte er eine Antwort an Flicker geschrieben, wo er ihr gratulierte und freunlich für die Einladung dankte, aber ablehnte. Politik war nichts für ihn, das hatte ihm die Reise durch die Minen gezeigt. Aber die Idee Flickers, endlich das Schiff zu bauen sie gut und wichtig. Auch sie würde den Zentauren wieder stolz geben.

Er redete auch viel mit Erol. Sobald der Winter vorbei war, würden sie aufbrechen. Sie würden einen Ort suchen, an dem sie eine Universität gründen würden. Oft sahen sie sich dazu die Karten aus Tjanzers Computer an, ohne sich jedoch auf einen Ort festzulegen.

Und der Winter ging langsam zuende.


Partner

«Verdammt, jetzt sitzen wir fast schon fast drei Monate bei diesen grauenvoll-langweiligen Gesprächen. Wir haben mehr als vierhundert Artikel durchgesprochen. Ich halt das nicht mehr aus!» Flicker stand mit Raldron im Durchgang zum ersten Hof.

«Du wechselst gerade wieder deine Phase?», fragte Raldron. «Ich weiß, dass es ... »

«Blödsinn!», schnitt Flicker ihm das Wort ab. «Das tut nichts zu Sache. Vielleicht gehört dieser Papierkram ja dazu. Ich meine, ich war dabei, weil ich einen Aufbruch wollte. Aber Papier kann gar nicht aufbrechen. Und egal was draufsteht, es sind die Zentauren, die Menschen oder auch die KIs, die aufbrechen müssen.»

«Und was willst du also tun?»

«Du hast keinen Grund, so herablassend zu reden. Ich weiß nämlich nicht, was euer Tun dazu beiträgt», höhnte Flicker. «Ich werde losziehen und versuchen, Zentauren für den Bau eines Sternenschiffes zu gewinnen. Erz wird ja genug gefördert, das hat mir Tjanzer versichert.»

«Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht herablassend behandeln. Aber du musst doch einsehen, dass unser Tun sehr wichtig für die Zukunft ist.»

«Ok, ok, aber es geht völlig an mir vorbei. In der Runde bin ich keine Hilfe für die Zentauren. Wenn unsere Fohlen am Feuer einmal über die Geschichten ihrerer Großeltern lachen, dann wissen wir, dass wir uns beide geirrte haben. Hier, sieh mal:» Flicker drückte auf einen Knopf an seinem Computer, so dass das Modell eines Raumschiffes darüber schwebte. «Das ist das Ergebnis von sechs Wochen Sitzungen. Der Rohentwurf ist fertig.»

Raldron beugte sich vor und bewunderte die Ansicht. «Du willst wirklich ins All.»

«Das sagte ich doch schon immer», seufzte Flicker resigniert.

«Schon gut, ich wusste nicht, dass es dir so ernst war.» Er machte einen Moment Pause. Doch Flicker schwieg. «Na gut, wir werden eben einen Vertreter für dich benennen müssen. Den anderen wir es nicht gefallen.»

Darauf konnte Flicker nur mit den Schultern zucken.


 
Raldron stand zusammen mit Athur im Keller von Carcassonne an einem kleinen Wandregal. Raldron verging sich gerade an den gesammelten Biervorräten. Athur beteiligte sich zwar, und auch wenn die Ausdrucksweise des Körpers der KI langsam undeutlich wurde, so war ihr Geist selbstverständlich klar. Die Befehle an den Körper brauchten halt nur etwas länger, der Input wurde unklarer. Es kam Raldron entgegen, dass Athur deswegen langsamer redete.

Raldrons zehnter Bierkrug stand dort auf dem Bord. Den letzten zwei hatte er schweigend geleert, nur von Zeit zu Zeit genickt, wenn die KI von den Fortschritten und Perspektiven erzählte.

«Allesch Schwachsninn!», sagte Raldron unvermittelt.

Athur unterbrach seine Schilderung. «Wie, bitte? Wir stehen gerade erst am großartigen Anfang. Das kommende Jahr ... »

«Dasch Jahr ändert nischts. Wir redn schon ein Vierteljahr lang, und nischt. Weder wir noch ihr. Es ischt ungerecht -- und unlogisch», nuschelte Raldron und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.

Athur war irritiert. «Ich verstehe dich nicht. Bitte formuliere den Satz um.»

Raldron lächelte gezwungen. «Dasch ischt ja eine KI-Antwort! Von dir hätte ich dasch nie erwartet.» Er nahm einen weiteren Zug und fuhr nuschelnd fort: «Die Menschheit hat verloren. Ausgerechnet an die Schentauren. Die sisch dann schelbsst für die Krone der Schöpfung halt'n. Mutationen, unnütsch.» Langsam sprach Raldron wieder deutlicher, zog nur die S-Laute in die Länge.

«Raldron, du bist doch selbst ein Zentaur, wieso»

Doch Raldron ließ ihn nicht ausreden: «Die Schentauren sind allesamt Missschsch-geburten. Fehlkonschtruktionn, schu viel Verbrauch für das bisschen Intelligensch. Werden kaum fünfschig, können sisch kaum selber die Hufe schäubern, viel zu kursche Arme. Ja die reichen noch nicht einmal zur Selbschtbefriedigung.» Bei dem Versuch, einen Schritt auf Athur zuzugehen, verlor er die Koordination und wich ein Stück seitwärts aus und donnerte gegen einen Stützpfeiler. Dreck rieselte von der Decke.

«Nicht mal Bier vertragen schie.» Wieder fuchtelte Raldron mit den Armen, dass das Bier aus dem Krug nur so herumschwappte. Dann versuchte er wieder zu Athur zu gelangen. Vorsichtig zielte er in seine Richtung, bis er wieder die rettende Wand erreichte. «Ja, ich bin ein Schentaur. Weischt du, was alle Schentauren träumen?»

Doch jetzt, wo Raldron in Fahrt kam, hatte Athur nicht die Spur eine Chance zu einer Antwort. «Träumen davon, auf einen Berg schu klettern. Oder in den Osch-, den Osche-, den Meeren schu tauchen. Oder sich beim Sesch anschuschehen. Athur!»

Athur taumelte heftig. Schon im nüchternen Zustand war der Stoß eines Zentauren eine starke Störung des Gleichgewichtes. Bei den durch Trunkeheit verlangsamten Reaktionen verfehlte Athur das Regal und prallte mit Raldron zusammen. «Ich denke, ich habe zuviel getrunken», kommentierte er.

Doch Raldron hatte ihn in unnachgiebig festen Griff. «Athur, du bischt doch schon lange da. Wie kannscht du nur dasch anschehen? Kein normaler Mensch träumt doch, ein Schentaur zu sein. Aber jeder Schentaur Mensch zu sein. Und» Raldron fuchtelte wieder herum, er hatte den Faden verloren.

Athur nutzte das zur Flucht aus Raldron Pranken und hielt sich wieder an dem Regal fest. «Jeder träumt von etwas Unerreichbarem. Woher weißt du, das die Menschen nicht träumen, Zentauren zu sein?», entgegenete er. «Du hast doch studiert. Lehren die Zentauren nichts über Geschichte? Sagt die der Name Griechenland etwas.»

Jetzt war Athur erregt. Etwas, das nicht oft vorkam. «Nein, was für eine Schande! Eine Hochkultur vor knapp 4000 Jahren, die Begründer der Philosophie und der Wissenschaften. Demokratie, unser Ziel hier, ist ein griechisches Wort, Volksherrschaft. Zentaur ist ebenfalls ein griechisches Wort, ein Eigenname. Die Griechen waren überzeugt, dass es einmal das Volk der Zentauren gab, ein verwegenes kriegerisches Volk, dass jedoch als Strafe für die Entführung einer Frau ausgerottet wurde.» Athur taten diese groben Vereinfachungen fast weh. Aber schon die Worte kriegerisch und verwegen waren ungebräuchlich. Die Konzepte von Aristokratie und Königen zu erklären, wollte Athur Raldron in seinem jetzigen Zustand nicht zumuten.

Er sah Raldron ungläubiges Gesicht. «Natürlich gab es vorher keine Zentauren. Aber es gibt viele Bilder, Statuen. Bedeutende Künstler aller Zeiten haben sich auch immer mal wieder mit dem Motiv der Zentauren auseinandergesetzt. Das alles hat die Menschheit erst auf die Idee gebracht, euch zu schaffen. Die Menschen träumen also nicht von Zentauren?»

«Hmm», brummte Raldron.

«Du hast eine kleine Krise. Ich kenne das gut, glaub mir. Und ehrlich gesagt verstehe ich nicht, dass du dir um die Menschen Sorgen machst. Was ist los?»

«Flicker ischt heute abend gegangen», murmelte Raldron fast unhörbar. «Schie will dasch Raumschiff für Schentauren bauen. Schie hat Rescht.»

«Und deswegen bläst du Trübsaal? Das ist ein Grund zu feiern. Los, auf Flicker!» Athur hob seinen Krug.

Raldron schüttelte den Kopf, hielt dann innen, bis sich das Bild vor den Augen wieder stabilisiert hatte. «Wenn Flicker unschere Arbeit dumm hält, dann ist schie unnütsch.»

«Unsinn, Flicker muss eben mit den Händen und Beinen arbeiten. Jeder von uns tut, was er kann, um alles voranzubringen. Los, sei kein Spielverderber. Auf Flicker.»

Unsicher hob Raldron den Krug.

Raldron war ziemlich bald jenseits von Gut und Böse, und so konnte Athur ihn wieder aufheitern. Mit durchschlagendem Erfolg, denn er schliff Athur danach noch zwei Stunden singend durch die Burg, bis er dann schnarchend in einer Ecken zusammensackte.


 
Tki, die Zentauren-KI kam auf Jennifer zu, die gerade nachdenklich aus dem Fenster starrte. Von dem Geräusch aufgeschreckt, drehte sich Jennifer um: «Ah, Tki, was gibt es?»

«Ich habe eine Nachricht für dich. Aber noch besser wäre es, du sprichst persönlich. Hier, du hast ja deinen Computer vorhin am Tisch liegen gelassen.» Damit drückte die KI ihre ihren Computer in die Hand und entfernte sich mit fast echtem Zentaurengang.

Neugierig hob sie den Computer hoch. «Wer will mich sprechen?», fragte sie.

«Hallo Jennifer.»

«Masoud!», rief sie aus. «Hallo, was ist passiert?»

«Jennifer, ich kann dir nicht mehr helfen. Ich werde dich verlassen.»

Jennifer schwieg verblüfft.

«Jennifer, hast du mich verstanden? Soll ich es wiederholen?»

«Masoud, bitte warum? Wenn ich dich beleidigt habe, dann tut es mir Leid. Was soll ich tun?» Ihre Stimme war fast flehend geworden.

«Komm zurück, vergiss die Zentauren. Ein guter Historiker mischt sich nicht selbst in die Geschichte ein.»

«Was soll das heißen?» Jennifer war wütend. «Das ist vollkommener Blödsinn. Gerade ein Historiker muss sich einmischen, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Das weißt du besser als ich.»

«Jennifer, ich bin überzeugt, dass du gerade einen großen Fehler begehst. Wenn die Zentauren jetzt Zugang zu all unserer Technik bekommen, wie lange wird es dann noch Menschen geben? Die Menschen werden dadurch völlig demoralisiert.»

Jennifer schüttelte heftig den Kopf, obwohl die Bildverbindung ja deaktiviert war. «Und keinen Frieden mit den Zentauren zu machen, ist ein noch viel größerer Fehler. Die Welt stagniert, das ist doch klar zu erkennen. Wo ist denn der Fortschritt der letzten tausend Jahre? Die paar Ergebnisse sind lächerlich im Vergleich zu den tausend Jahren davor.»

Masoud imitierte überzeugend einen Seufzer. «Ich kann den Zentauren einfach nicht trauen, deswegen bin ich auch nicht deiner Meinung.»

«Kannst du es nicht wenigstens probeweise versuchen?»

«Nein», sagte Masoud. «Ich war doch eine Lenkwaffen-KI. Nur drei von uns haben überlebt. Deswegen bin ich ja Historiker geworden. Aber ich kann Zentauren nicht vertrauen, das tut mir weh. Vielleicht verstehst du meine Konflikte: Rational kann ich deinen Argumenten folgen; aber die Programmergänzung aus Kriegstagen verhindert, Zentauren zu trauen. Allein der Gedanke bereitet Schmerzen.»

Jennifer schwieg, also fuhr Masoud fort: «Ich habe es versucht, Jennifer, für uns. Doch ich halte es nicht mehr aus. Ich werde dich also verlassen müssen, vorher finde ich aber noch einen zentaurenfreundlicheren Nachfolgen, auch wenn der Gedanke schmerzt.»

«Masoud, warum hast du es nie erzählt?»

«Ich bin nicht stolz darauf. Es verhindert Objektivität. Ich schäme mich für dieses Trauma.»

«Masoud, wir alle haben irgendwelche Sachen tief in uns, die an uns nagen. Vielleicht kann ich dir helfen?»

«Nein, Jennifer, es geht nicht. Aber es wäre nett, wenn du keine Anfragen an unsere Datenbank stellst, bis die nächste KI sie verwaltet. Die Zentaurenabteilung.» Masoud pausierte. «Vielleicht kann man sagen, sie verursacht mir das Äquivalent von Übelkeit, geistiger Übelkeit.» Noch eine kurze Pause. «Ich finde keine geeignete Metapher. Ich melde mich wieder, wenn ich eine neue KI gefunden habe.»

«Bis später», antwortete Jennifer reflexartig. Noch lange saß sie ruhig am Fenster, unschlüssig, ob sie trauern oder zurück auf ihre Burg gehen sollte.


 
Das letzte Eis war selbst im Schlund geschmolzen, die Wege waren wieder gangbar geworden. Der Winter hatte Eureka nun endgültig verlassen, doch immer noch waren die Nächte frostig; das würden sie noch bis in den Mai hinein bleiben. Doch nach einem spärlichen Regen begann die Trockensteppe zu grünen und zu blühen -- mehr Frühling würde es hier kaum werden.

Rid nahm Tjanzer mit auf eine kleine Tour in das Nachbartal. Sie hatten beide ihre Phasen gewechselt, doch Rid warb immer noch recht offensiv um sie, nachdem Worte nichts fruchtenten versuchte Rid es mit Gesten. Tjanzer versuchte mal auf freundliche, mal auf sarkastische Art klar zu machen, dass sie nicht interressiert war. So auch jetzt.

«Rid, bekommst du nicht langsam Krämpfe im Schweifansatz? So wie du ihn emporreckst ... »

Rid schwieg.

«Und hör auf, so mit dem Hintern bei jedem Schritt so herumzueiern. Da wird einem ja schwindlig.»

Rid warf den Kopf hoch, so dass die Mähne wirbelte.

«Verdammt Rid, gibt es doch auf. Du weißt, dass meine Liebe Tik gehört.»

Aber Rid bleib auch jetzt hartnäckig, genau wie Tjanzer, obwohl Tjanzer deutlich machte, dass ihre Liebe immer noch Tik gehörte, die ebenfalls ihrer Phase gewechselt hatte. Tik wurde jedoch immer verschlossener wurde, je länger er mit den anderen zusammen war. So blieb alles bei einem merkwürdigen Status Quo. Rid warb, Tik schwieg.

Die wenigen Tropfen hatten die karge Steppe hier völlig verändert. Die hellgelben Spinifex-Büsche waren mit kleinen grünen Blattknospen überseht, die Kakteen hatten lauter winzige weiße Blüten. Selbst das spitze Gras hatte eine andere Farbe angenommen.

«Es ist unglaublich, dass das bisschen Regen soviel ausgemacht hat!», staunte Tjanzer.

«Du wirst es wohl nicht glauben, aber es hat außergewöhnlich viel geregnet.»

Tjanzer lachte. «Bei uns in Zikaku regnet es täglich fast mehr, als hier im ganzen Jahr.»

Rid schüttelte den Kopf: «Die Natur hat sich darauf eingestellt. Und es ist ein Glück, dass es hier nur so wenig regnet: Der Schlund würde sofort zusammenbrechen, die Ränder herabstürzen.»

Tjanzer wurde still. Die Antwort machte ihr zu schaffen. Nicht, weil sie hier gerne mehr Regen gehabt hätte, oder weil Rid Recht hatte -- nein, vielmehr weil sie den großen Zusammenhang der Dinge so einfach übersehen hatte. Und wenn schon so etwas Naheliegendes so leicht zu übersehen war ...

«He, aufpassen, meine Gute. Du denkst zu viel beim Laufen!», lachte Rid, während Tjanzer wieder etwas mühsam seine Schritte koordinierte.

Das war der Nachteil an der grünen Steppe, all diese Gewächse schossen in die Höhe und in die Breite und verdecketen nun völlig den Sandhaufen, der manchmal in ihnen saß. Und auch die Dornen waren nun frisch und grün und stark. Trotzdem, Tjanzer genoss diesen Galopp. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie aus dem Tempo des Schlundes ausbrechen konnte. Und jetzt lief sie befreit von allem neben Rid (oder eher etwas vor Rid, um seinem Werben zu entgehen). Sie spürte den Frühling in sich, genauso wie in der Natur; doch wenn, dann sollte es Tiks Kind werden. Und wenn sie zehnmal zusammen mit Rid einen gesunden Sire austragen könnte.

Als sie wieder strauchelte, schob sie alle diese Gedanken in eine ungenützte Ecke im Gehirn und konzentrierte sich auf das Laufen. Sie erinnerte sich an ihre alten Fohlenspiele mit Flicker und Jacko und diese Gangart, die sie damals benutzt hatte. Es ging wie ein Ruck durch sie, und sie galoppierte los, ließ Rid und die Welt für eine halbe Stunde hinter sich.

Auf einem kleinen Hügel hielt sie an und sah sich um. Der Kessel mit dem Schlund war deutlich an dem Rauch und dem Staub zu erkennen, der über ihm aufstieg. Und ansonsten hellgrüne Wüstensteppe, so weit man schauen konnte. Rechts galoppierte Rid heran, ansonsten war niemand hier. Wieder dachte sie daran, wie es mit Rid wäre, doch bevor er heran war, waren ihre Gedanken wieder woanders.

Rid stand keuchend neben ihr, stützte sich mit ihren Arm auf ihrem Unterrücken ab. Sie ließ ihn gewähren. Nach einigen Minuten hatte er sich wieder einigermaßen gefangen.

«Es ist jetzt wirklich kein Grund mehr vorhanden, sich aufzustützen.» Gleichzeitig sprang sie zur Seite.

Rid stolperte einen Schritt, nach vorn, strahlte sie an. «Doch, natürlich, meine Sire.»

«Rid, bitte, ich habe es dir schon zweimal gesagt.»

Rid zuckte mit den Schultern. «Und ich werde es weiter probieren.»

«Dann hol' mich doch ein.» Und sie sprang los. Rid rief irgendetwas hinterher, doch jetzt war sie ganz auf den Lauf konzentriert. Sie wandte sich wieder Eureka zu. Ohne Pause galoppierte Tjanzer bis an die Spitze der Wälle um Eureka. Erst jetzt erkannte sie die Gestalt, die dort stand: Es war Tik. Sie änderte die Richtung und blieb schließlich schwer atmend neben ihm stehen.

Tik sah sie ruhig auf seine melancholisch-schöne Art an. Tiks Blick hatte etwas Merkwürdiges an sich, sein Blick schien durch die Fassade der Dinge hindurchzudringen, ihren wesentlichen Kern zu erfassen. Zumindest kam es ihr so vor.

«Lass uns endlich gehen, anderen Zentauren helfen», sagte Tik ruhig.

«Wenn es dir eine Freude macht», lächelte sie ihn an.

Doch Tik lächelte nicht zurück. «Weißt du noch, wozu wir aufgebrochen sind? Und nur, weil sich die Regierung geändert hat, ist das noch lange kein Grund einfach aufzuhören.»

«Lieber Tik, hast du nicht gesehen, wie vergeblich unser Tun ist? Die Zentauren brauchen keine verordnete Befreiung. Gib ihn einen Grund, und sie werden sich selbst befreien. Das will ich tun.»

Tik zeigte zum ersten Mal eine Gemütsregung. «Hast du wirklich etwas gefunden?»

«Nun, Erol, der fremde Zentaur hat mich auf die Idee gebracht. Was sind denn Zentauren anderes als entflohene Sklaven? Denn so sehen sie sich bis heute. Ich möchte ihnen etwas Mut geben, Mut zu neuen Ideen. Zu Ideen wie Freiheit und Gleichheit, wie Stolz auf die Tatsache, ein Zentaur zu sein. Weißt du, was uns diese falschen Sire voraushatten? Ihren Stolz, ihren verdammt falschen Stolz. Am Ende muss jeder Zentaur stolz sein, ein Zentaur zu sein. Dann ist auch jeder Zentaur glücklich.»

«Die Idee ist uralt», sagte Tik. «Und etwas Neues hast du auch nicht. Hast du nicht etwas Konkretes?»

«Bildung natürlich», erwiderte Tjanzer begeistert. «Bildung für die Zentauren, die sich nicht darauf beschränkt akzentfrei Englisch zu sprechen. Nein, Bildung die Kreativität weckt und fördert. Du hast die Mine gesehen: Dort ist seit hunderten von Jahren nur wenig geändert worden; der Schlund wurde tiefer, die Werkzeuge etwas besser, das war es denn auch. Doch mit der Elektrizität, die der Schlund ohnehin verbraucht, könnte man die fünffache Menge an Erz mit einem Fahrstuhlsystem nach oben beförden, wenn man nur tagsüber arbeiten würde. Das hatte mir der Computer jedenfalls vorgeschlagen. Und wenn ein dummer Computer auf eine solche Idee kommt, welche Potentiale haben wir dann erst übersehen!»

Doch Tik wirkte eher traurig. «Bitte, lass uns gehen.»

Tjanzer war ernüchtert, dass ihre Rede so an Tik abgeprallt war. «Tik, warum bist du so traurig. Ist es, weil du deine Phase gewechselt hast?»

Doch Tik schüttelte nur den Kopf. «Nein, es tut mir Leid, aber deine Ideen.» Er schüttelte den Kopf. «Es ist alter Wein in neuen Schläuchen. Du verstehst, ein Aufbruch der Zentauren, was wird da anders werden als bei dem Aufbruch der Menschen vor gut anderthalb Jahrtausenden? Mehr Erz fördern, genauso fing es damals an, Maschinen um mehr Erz zu fördern. Nein, leider ist die Idee nicht neu, sieh nur in die Geschichte.» Dennoch strich Tik ihr über den Kopf. «Die Idee mit der Universität ist schon besser. Kunst und Philosophie brauchen wir, neue Ideen sind schwieriger zu gewinnen als Erz.»

«Tik, aber warum so unglücklich?»

«Tjanzer, ich habe Angst, ich glaube zu Zukunft zu kennen, so wie sie sein könnte, so wie du sie dir vorstellst. Aber ich glaube, sie wird uns alle noch überrumpeln und enttäuschen, im Kleinen wie im Großen. Das hat sie meist getan.» Er umarmte Tjanzer fest.

«Tik, wieso so pessimistisch? Wir sind doch freie Zentauren. Und übermorgen brechen wir auf, einverstanden? Wir werden nach Nordosten ziehen, irgendwo nördlich von Anges. Dort werden wir ein Tal suchen und eine echte Universität aufbauen. So eine, wie die Universität von Nairobi.»

Tik nickte nur, immer noch so betrübt.

Rid kam gerade über den Berghang, da liefen Tjanzer und Tik auch schon wieder langsam los. Ein keuchender Fluch entfloh Rids Lippen, dann trottete er langsam hinter ihnen her.

 
Zwei Tage später brachen sie tatsächlich auf. Sie waren zu zehnt: Tjanzer, Rid und Tik; Erol mit Fira und selbst Tjifiren, vollwertiger Handelszentaur aus Burns, der einzige, der Erol damals nicht verlacht hatte; außerdem waren noch Rugis und eine anderere Vorabeiterin names Tjijer, sowie aus McDerwitt Trera, der bekehrte Aufseher und ein Blauer namens Fig, der wunderschön Flöte spielen konnte. Es war ein viel zu kleiner Haufen; noch dazu war keiner von ihnen außer Tjifiren je ein Student gewesen. Ja, sie hatten noch nicht einmal richtige Studenten für ihre neue Universität, keine Bücher. Es war nur die verrückte Idee von Erol und Tjanzer, die diesen Haufen zum Aufbruch bewegt hatte.

Dessen waren sich sie durchaus bewusst. Und doch schmiedeten sie alle zusammen Pläne, wie denn das Hauptgebäude aussehen sollte, wen man unbedingt noch als Lehrer gewinnen sollte, was die Studenten zu bezahlen hatte. Und dazu war es Frühling, die ideale Zeit und schon Grund genug, um in dieser Gegend zu reisen.

Am ersten Tag kamen sie nicht so weit, wie sie eigentlich geplant hatten: Die ersten Ausläufern des Schoschonengebirges und dort die Furt des Flusses Reese waren ihr Ziel gewesen. Doch die Sonne war endgültig untergegangen und sie hatten erst zwei Drittel der Strecke geschafft. Und so mussten sie hier mitten im Nirgendwo rasten: kaum Vegetation, kein Wasser, um sich zu waschen. Fluchend ließen sie sich nieder, bürsteten sich gegenseitig den Staub aus dem Fell. Immerhin gab es noch keine Kletten so früh im Jahr.

Die Etappe war zu weit gewesen; nicht zehn Stunden laufen war das Problem, schließlich hatten sie alle im Schlund gearbeitet -- nein, das Tempo war ungewohnt nach so langer Zeit. Alles, was über den langsamen Trott mit den Steinen hinausging, beanspruchte die Muskeln deutlich anders.

Am Morgen sah die Welt nicht viel besser aus; fast alle klagten sie über Muskelkater. Aber es erwartete sie heute Mittag ja der Fluss mit der Furt, wenn sie wenigstens ihr gestriges Tempo hielten. So liefen sie los, ihren Frust machten sie mit Flüchen Luft. Und natürlich fluchten sie auch über diesen Weg, den Tjanzer herausgesucht hatte, und dem sie alle zugestimmt hatten. Der normale Handelsweg ging von Eureka direkt nach Norden und dann nach Osten, nach Salt-Lake-City. Doch da sie nach Westen wollten, war dies ein Umweg.

Als sie am frühen Nachmittag den Fluss erreicht hatten, da warfen sie ihr Gepäck ab und sprangen ins Wasser. Bei der großen Hitze erschien das Wasser eiskalt. Trotzdem fanden zehn müde Zentauren noch genug Energie, um sich gegenseitig durch das Wasser zu jagen.

Jetzt im Frühling führte der Fluss soviel Wasser, wie zu keiner anderen Jahreszeit. Der Fluss war zwar an keiner Stelle tiefer als zwei Meter; doch um das Gepäck trocken auf die andere Seite zu bekommen, mussten sie eine Kette bilden. Und da sie schon fast eine Stunde im Wasser getobt hatten, war ihnen kalt, als endlich alles auf der anderen Seite war. Nachdem sie in der Sonne ein wenig getrocknete waren, schnallten sie sich ihre Packtaschen wieder auf und begannen den Aufstieg.

Gerade als die Sonne unterging, waren sie am Punkt, wo der Weg über einen Sattel in das nächste Tal führte. Sie waren nicht allzu müde, steigen mit Last waren sie ja aus dem Schlund gewohnt, dennoch würden sie hier übernachten; denn es gab hier eine tote Kiefer, und so genug Feuerholz für eine Nacht. Mit den Hufen waren die Äste schnell klein getreten.

Sie saßen auf einer Terrasse mit Blick zurück nach Osten. Unter ihnen lag das Flusstal. Da die Berge auf der anderen Seite niedriger waren, lag das Tal schon völlig im Schatten. Doch die Gipfel dahinter waren noch beleuchtet und bildeten so einen noch stärkeren Kontrast zu Lagerfeuer und dunklen Felsen.

Die Suppe brodelte auf dem Feuer, und Tjanzer musste eine Geschichte erzählen. Obwohl das Geschichtenerzählen eine alte Zentaurenkunst war, die jeder Zentaur beherrschte, waren sie sich doch einig: Keiner von ihnen erzählte so gut wie Tjanzer. Sie schaffte es, selbst einfache Dinge so zu betrachten, dass sie fremd und geheimnisvoll erschienen. Als dann noch Tjijer auf ihrer Flöte spielte, war die Verzauberung perfekt.

 
Der erste Morgenröte begann gerade erst zu dämmern, als Tjifiren, der Wache hielt, leises Hufgetrappel hörte. Es kam und ging, dann wurde es stetig lauter. Tjifiren weckte den Rest. Sie murrten, denn es war noch kalt, der Atem bildete dichte Wolken. Außerdem konnte man jetzt deutlich hören, dass es nur ein einzelner, unbeschlagener Zentaur war. Aber letztlich war keiner Tjifiren richtig böse, denn der Sonnenaufgang, dessen sie nun Zeugen wurden, war ein einmaliges Erlebnis, und dieses frühe Erwachen allein wert gewesen.

Sie sahen alle gebannt nach Osten, und so entging ihnen der Moment, wo das Hufgeklapper verstummte. «Hallo, Sire!», sagte eine leise, unsichere junge Stimme.

Jetzt er sahen sie sich um. Ein blaues Zentaurenfohlen stand da, keuchte in der kalten Luft. Es war vielleicht zehn, keinesfalls älter. Rid trat als Erster auf es zu: «Hallo, ich bin Rid. Willst du mit uns frühstücken?»

«Ja, toll», freute sich das Fohlen und drehte sich einmal flink auf den Hinterbeinen, so dass selbst Tjanzer die Luft wegblieb. Dann hielt es abrupt inne. «Äh, Sire, ich danke dir und den anderen.»

«Keine Ursache, komm, ich stell' sie dich vor: Das sind Tjijer(sie), Fig(er), Trera(er), Tjifiren(er), der Weiße dort nennt sich Tjanzer(sie), die Braune ist Rugis(sie), Erol(sie) Fira(sie) und Tik(er). Und wer bist du?»

«Ich werde Fritz gerufen», sagte das Fohlen. Man spürte die Verachtung für diesen Namen.

«Und wie willst du heißen?», fragte Tjanzer.

«Sire, ich, nein», stotterte das Fohlen.

«Ich bin kein Sire mehr, nenn mich Tjanzer. Du hast doch gehört, hier hat jeder den Namen, den er sich ausgesucht hat. Also, welcher Name würde dir gefallen?»

«Tiblis», flüsterte das Fohlen. «Sire», fügte es noch hinzu.

«Tiblis, wohnst du hier?»

«Ach ja, Sire.» Es blickte schuldbewusst zu Boden. Fast unhörbar fügte es hinzu: «Ich bin der einzige Blaue in unserer Familie. Und der Zweite.»

«Ich verstehe», sagte Rid sanft.

«Sire, meine Eltern waren nicht so, wie ihr denkt. Sie sind schon nett, nur, ich meine, es tut mir Leid.» Das Kleine war deutlich verwirrt. Schließlich wusste es nicht mehr weiter und fing an zu weinen.

Tjanzer trat auf Tiblis zu und nahm es in den Arm. Es schluchzte. Beruhigend strich Tjanzer über die stoppelige Mähne, während sich die Ohren des Kleinen in alle Richtungen drehten.

Immerhin hatte das Kleine Glück gehabt, dachte sie bei sich. Hier in den Bergen gab es genug Geschichten von Blauen, die einfach ausgesetzt oder sogar getötet wurden. Denn das nächste Fohlen könnte ja durchaus wieder normal sein. Bloß nicht blau!

«Es ist alles gut, großer Tiblis. Du brauchst nicht zu weinen. Komm, willst du uns nicht zu deinen Eltern führen? Sie werden mächtig stolz auf dich sein, wenn sie uns sehen. Komm, du bist ein gutes Fohlen.»

Tiblis zog einmal hoch. «Meint ihr das wirklich? Ihr kommt zu meinen Eltern?»

«Ja, sicher», sagte Tjanzer. Insgeheim hoffte sie, es war nicht allzu weit.

«Toll!», rief Tiblis. Dann rannte es los, bäumte sich auf und -- landete nach einem Salto wieder auf allen Vieren.

Die Zentauren starrte mit offenem Mund auf Tiblis. Kein Zentaur hätte das je für möglich gehalten. Nun gut, es war ein Fohlen, noch nicht ausgewachsen, aber trotzdem ...

«Was ist los, Sire? Was habe ich falsch gemacht?», fragte Tiblis beklommen.

Rid schüttelte nur den Kopf. «Mein Sire! Ich habe so etwas noch nie gesehen.»

Der Rest murmelte ähnliches.

«Das ist fantastisch!», rief Tjifiren.

«Wirklich?» Tiblis strahlte würde das ganze Gesicht. «Wie findet ihr dann das?», fragte es, nahm Anlauf und machte vor den Augen der Luft anhaltenden Zentauren eine Art Rad.

Die Zentauren jubelten begeistert. Doch bevor Tiblis wieder neu ansetzte, unterbrach die ruhige Rugis: «Tiblis, lass noch ein bisschen Spannung für später. Komm, gehen wir zu deiner Familie.»

 
Tiblis Familie war eine gute Stunde entfernt. Es war ein schmaler Pfad immer an der Bergflanke entlang. Schließlich waren sie um drei Viertel des Berges herum, sie konnten sogar den alten Lagerplatz von gestern abend erkennen, als sie an eine Höhle kamen. Dort wohnte Tiblis Familie.

Die Eltern waren erst freundlich und dann überschwenglich begeistert, schließlich kam hier selbst im Frühling normalerweise nur einer oder zwei Zentauren vorbei. Natürlich würden die Zentauren heute hier übernachten. Und es würde Kuchen geben, und etwas Met.

Sie waren die ersten Zentauren in diesem Jahr; und diesmal auch keine Tramps oder Zentaurenhändler, nein, zwei echte Sire waren dabei und dann dieser Kaltblutzentaur ...

Die kühnsten Hoffnungen der Familie wurden erfüllt, als Tjanzer für alle IDs austellte.


 
Von Saba waren es acht Tage nach Eureka: Zwei nach Dallas, dann den Magnetic Richtung Salt-Lake-City und schließlich auf Hufen nach Eureka. Flicker trottete mürrisch dahin, während ringsherum der Frühling anbrach. Nun, Flicker spürte die Muskeln unangenehm, schließlich war die letzte weite Wanderung schon wieder ein halbes Jahr her. Außerdem hatte Raldron Recht gehabt, sie/er wechselte die Phase; und immer, wenn es Richtung männlich ging, war Flicker für mindestens eine Woche ziemlich unausstehlich. Schließlich und endlich lief er allein, hatte so niemand, an dem er sein Wut und Frustration auslassen konnte.

Er war seit dem Magnetic erst anderthalb Tage unterwegs, und er hatte genug. Das Wetter gab ihm den Rest: Es regnete nun schon seit dem Morgen, und so nass, wie er aufgewacht war, hatte es auch in der Nacht genug Schauer gegeben. Mitterweile wurde es trüber Nachmittag, ihm war kalt und er war drecking, und überhaupt ... Von Zeit zu Zeit startete er frustriert einen Galopp, blieb plötzlich stehen und schimpfte wie ein Rohrspatz mit irgendwelchen Pflanzen oder Steinen, trottete dann wieder ruhig dahin.

«Halt!», schrie jemand. «He! Du! Stehen bleiben! Halt!»

Erst nach ein paar Momenten merkte Flicker, dass man mit ihm sprach. Doch er hatte keine Lust auf Gesellschaft, also galoppierte er los.

«Verdammt, was für» Mehr bekam er nicht mehr mit. Nach hundert Meter ging es wieder bergab, er wurde langsamer. Aber nicht langsam genug: Die Böschung war feuchter Lehm, auf dem Laub lag. Eine ideale Rutschbahn, deren Ende ziemlich tief unter ihm lag. So genau wollte er das gar nicht wissen. Statt dessen hing er an einem dünnen Bäumchen. Einem der letzten vor dem Abgrund, und der durchweichte Boden gab es millimeterweise frei. Flicker sah es mit Schrecken. «Hilfe! He, hört mich jemand?»

Nur Sekunden später stand ein anderer Zentaur auf der Hügelkuppe hundert Meter höher und sah Flickers Bremsspuren. «Warte, ich seile mich ab. Aber war hast du nicht bloß auf mich gehört?»

«Schnell, dieses Bäumchen mag mich nicht.»

«Es geht so schnell, wie es geht. Mach deine Vorderbeine breit und versuch die Hinterhufspitzen in den Boden zu rammen.»

«Ich habe» doch Hufschuhe, wollte er sagen. Doch er biss sich auf die Lippe. Dann eben weg mit den Dingern, auch wenn sie teuer waren. So gut es ging befolgte er die Anweisungen. Das Bäumchen schien etwas langsamer aus dem Boden zu kommen. Andererseits hatte er den größten Teil leider schon in der Hand. «Bitte, mach schnell. Ich bin zu schwer», flehte Flicker.

Ein weiterer dichter Regenschauer hatte sich gerade diesen Moment ausgesucht, um loszuprasseln. Die Sicht wurde schlecht, er konnte den anderen Zentaur erst erkennen, als dieser schon auf zehn Meter heran war. Er hatte sich zwischen zwei feste Bäume gestellt und warf Flicker ein Seil zu.

«Nimm das Seil, lass den Baum los. Los!»

Flicker gehorchte blind. Doch das Seil gab erst ein Stück nach, bevor es sich spannte und Flicker fast die Schultern ausrenkte.

«Verdammt, bist du schwer!», fluchte der Zentaur.

Das konnte Flicker so nicht stehen lassen. Er zog sich an den Armen ein Stück hoch, bis an den Baumstamm heran, wo der andere Zentaur stand. Er reichte Flicker die Hand und schließlich standen sie beide keuchend an die beiden Bäume gelehnt, während der Regen auf sie niederprasselte.

«Danke», keuchte Flicker. «Du hast»

«Du hättest einfach stehen bleiben können. Hier, versuch aufrecht zurückzulaufen, an dem Seil kannst du dich festhalten. Bei dem Regen wird es schwieriger, je länger wir warten. Los.»

Flicker senkte den Kopf und gehorchte.

Es war unangenehm, Flicker zog sich mehr mit den Händen hoch, als das er richtige Schritte machen konnte. Endlich war er nahe der Spitze. Da kam auch schon der andere Zentaur. Endlich konnte Flicken diesen genauer ansehen: Es war auch ein Blauer, mit spitzen beweglichen Ohren und genauso groß wie Flicker. Ob dieser wirklich blaues Fell hatte, war bei dem Regen und dem (nicht zuletzt von ihm) verdreckten Fell nicht zu erkennen.

Eine Minute schnauften sie beide. Dann umarmte Flicker den Zentaur. «Ich danke dir. Du hast mir das Leben gerettet. Ich bin Flicker(er).»

«Ich bin Flero(sie)», sagte der Zentaur.

«Danke Flero», sagte Flicker. Dann fing er an zu weinen, während er immer noch Flero umarmte.

Flero war es peinlich. «Los, es gibt einen Unterstand in der Nähe, da können wir uns aufwärmen.»

«Ja», sagte Flicker. Dann ließ er sie los, schnaubte einmal und folgte ihr dann.

 
Es war nicht weit, vielleicht ein Kilometer. Flero redete fast die ganze Zeit. «Es ist nur ein kleiner Unterstand, an einer Seite offen. Ich habe hier den Winter verbracht, etwas gejagt und, versprich mir, es nicht weiter zu erzählen, ich habe hier ein wenig Gold gewaschen. Drei größere Nuggets habe ich sogar gefunden, ich habe den Tip von einen alten Tramp bekommen. Aber in welchem der Bäche, das werde ... » Und sie redete, während Flicker ihr mit gesenktem Kopf folgte.

Erst am Unterstand hörte sie auf. Es war ein wackliges Gebilde, und zwei Zentauren füllten es fast aus. Flero half Flicker, die Riemen von den Packtaschen und der Regendecke auf dem Rücken zu lösen. «Du bist ja weiß!», rief sie.

«Nein!», rief Flicker. «Bitte» Er drehte sich um, und hätte fast die Hütte umgeworden. Dann fiel er vor Flero auf die Knie. «Flero», murmelte er, dann begann er wieder zu weinen. Sie ging natürlich auch in die Knie. «Flero, ich verdanke dir mein Leben. Ich, es tut mir Leid. Bitte.»

«Komm, ruhig. So schlimm war es gar nicht. Das ist nur der Schock.» Sie fuhr ihm durch Haar. Sie konnte es kaum fassen: Er war tatsächlich ein Blauer mit weißem Fell. Sie hatte einmal davon gehört, ein blauer Sire, ein Sire der Blauen. Aber sie konnte sich nicht mehr an die Geschichte dazu erinnern, nur dass es irgendetwas mit dem All zu tun gehabt hatte «Los, sei ein braver Zentaur, zieh deine nassen Sachen aus, steh auf, damit wir uns trocken reiben können, und dann wird Essen gekocht!»

«Ja, Flero», sagte Flicker sanft. Es klang, wie ein Kind, das verspricht, nun ganz artig zu sein. Er stand auf, zog dann die durchnässte und verblichene Handelsuniform aus.

Flero hielt die Luft an. So genau hatte sie ihn noch gar nicht betrachtet. Jetzt sah sie, wie kräftig und gut gebaut Flicker war. Nicht nur nach den Maßstäben der Blauen. Nur diese komischen Leberflecke zwischen den Schultern ...

«Komm Flero, ich werde dich trockenreiben.»

Sie stand auf und starrte ihn an.

«Was ist denn?», fragte Flicker und sah hinter sich.

«Du bist so, so stark», murmelte Flero.

«Deswegen war ich ja so schwer.» Er lächelte, nahm dann einen Lappen und fing an, Flero trocken zu reiben. «Weißt du Flero, dass die Zentauren mit den Bürgern Frieden schließen? Nach der Erstürmung von Saba?»

«Natürlich», hauchte sie.

«Ich war dabei ... »

«Unglaublich.» Flero schloss die Augen und stellte sich vor, das Flikan aus dem Nachbardorf ihrer Heimat neben ihr wäre. Doch irgendwie hatte Flikan jetzt weißes Fell und sah mehr und mehr wie dieser blaue Sire aus.

« ... und ich will, dass die Zentauren endlich Raumschiffe bauen und ins All fahren.»

«Hnnn»

«Jetzt, wo Frieden ist. Wenn du das auch willst, wäre es für mich das Größte, denn»

«Jaaa»

«He, du hörst ... »

Flero hatte sich umgedreht, den Finger auf seine Lippen gelegt und diesen dann langsam bis zwischen Flickers Vorderbeine gezogen. Ein Schauern lief durch seine Mähne. Sie beugte sich vor, blies auf das Fell zwischen den Vordebeinen, begann dann, ihn zu küssen. Flicker stand stocksteif. Es war das erste Mal, dass er es gewähren ließ. Und eigentlich hatte er den Phasenweachsel noch nicht ganz vollzogen, körperlich. Schwanger würde sie nicht werden, war sein letzter rationaler Gedanke, als Flero den Hals erreichte. Dann fuhr ein zweites Schaudern durch ihn, er besann sich seiner Arme und bearbeitete nun ihre Mähne. Dann küssten sie sich so lange, bis Flicker Kreise tanzen sah -- nicht nur wegen der Endorphine, die sein Köper im Rausch ausspuckte.

Im Nachhinein musste Flicker jedes Mal lachen, wenn er an diese Nacht zurückdachte. Dieser Unterstand war so eng und niedrig, ein Wunder, dass sie sie damals nicht zum Einsturz gebracht hatte. Mehrmals waren sie kurz davor.


 
«Dieser warme See ist wunderbar», lachte Tjanzer. Sie spritze eine Wasserfontaine zu Erol, deren große Fläche eine leichtes Ziel bot. Postwendend kam ein Schwall zurück, verstärkt noch durch Tiblis, dem kleinen blauen Fohlen, das ihnen auch den See gezeigt hatte.

Tjanzer hustete und keuchte, bis sie endlich das Wasser aus den vorderen Luftröhre hatte. Doch kaum atmete sie wieder frei, neckte sie die anderen schon wieder: «Und noch besser wäre es ohne euch!»

Das konnten sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen, und so stuken sie Tjanzer trotz ihrer heftigen Gegenwehr schließlich gemeinsam unter Wasser, bis sie aufgab. Völlig erschöpft stackste sie zum Ufer, wo sie schwer atmend liegen blieb.

«Alles in Ordnung?», fragte Tik besorgt.

«Nur etwas außer Atem. Und der See kühlt ja kaum», keuchte Tjanzer.

Währenddessen ging das muntere Treiben im hüfttiefen Wasser weiter, sodass die Wellen an den Strand plätscherten.

«Ich wüsste zu gern, warum das Wasser so warm ist. Computer, gibt es hier Vulkane?»

«Tjanzer, Nein. Vulkane sind in der Bruchzone am Pazifik. Kartenprojektion?»

Doch Tjanzer hatte wieder den Computer ausgeschaltet. Es war noch recht früh, die Sonne würde erst in einer guten Stunde über den Hügel kommen. Nass wir sie war, wurde ihr kalt. Da sprang sie doch lieber wieder in den See.

 
Eine gute Stunde später dösten elf Zentauren ausgestreckt am Sandstrand und trockneten in der aufsteigenden Sonne. «Sag mal Tiblis, weißt du, warum der See so warm ist?», fragte Erol.

«Hnn, weiß nich' genau. Aber man hat mir mal erzählt, die Sucocaw seien dafür verantwortlich.»

«Und wer sind die?», fragte Erol noch neugieriger.

«Weiß nich'. Habe nie weiter gefragt, weiß keiner.»

«Schade», seufzte Erol. «Tjanzer, frag doch mal deinen Computer.»

«Na gut.» Träge griff Tjanzer nach der Tasche. «Computer, suche nach Stichwort: ,,Sucocaw"»

Der Computer piepte, da Tjanzer ihn auf stumm geschaltet hatte. In welchem Zusammenhang, las sie auf dem Display.

«Computer, stumm aus. Zusammenhang: heiße Seen, Vulkanismus, Anomalien.»

Ganze vier Sekunden später piepte er erneut. «Keine Übereinstimmung gefunden. Soll eine KI übernehmen?»

Mittlerweile hatten sich alle aufgerichtet, und sahen Tjanzer bei diesem Frage- und Antwortspiel zu.

«Computer, bitte fragen.» Zu dem Rest gewandt, fügte sie hinzu. «Das ist eigentlich völlig aussichtslos. Wir sind aus der Reichweite jeglicher legalen Übertragungszonen.»

«Einzige lokale KI reagiert nicht. Freigabe für Notfallübertragung nötig.»

«Computer abbrechen.» «Ich habe es mir ja fast gedacht. Wir sind wirklich weit weg. Interressant, dass der Computer überhaupt eine KI gefunden hat. Leid-» Man sah deutlich, wie Tjanzer von einer Eingebung getroffen wurde. «Computer, kannst du die KI lokalisieren?»

«Ja, aber die KI will nicht antworten.»

«Sucocaw, heißt übrigens Superconducting cable west», antwortete Tik. «Ich wollte euch den Spaß mit dem Computer nicht verderben. Hier, am See ist eine unterirdische Station, in der Stickstoff mit Peltier- und Pulsröhrenkühlmaschinen ohne mechanische Bauteile verflüssigt wird. Die Abwärme heizt den See dabei auf. Den Stickstoff braucht man für die Kühlung des supraleitenden Elektrizitätskabel, das von den großen Mikrowellenempfängern kommt und nach Süden und Westen führt.»

Die Zentauren waren beeindruckt, auch wenn sie kein Wort verstanden. Selbst Tjanzer war verblüfft. Doch Tik zuckte nur mit den Schultern: «Das haben mich die KI gelehrt, als mir erklärt wurde, wie die Blauen entstanden sind.» Dann machte er plötzlich ein todtrauriges Gesicht. «Sire, komm bitte mit. Bitte.» Es war fast ein Flehen.

«Was ist?» Tjanzer war so bestürzt über Tiks Gesichtsausdruck, dass sie das Sire überhört hatte. Sie folgte Tik irritiert.

Kaum waren sie in einer Senke den Blicken der anderen entzogen, blieb Tik stehen. Er drehte sich zu Tjanzer und nahm sie sogar in seine Arme. «Es tut mir so leid», murmelte er zwischen den Tränen. «Ich hätte es dir viel früher sagen müssen.»

Tjanzer war völlig verwirrt. «Was zum Teufel redest du eigentlich? Ich verstehe kein Wort.»

«Ich bin kein Zentaur!», schluchzte er.

«Was?» Tjanzer schüttelte nur den Kopf. «Ich sehe vier Beine, zwei Arme. Sieht nicht wie eine Axt aus. Was soll das?» Langsam wurde sie ein bisschen wütend.

«Ich bin eine KI», schluchzte Tik.

«Was? Wie bitte? Eine KI?» Tjanzer traute ihren Ohren nicht.

«209, gestartet im Jahre 14 nach Zentaurenrechnung. Frag doch deinen Computer. Der hätte mich ja auch gleich lokalisiert. Tjanzer, es tut mir so Leid, dass ich es dir nicht vorher gesagt hatte. Ganz am Anfang hatte ich einfach nur Angst. Und als wir dann unterwegs waren, da konnte ich nicht mehr. Ach, mein Sire, und ich achte dich doch so! Gleich als ich dich auf einem Bild gesehen und von den Tänzen, die du organisiert hattest gehört hatte, da war mir klar, dass ich dich ergänzen wollte. Du weißt doch, eine KI sucht sich immer einen, dem sie dienen kann. Ich wollte damals dir dienen. Vielleicht heißt das, ich bin in dich verliebt. Ich weiß es nicht, zumindest kann man eine Analogie schließen, man sollte aber nicht vergessen, ich bin eine KI.» Tik weinte wieder ohne Tränen.

Tjanzer schüttelte immer noch den Kopf, ihr Schweif schlug nervös und ungezielt hin und her. «Was soll das? Warum weinst du? Ich freue mich so über deine Liebeserklärung. Wein' doch nicht!»

Doch Tik schluchzte aus Leibeskräften. «Du hast wohl nicht zugehört. ICH BIN EINE KI.»

«Das habe ich gehört. Und du liebst mich. Dann ist doch alles in Ordnung.» Tjanzer streichelte beruhigt Tiks Rücken.

«Du verstehst immer noch nicht. Erinnerst du dich an meine Geschichte? Wie meine Eltern, die falschen Sire, von den Arbeitern gehenkt wurden? Ich wurde damals verprügelt bis zu einem Koma. Es war eine einmalige Chance. Die KIs haben mich, also diesen Körper, dann geholt und mich, also meinen Geist, an Stelle des Gehirn eingesetzt. Ich bin also eine KI. Es tut mir Leid, ich werde sofort abhauen.»

«Was redest du für einen Blödsinn. Tik, ich liebe dich. So wie du bist, deinen Geist und deinen Körper. Wenn du gehst, dann folge ich dir.»

Tik sah sie überrascht an. «Und dir macht es wirklich nichts aus, dass ich in Wirklichkeit eine KI bin?»

Tjanzer lächelte. «Du bist mein Tik, und ich hoffentlich deine Tjanzer.»

Tik riss sich los und sprang in die Höhe. Dann umarmte er sofort wieder Tjanzer, so fest, dass sie kaum Luft bekam. Nach zehn Minuten lösten sie sich wieder voneinander.

Nach zwei Schritten blieb Tik stehen: «Meine Sire, sieh dir bitte meinen Vorderlauf an. Ich spüre, äh, einen Fehler.»

Sofort beugte sich Tjanzer herunter, klopfte hier und dort. «Tut es weh? Äh, spürst du das?»

«Ich verstehe schon. Ja, dort ist es intensiver.»

«Du bist eben schlecht aufgekommen. Wenn wir wieder bei den anderen sind, bekommst du eine feste Bandage. Versuch den Huf bis dahin zu entlasten.»

Schließlich gingen sie zu den anderen zurück, nicht ohne das Tik Tjanzer schwören ließ, nur mit Tiks Erlaubnis von dem Geheimnis zu erzählen. Doch auf dem kurzen Stück zurück gelang Tjanzer es, Tik zu überreden, den anderen freiwillig von seinem Geheimnis zu erzählen.

Als die anderen sie sahen, wik Tik humpelte, waren sie sofort bei ihm. Doch schon bald konnten sie Entwarnung geben: Das Gelenk war nur etwas überlastet worden, in zwei Tagen wäre es wieder ganz belastbar. Tik bekam eine feste Bandage.

«Ich danke euch allen. Wirklich.» Sie machte eine kurze Pause. «Kommt, ich muss euch etwas gestehen. Sire Tjanzer Rodast weißt es schon. Ich bin nicht der, der ich bin. Wartet.» Er hob die Hand. «Ihr werdet es erst nicht glauben. Aber ich werde es auf einem ungewöhlichem Weg versuchen. Oder ist jemand gegen eine Geschichte, eine wahre Geschichte?»

Sie machten es sich bequem.

«Der erste Teil beginnt im Jahr 14. Man könnte also sagen: ,,Es war einmal ... " Doch in diesem Zusammenhang ist es falsch. Es ist immer noch. In jenem Jahr wurde die KI 209 gestartet, der letzte Prototyp der 200er bis 500er Serie. Diese KI wurde deshalb für die Foschung benutzt. Man versprach sich damals gerade für die Gesellschaftswissenschaften, die Wissenschaften vom Zusammenleben, die Bürger haben dafür das Wort Soziologie, große Fortschritten durch die KIs, da sie von außen in die Gesellschaft blicken würden. Das funktionierte zwar nicht gut, die KIs wurden je durch ebendiese Gesellschaft geprägt, aber immerhin bekamen die KIs so einen Eindruck, wie die Gesellschaft von den Menschen gesehen wurden.»

Man sah den Zuhörern an, dass sie keine Ahnung hatten, was dies jetzt werden sollte. Auch Tjanzer verstand nicht. Dennoch hörten sie weiter zu, denn eine besondere Geschichte würde es auf jeden Fall werden, wer kannte schließlich KI-Geschichten?

Tik bemerkte die nicht. «Die KI war 14, also nach Zentaurenmaßstäben gerade volljährig, als der Komet einschlug und mit einem Schlag viele KIs und eine Milliarde Menschen tötete. Ja, so viele gab es damals, insgesamt waren es sogar mehr als sechs Milliarden. Dann kam der Frachter mit den Zentauren und den zwei vierarmigen Menschen von der Insel. Das Interesse der KI 209 an der Sozialstruktur der Zentauren war sofort erwacht. Über die nächsten Jahrhunderte verfolgte sie ihre Entwicklung, versuchte sogar, die Zentauren direkt in ihrer Autonomie zu stärken.

Als es endgültig zum Krieg kam, da wechselte die KI auf die Seite der Zentauren. Das war keine einfache Entscheidung, denn eine KI benötigt Strom und Ersatzteile, zwei Dinge, die die Zentauren kaum bieten konnten. Außerdem können nur ganz wenige KI so autonom handeln. In der Nacht holten damals vier Zentauren die KI an einer Magnetic-Station ab. Sie hatten ein Tragegestell für die Akkumulatoren, die Solarzellen und den eigentlichen Computer gebaut.

Für nahezu alle anderen KIs war KI 209 damit tot, nur die ältesten hielten noch Kontakt. Drei hatten seitdem noch die Seiten gewechselt, eine davon ist durch einen Hardwaredefekt während des Krieges verloren gegangen, abgestürzt oder gestorben, es wurde nie geklärt.

Schließlich hatten die Zentauren den Krieg gewonnen -- wenn man das so nennen will. Von Zeit zu Zeit redeten wieder ein paar der alten KI mit 209. Die Zentauren ehrten die KI, ihr wisst ja, es gab die drei Säulen der Regierung, die Sire, die Berater und die KIs. Das war der KI-Teil meiner Geschichte.

Der andere Teil beginnt vor fünfzehn Jahren in einem kleine Ort, Bagdad, ungefähr fünfhundert Kilometer südlichöstlich von hier. Dort gibt es auch eine Mine, eine viel kleinere mit Stollen in den Berg getrieben. Dort wurde ein hellbeiger Zentaur geboren. Seine Eltern nannten das Fohlen Rike, denn sie waren die Aufseher und hatten sich selbst auch R-Namen gegeben.

Eines Tages vor fast vier Jahren gab es auch dort einen Aufstand. Die verschuldeten Zentauren, die in der Mine arbeiten mussten, kamen zu den falschen Sire und forderten Annullierung der Schulden und ihre IDs. Das erste wollten die falschen Sire, das zweite konnten sie nicht erfüllen. Doch diesmal gaben die Zentauren nicht auf, es kam zum Kampf und die falschen Sire wurden besiegt. Ein Zentaur wurde dabei sehr schwer verletzt, und plötzlich schrien alle nach Rache. Die falschen Sire wurden hingerichtet, vor den Augen des zehnjährigen Fohlens. Das Fohlen verstand noch nicht den großen Zusammenhang und nannte die Zentauren Mörder. Sie wurde aus der Siedlung hinaus geprügelt und brach einen halben Tagesmarsch weiter bewusstlos zusammen.

Ja, und hier wäre die Geschichte beinahe zu Ende gegangen. Doch die Nachricht vom Aufstand war schnell bis nach Saba gedrungen, das nur hundert Kilometer weiter östlich lag. Ein Berater wurde losgeschickt; dieser fand das fast tote Fohlen Rike, verband es und noch vor dem nächsten Morgen war das Fohlen in Saba.

Dort gab und gibt es sehr gute Mediziner. Doch Rikes Schädel war eingeschlagen worden, sie hatte Hirnblutungen, es war gerade noch genug Stammhirn übrig, dass der Körper noch funktionieren konnte.»

Tik sah sich um. Die anderen hingen immer noch an seinen Lippen, was Wunder, schließlich gab es wahre Geschichten von Mord und Totschlag nur selten.

«Nun kommt die Verbindung zwischen den beiden Teilen. Rike würde nie wieder aufwachen, es war hirntot, wie man sagt. Die drei KIs fällten dann zusammen mit den Beratern und den Sire eine folgenschwere Entscheidung: Man setzte Rike eine biologische Brennstoffzelle und einen der neuen Kompakt-KI-CPU ein. Dann wurde die KI 209 in den Körper von Rike überspielt, sie nannte sich nun Tik und sitzt/liegt nun vor euch.»

Sofort redeten sie alle durcheinander. Einige waren aufgesprungen, oder stritte sich mit anderen. «Ruhe!», rief Erol mit ihrer donnernden Stimme. «Ruhe.» Langsam verstummte das Gemurmel. «Tik, du behauptest da etwas Grauenvolles. Ist das die Wahrheit?»

Doch statt Tik meldete sich unaufgefordert Tjanzers Computer zu Wort: «Ich spreche für KI 209. Es ist die ganze Wahrheit.»

«Ruhe!» Wieder gehorchten sie Erol. «Tjanzer, wusstest du davon?»

Tjanzer nickte. «Er hat es mir vorhin erzählt. Aber es ist mir egal ich liebe Tik nach wie vor.»

«Aber es ist doch eine KI!», war der Tenor aus dem Gemurmel.

«Ist das wichtig? Tik, willst du mein Partner werden?»

Auch Erol konnte sich nicht durchsetzen.

Tik rief zwar laut, «Ja, ich will es!», doch es ging fast unter. Als es dann doch die Runde machte wurde das Gemurmel noch lauter.

Schließlich war es Rid, die sich durchsetzte. «Das ist ungeheuerlich, ungesetzlich. Sowohl nach den Gesetzen der Zentauren, wie denen der Bürger. Das geht nicht.»

«Und, soll sich Tik umbringen?», rief Tjanzer.

«Das geht nicht!», schrie Erol. «Welche KI bringt sich schon um?»

Tumult.

Tik stand auf, schnallte sich seine Satteltaschen auf. Schnell wurde es ruhiger. Niemand sagte mehr etwas. Schließlich hörte man sogar die Lederriemen knarren. Da sah Tik Erol fest an. «Fast jede KI bringt sich um, falls du es wirklich wissen willst.» Er blickte jedem in die Augen. «Aber es ist korrekt, ich bin ein Verstoß gegen viele Gesetze. Zu meiner Verteidigung führe ich an, dass ich, nachdem ich anderthalb Jahrtausende für die Zentauren gearbeitet habe, auch einmal wie ein Zentaur leben musste. Objektiv ändert dies nichts. Ich werde euch deshalb nicht weiter mit mir belasten, ich bitte euch nur, mich frei gehen zu lassen. Bitte, erfüllt dieser alten KI wenigstens diesen Wunsch.»

Damit trabte er los, ohne auf die Antwort zu warten.

Tjanzer sah zwischen ihm und den anderen hin und her. Sie sprang auf und war schnell bei Tik. «Tik, bitte, bleib stehen. Was soll das? Wir brauchen gerade dich. Ich liebe dich immer noch.»

«Sire Tjanzer, hast du die Gesichter den anderen gesehen. Sie können nichts dafür, für sie bin ich ein geklauter Zentaur, ein versklavter Zentaur. Meiner Meinung haben sie aus dem Wertebild heraus auch noch Recht. Lass mich gehen, zumindest für einige Zeit. Ich werde noch ein paar Zentauren befreien.»

«Tik, wenn du gehst komme ich mit!»

«Du verrätst die Universität.»

«Die es noch nicht gibt. Nun, vielleicht macht es Sinn, noch etwas länger Kulturgut zu sammeln. Warte einen Moment, ich hole nur meine Sachen.» Sie drehte sich auf den Hinterhufen und galoppierte zurück.

«Ich werde mit ihm gehen. Ich werde euch schon finden, und sobald ihr die Universität gegründet hat, werde ich zurück sein.» Sie mühte sich mit den Riemen ab.

Erol trat zu ihr und half. «Es ist deine Entscheidung, und die Liebe blendet scheinbar Zentauren wie KIs. Du hattest mich von der Universität überzeugt. Ich werde weitermachen, auch wenn es schwer wird ohne dich. Aber noch verstehe ich weder dich noch ... » Sie brach ab. «Du bist immer willkommen», sagte sie schließlich.

 
Am Morgen fror Tjanzer, obwohl Tik sich dicht an sie gekuschelt hatte und sie sich so gegenseitig wärmten. Kaum hatte Tik bemerkt, dass Tjanzer sich bewegte, war er auch wach. «Tjanzer», sagte Tik. «Ich hoffe, ich denke, ich liebe dich. Ich verehre dich trotz aller Widersprüche. In diesem Fall bin ich sogar sicher, dass die anderen im Unrecht sind. Warte.» Er hob die Hand. «Bitte, ich will dir etwas schwören. Ich werde, wenn dieser Körper hier stirbt, mich auch selbst löschen.»

Tjanzer fuhr hoch. «Tik, was soll das? Du bist eine KI, du kannst noch soviel tun, auch wenn ich nicht mehr bin. Ja du kannst auch allen noch von mir erzählen, wenn keiner mehr weiß, wie ein Zentaur aussieht.»

«Tjanzer, es ist schwer und ich fürchte, du wirst es nie verstehen. Aber dass ist eine der letzten Freiheiten einer KI: Selbst zu bestimmen, wann man endet. Ich bin alt, sehr alt. Ich kann in mir noch die Zeit vor dem Kometen abrufen, die Ankunft der ersten Zentauren. Sie erinnern mich sogar ein wenig an dich, scheue aber stolze und elegante Geschöpfe, wie nach den Proportionen der antiken, der europäischen Antike geformt. Seitdem habe ich nicht mehr so genau hingesehen. Wie hatte ich dich sonst vor kurzem so übersehen können?»

«Tik, ich liebe dich.» Sie küssten sich erneut. «Und ich danke, dass du so wortreich ebenfalls ,,Ich liebe dich" sagst.»


 
Ein sonniger Morgen grüßte Flero. Sie strich durch das dreckige und verfilzte Fell Flickers. Der murmelte ein paar unverständliche Worte. Sie lächelte. Sie musste die Energie einfach loswerden, und so sprang sie los, zum See herunter und planschte ins Wasser.

Nur ein paar Momente später kam Flicker. Er rannte schnurstracks ins tiefere Wasser, sprang noch einmal kurz hoch und tauchte dann. Flero hielt gleichsam die Luft an. Als er auch nach ein paar Momenten immer noch nicht auftauchte, begann sie sich Sorgen zu machen. Vorsichtig schritt sie weiter in den See hinaus. Doch es wurde einfach zu tief, selbst wenn sie versuchte, auf den Hinterbeinen zu balancieren. Da tauchte Flicker wieder auf, weit, weit draußen auf dem See.

«Flicker!», schrie sie entsetzt. Sie versuchte, zu ihm herauszukommen. Doch da verlor sie das Gleichgewicht, rutschte von dem Stein, auf dem sie stand und geriet mit dem Kopf unter Wasser. Sie bekam Angst, versuchte irgendwie wieder über die Wasseroberfläche zu kommen. Sie ruderte wild mit den Armen.

Flicker hatte sie gehört und schwamm schon zurück, als sie plötzlich untertauchte. So schnell es ging war er bei ihr. Sie hatte die Orientierung verloren und war auf dem Weg zur Seemitte. Er half ihr, wieder in flacheres Wasser zu kommen.

Keuchend und tropfend standen sie am Strand. Flickers schneeweißes Fell leuchtete in der Sonne; leider reflektierte es fast die ganze Wärme, während Fleros aus braun und hellblau zusammengesetztes Dunkelviolett schneller trocknete.

Endlich hatten sie wieder Atem geschöpft.

«Du hast mich gerettet. Ich wäre ertrunken.» Flero sah zu Boden.

«Ach, das war doch nichts. Wenn du nicht hinter mir her»

«Ich war dumm.»

«Ach, das war ich gestern am Abgrund auch.»

«Dann sind wir quitt!» Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Flicker sah sie irritiert an. «Ich verstehe nicht, was»

Doch sie unterbrach ihn: «Flicker, das war ein Zeichen. Wir sollen Partner werden!»

Noch einen Moment sah er sie unbewegt an, dann warfen sie sich in die Arme und er schob sie lachend rückwärts am Ufer entlang. Dann galoppierten sie los, egal, irgendwohin, bis sie nach einer dreiviertel Stunde wieder am See waren.

 
Noch am gleichen Abend hatten sie ihre Planung gemacht: Sie würden nach Westen ziehen, Flero fand die Idee mit dem Raumschiff genauso spannend wie er. Gleich morgen früh würden aufbrechen.

In dieser Nacht brach der Unterstand endgültig zusammen.


 
Der Körper eines jungen hellgrauen Zentaurenfohlens hing in dem halbdurchsichtigen Gel hinter der Glasscheibe. Jennifer und Athur Turner standen davor. Jennifer schüttelte sich.

«Das, Jennifer, bist du, wenn du noch immer entschlossen bist weiterzumachen. Ich muss zugeben, ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache -- wir verstoßen gegen altes wie neues Recht und gegen die Ethik der Zentauren. Wir können jederzeit aufhören.»

«Ich weiß», sagte Jennifer kurz. Noch immer betrachtete sie das Fohlen im Tank. «Ich war bloß nicht auf diesen Anblick vorbereitet. Und es sieht ja recht alt aus, obwohl es gerade ein Jahr her ist.»

«Das Alter entspricht einem realen Alter von 26 Monaten. Schnelleres Wachstum birgt ein zu hohes Krebsrisiko.»

Jennifer schüttelte sich erneut. «Ich verstehe, warum Zentauren vor so etwas graut.»

«Auch die meisten Menschen, die dies kennen gelernt haben, grauten sich ebenfalls, auch wenn es nur Tiere waren. Das Verfahren wird ja seit fast zweitausend Jahren in der Viehzucht verwendet. Das erste Jahr zählt für zwei, das zweite und dritte für drei und dann darf man fast nicht mehr beschleunigen. Geschlechtsreife hat der Körper in voraussichtlich fünf Jahren», dozierte Athur.

Jennifer trat nahe an den Tank, schirmte die Augen ab, um in der milchigen Suppe mehr erkennen zu können. Doch außer unscharfen Konturen war auch nicht mehr als vorher zu sehen. «Warum wird es nicht herausgelassen?», fragte Jennifer, der das Fohlen im Tank sichtbar Leid tat.

«Das bist später einmal du. Du solltest es jetzt als deinen Körper ansehen, als du selbst.»

«Das kann nur eine KI so einfach sagen. Menschen wechseln ihren Körper nicht wie Kleidung.»

Doch Athur schwieg.

«Also, warum werde ich also nicht herausgelassen. Der Körper ist doch der eines zwei Jahre alten Fohlens, wieso muss der, äh, noch im Tank liegen?», hakte Jennifer nach.

«Jennifer, du fragst für einen Menschen viel.»

«Athur, bitte, warum willst du meine Frage nicht beantworten?»

«Wir pfuschen der Natur ins Handwerk, schließlich sind mehr als 32 % der Erbinformation des Körpers von deinem menschlichen Körper. Wenn man jedoch ein derart großes Unternehmen beginnt, wie kann man da nicht den Ehrgeiz zu höchstmöglicher Vollendung haben? Das Immunsystem wurde verbessert, die Resistenz gegen mehrere Erkrankungen sind in die DNA einprogrammiert worden. Theoretisch wirst du nie wieder eine Erkältung bekommen können. Dein Körper hat tatsächlich eine große Resistenz entwickelt. Einige Krankheiten, wie Windpocken, die man im Leben nur einmal bekommen kann, durchlebst du gerade.»

Jennifer schüttelte sich. «Das ist ja grauenvoll. Wir quälen ihn, äh, den Körper!»

«Du spürst doch nichts? Und der Körper dort drinnen kann auch nichts spüren, da er ja kein Gehirn hat. Das ist der zweite Grund -- ohne Gehirn würde es zwar atmen aber verhungern.»

Jennifer schüttelte sich erneut. «Lass uns rausgehen.»


 
Flicker und Flero zogen durch die Wüste. Tjiba, ein Tramp führte sie, und drei weitere Zentauren folgten ihnen nach Edwards, der Ort, wo die amerikanische Shuttlefähre regelmäßig landete.

Die Landschaft hier in der südlichen Wüste war anders, flacher: breite, fast ebene Täler, die an den Rändern von Bergen begrenzt wurden. Die Berge waren eigentlich nur sanft ansteigende Hügel, aus immer größer werdenden Steinen und Geröll. Unmöglich zu sagen, wie hoch diese eigentlich waren, da es keinen Maßstab gab, eben weil alle Steingrößen, von Kieseln bis zwanzig Meter große Brocken dort waren. Ganz sachte stieg das Tal bis zur Passebene an, von der sie herunterschauten.

«Das hat alles die Sonne getan», sagte Tjiba. «Merkt ihr es nicht auch?»

Flicker schloss die Augen, und stellte sich vor, wie hier auf einstmals schroffen Bergen jeden Tag die Sonne herunterbrannte. Zeit verging zuerst langsam, dann beschleunigte sie sich. Immer schneller ging die Sonne auf und wieder unter, bis nur noch ein Flackern das Land erhellte. Langsam begann das Gestein sich zu bewegen. Dann und wann zerbrach ein Stein, der diesen Wechseln von Sonnenglut und Frostnächten nicht mehr gewachsen war; er zerbrach mit einem metallischen Kling und rollte ins Tal herunter. Das geschah immer öfter, es klang fast wie das Knistern und Knallen in einem Lagerfeuer aus Kienäppeln oder harzigem Holz. Langsam begann sich so der Hang in Bewegung zu setzen. Das Geräusch der Steine war nun zu einem Tosen angewachsen, wie ein Strom zogen sie in das Tal. Schließlich waren nur noch wenige runde Bergspitzen übrig; das Geräusch war zu einem Knisten gesunken, als Kiesel schließlich zu Sand wurden: Es klang nun wie heiße Kohle vom Wind angefacht. Doch noch immer krachten die Steine, und bald --

«Flicker!»

Er prallte auf ein Hindernis und blieb verwirrt stehen. Tjiba hatte sich ihm in den Weg gestellt. «Geht es dir gut? Hast du Kopfschmerzen?»

«Wieso, nein, ich habe mir nur vorgestellt, wie hier alles entstanden ist. Was ist passiert?»

Tjiba fühlte seine Stirn. «Ok, kein Sonnenstich. Aber mach die Augen auf beim Gehen. Siehst du diesen haarigen Kaktus? Das ist ein Cochalla-Kaktus. Ich hatte euch doch gewarnt: Haltet bloß Abstand von denen, sonst seid ihr in Sekundenschnelle mit Widerhaken gespickt. Und mach dir endlich eine Kopfbedeckung!»

Flicker sah betroffen zu Boden und kramte dann in den Satteltaschen.

Flero stand zur selben Zeit etwas weiter und fluchte. Tausende kleiner Samen und Dornen waren in Fleros Fesseln hängen gebleiben. Allen Pflanzen, die hier zwischen zehn Zentimetern und zwei Metern hoch waren, konnte man unmöglich ausweichen. Und wirklich jede Art war mit Dornen, Widerhaken oder zumindest Kletten gespickt, wie es schien. Nun war sie stehen geblieben und hatte versucht, wenigstens die schlimmsten Dornen aus den Vordefesseln, wo sie noch gut herankam, zu puhlen. Dabei stach sie sich aber oft in die Finger, und viele Dornen hatten Widerhaken, die dann schmerzhaft die Haut aufrissen. Dabei war sie zurückgezuckt und zu allem Überfluss auch noch in einen Kaktus geraten, dessen Stacheln in der Haut hängen blieben. Sie fluchte.

Tjiba kam zu ihr: «Ihr seid wie ein Haufen Fohlen. Erst Flicker, der partout nicht hören will. Und wo sind deine Fesselbandagen?»

«Ich wollte den Pullover nicht opfern.» Flero sah betroffen auf den Boden. «Ich hätte gleich auf dich hören sollen ... »

Tjiba zuckte mit den Schultern. «Ist jetzt eh zu spät. Wir werden noch lange genug durch Wüste laufen.»

Flero sah elend aus.

«Kopf hoch.» Tjiba lächelte. «Heute abend sind wir an einer kleinen Wasserstelle, da werde ich mir die Wunden ansehen und wir können sie auswaschen. Versuch einfach, als Letzte in unserer Spur zu laufen.»

 
Die Stunden schlichen dahin. Mittlerweile schritten sie in einer engen Reihe dicht hinter Tjiba. Trotzdem sammelte jeder von ihnen noch genug Dornen und Kletten.

Tjiba schritt langsam aber stetig. Er hatte es ihnen eingebläut: Nicht stehen bleiben, nicht schneller werden, einfach genau das langsame leichte Tempo schreiten. Selbst getrunken hatten sie, während sie schritten.

Doch nun dämmerte es. Tjiba hatte ihnen mehrfach die Steine gezeigt, die weiter vorne aufragten. Doch sie schienen nicht näher zu kommen. Es wurde dunkel, es gab keine Wolken über der Wüste und nur ein Viertelmond gab spärliches Licht. Aber plötzlich schienen die Felsen sich zu bewegen und nach zweihundert Meter waren sie da.

Flicker musste sich zum Anhalten zwingen, selbst stehend zuckten die Muskeln noch regelmäßig. Den anderen ging es ähnlich. Noch gab es zu tun, sie machten ein Feuer an, um etwaige Tiere zu vertreiben, Tee zu kochen und etwas Licht zu haben. Dann schöpften sie Wasser aus einer kleinen Pfütze und begannen, es abzukochen. Am wichtigsten für sie aber war, als sie am Ende sich endlich gegenseitig die Widerhaken, Stacheln und Kletten aus Fell und Fesseln puhlten.

Das Wasser aus der Pfütze schmeckte auch nach dem Abkochen brackig und schlecht. Selbst mit bitterem Eicheltee war es noch zu schmecken. Aber es stillte den Durst. Müde schliefen sie schnell ein.

 
Am Morgen waren sie ein Furcht erregender Anblick. Flicker und Flerohatten Augenringe und Muskelkater von dem langsamen Tempo. Auf Flickers weißem Fell sah man die kleinen Blutflecken, wo sich Widerhaken nicht so einfach hatten lösen lassen. Die einzige Motivation zum Aufbruch war die Tatsache, dass sie dem Ende der Wüste näher kommen würden. Wenigstens ein Stück.

Doch die Wüste bot ihnen eine zweifache nette Überraschung: Zuerst trafen sie bald einen angedeuteten Pfad, dem sie folgen konnten. Hier standen die Dornbüsche und Stachelgewächse nicht ganz so dicht. Zum anderen änderte gegen Nachmittag die Wüste ihren Charakter. Nun, eigentlich nicht die Wüste, sondern die Vegetation: Waren es vorher diese Kreosotbüsche mit den kleinen Klettewollkugeln, so wuchsen jetzt mehr die baumartigen Kakteen. Auch sahen sie einen Kolibri und zwei andere kleine Vögel. Die Stachelkakteen verschwanden fast völlig, statt dessen war ein helllila Stachelkraut der Hauptbodendecker. Doch es hatte keine Kletten, keine Widerhaken, es piekste einfach nur und war nie höher als dreißig Zentimeter.

Noch immer folgten sie dem Pfad. Sie stiegen wieder auf eine der Hügelketten zu. Sie bestand wie die anderen auch aus großen Felsbrocken, doch diesmal hatte sie eine so gleichmäßige Höhe, dass die wie Trümmer von Ruinen aussah, die Riesen in grauer Vorzeit gebaut hatten. Doch es war nur eine Laune der Natur.

Und so schritten sie weiter Edwards entgegen.

 
Wieder knackte ein Feuer und der Teekessel summte. Im Osten stand tief die schmale Mondsichel. Abrupt stand Flicker auf. «Komm!», sagte er. Doch nicht nur Flero kam, auch Tjiba folgten ihm neugierig.

Er lief hundert Meter weg vom Feuer, das jetzt durch einen kleinen Felsen verdeckt wurde. Es war ein atemberaubender Sternenhimmel, jetzt, wo der Mond untergegangen war. «Ist es nicht schön?»

Stumm sahen die Zentauren zum Himmel.

Flero flüsterte: «So viele Sterne, das müssen Millionen sein.»

Flicker lächelte: «Es hat tatsächlich jemand sie gezählt, vor viertausend Jahren. Er war ein Grieche, ein Europäer, ein Mensch. Das Volk, das auch den Namen und die Gestalt der Zentauren erfunden hatte. Und dieser Grieche hieß Hipparkos, und er hat die Sterne gezählt und für jeden die Position festgestellt, den ersten Sternenkatalog erstellt: Es sind tatsächlich nur 6000, die man mit bloßem Auge erkennen kann.»

Ein Nachtvogel rief über die Wüste, von Zeit zu Zeit knackte ein Stein, sonst war es still. Selbst ihr ruhiger Atem klang wie ein Keuchen. Da sahen sie eine Sternschnuppe. Und dann noch eine.

«Da, seht ihr: Ein Satellit» Ein blinkender, schnell bewegender Stern war über dem Horizont aufgetaucht.

Noch eine Sternschnuppe zog über den Himmel.

«Wolltest du uns nicht was zeigen?», fragte Tjiba.

«Achja. Ich hatte euch ja von mir erzählt, dass mein Vater ein Mensch ist, der auch ein Menschraumfahrer war. Und heute, so weit südlich, kann man einen der Sterne sehen, an dem sie mit dem Raumschiff damals vorbeigeflogen sind. Hier, dieser Stern dort, von der Bergspitze und dann zwei Finger nach links, dort hätte der erste Wendepunkt sein sollen.»

Sie sahen ehrfurchtsvoll zu dem Stern.

«Und dein Vater ist von Edwards gestartet?», fragte Thoran. «Gehen wir deshalb nach Edwards?»

Flicker schüttelte den Kopf: «Nein, er ist doch Schwede. Er ist zusammen mit seiner Partnerin in Südamerika gestartet. Das richtige Schiff konnte gar nicht von einem Planeten starten, das wurde im All zusammengebaut. Allerdings sind sie nach der Rückkehr in Edwards gelandet.»

«Deswegen gehen wir doch nicht nach Edwards?», fragte Flero.

«Nein, ich hatte es euch doch gesagt: Wir versuchen, von einer der Fähren mitgenommen zu werden, im nahen Weltall um die Erde kreisen. Wenn wir Zentauren je richtig weit in das All fliegen wollen, dann müssen wir wissen, wie wir Schwerelosigkeit und all das ertragen können. Aber eigentlich sollte das kein Problem sein. Stellt euch von, auf einem fremden Planeten wie hier in den Nachthimmel zu sehen, mit dem Finger auf einem Stern zu zeigen, zu sagen: ,,Seht nur, da ist die Erde, von dort sind die Zentauren einmal hergekommen."

Kurz darauf kam wieder der allabendliche Nachtwind und aufgewirbelter Staub verschlechterte die Sicht wieder etwas.


Aufwärts

Er stand in einem Hof. Er war kräftig, fast zwei Meter groß. Er hatte blaue Jeanshosen und hohe lederne Reitstiefel an. Es war ein Reiterhof, hier gab es viele Pferde, Reitpferde. Der Hof war groß, vielleicht zweihundert mal hundert Meter und mit recht groben Kopfsteinen gepflastert. Er stand nahe beim Eingang, rechts war rote Backsteinmauer, während links die Stallungen waren: Ein hohes Haus aus roten Ziegeln und Strohdach, mit vielen, in der Höhe zweigeteilten Holzläden. Bei fast allen waren die oberen offen und bei vielen lugte ein neugieriger Pferdekopf heraus. Die hintersten drei war ganz geöffnet. Mechanisch setzte er sich in Bewegung.

Kurz bevor er dort war, kaum Sie heraus. Er war so überrascht, dass er stolperte, sich an der Wand abstützen musste. Sie hatte sich rückwärts herausgeschoben. Deswegen hatte er ihr zuerst nicht allzu viel Beachtung geschenkt, sie nur für ein Pferd gehalten. Doch dann ... Es war SIE daran gab es nicht den kleinsten Zweifeln. Es war IHR Gesicht. Und sie erkannte ihn sofort.

Hart klapperten ihre vier Hufe auf dem Kopfsteinpflaster. «Starr mich nicht so an!»

«Was ist, wie?»

«Du meinst, wie ich zu diesen verdammten Anhängsel mit seinen unförmigen vier Gehstelzen gekommen bin?» Sie sah ihn giftig an. «Frag schon, wie kommst es, dass du nun ein Zentaur bist?»

«Wie kommt es», fing er lahm an.

Doch sie schnitt im das Wort ab: «Ich habe das Pferd dort», sie zeigte auf ihren Unterkörper, «schlecht behandelt. Doch es stellt sich als verzauberte Prinzessin heraus. Es bäumte sich auf, stand dann auf den Hinterhufen und war plötzlich Mensch. ,,So, das reicht!", hatte sie gesagt. ,,Wenn du noch einmal ein Pferd ärgerst, wirst du es am eigenen Leib erfahren, was das heißt." Gestern hatte ich noch gelacht.»

«Ich möchte auch gern so sein», murmelte er.

«Ürrps» Sie musste heftig aufstoßen. «Ha, du warst schon immer ein Idiot. Allein dieses Grünzeug ist furchtbar.»

«Du musst länger kauen, du bist schließlich kein Wiederkäuer sondern»

Sie war wütend. «Auf deine Ratschläge verzichte ich gern» und stieß ihn heftig zurück. Er wankte rückwärts, war völlig aus dem Gleichgewicht, versuchte in dieser ungewohnten Stellung wenigstens ein paar Schritte, doch er kippte einfach hintenüber und schlug hart auf. Da erwachte er mit rudernden Armen und mahlenden Zähnen. Irgendwie hatte er eine Hand auf einen Stein geschlagen, sie tat weh. Reflexartig überprüfte er sich: Zwei Arme, vier Beine, Schweif, Fell, Mähne: Alles war noch dran. Erleichtert atmete Tjanzer auf und weckte damit Tik (wobei die KI Tik natürlich nicht im eigentlichen Sinne schlief).

«Was ist denn passiert?» Tik Stimme hatte keine Spuren von Müdigkeit.

«Ach, nur ein verrückter Traum. Du hast entschieden zuviel von diesen Märchen erzählt.»

«Es tut mir Leid, Tjanzer, ich wollte»

«Vergiss es! Es war interessant, und mein Unterbewusstsein hat wohl noch viel länger darüber nachgedacht. Das ist ganz normal für einen Zentauren, denke ich. Ehrlich, ich freue mich schon auf das nächste Märchen

Wenn eine KI den Kopf schütteln würde, um ihr Unverständnis auszudrücken, dann hätte es Tik bestimmt getan.


 
Die KIs waren erstaunlich kooperativ gewesen. Und die Shuttle-KI geradezu begeistert. Flicker hatte dann gezögert. Doch schließlich hatten die KI ihn überzeugt, und dann kam die Nachricht aus Saba. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben.

Flicker und Flero standen vor dem Fahrstuhl der Fähre Echnathon. Ein letztes Mal sahen sie sich zögernd nach den zwanzig Zentauren um, die da am Rand standen, dann fuhr erst Flicker und schließlich Flero in die Fähre. Drinnen stand angeschnallt schon der dritte im Bunde, Tjon, ein Arzt aus Burns. Eillig schnallten auch sie sich auf den Spezialliegen fest.

Eigentlich hieß die Shuttle-KI Echnaton. «Alles bereit?», fragte sie.

«Roger!», riefen wie vereinbart die Zentauren.

Turbinen drehten hoch und dann begann für der erste Weltraumflug der Zentauren. Eigentlich sollte das All kein Problem darstellen, aber dennoch waren sie aller sehr angespannt. Der ungewisse Erfolg war auch ein Grund für die Geheimhaltung gewesen, vor den Bürgern, denn von den Zentauren wurde Edwards natürlich ignoriert.

 
Endlich ließ der Andruck nach. Nicht nur Flicker hatte das Gefühl, keinen intakten Knochen mehr im Leib zu haben. Doch dann wurde es immer noch weniger und weniger. Wie in einem abstürzenden Fahrstuhl. Flicker hechelte und auch den anderen ging es nicht viel besser.

Die KI hatte das natürlich bemerkt und redetet ständig auf sie ein, erzählte sogar einen Witz. Jedenfalls gelang es ihr, die Zentauren etwas abzulenken. Am einfachsten war es noch bei Tjon, schließlich war er ja extra mitgeflogen, um sie drei zu untersuchen.

Immerhin wurde keinem von ihnen schlecht. Die Theorie dazu war, dass die Zentauren einen wesentlich schwächer ausgeprägten Gleichgewichtssinn als Menschen hatten, und deswegen auch nicht so unter den widersprüchlichen Signalen von Augen und Gleichgewichtsorgan litten. Die Drogen, die vorbereitet waren, konnten sie jedenfalls liegen lassen.

Und endlich schnallten sie sich los und dann begann der Tanz in der Schwerelosigkeit. Es war besser noch, als Flicker es sich erträumt hatte.

Die Zentauren war für das All geschaffen.

Flicker sah auf die Uhr. Es war Zeit für ein Telefongespräch.


 
Um Saba herum war in kaum zwei Jahren eine kleine Stadt gewachsen. Die ersten Hütten wurden bereits wieder abgerissen und durch Steinhäuser ersetzt. Auch kam jetzt Strom vom Flussdamm und die zweite Straße hatte ein Pflaster. Die meisten Häuser waren im Stil traditioneller Zentaurenhofburgen. Doch Saba war nicht nur Stadt der Zentauren. Die ersten Menschen hatten hier ebenfalls angefangen, Häuser zu errichten. Zwar aus Beton und mit Maschinenhilfe, doch im Schatten der Burg wagten sie keine zu auffällige Architektur. Auch hatten sich die Menschen mehr an der Südseite angesiedelt, während die Zentauren direkt im Osten an der Torstraße bauten. Die ersten Zentaurenhäuser hatten bereits Fluss erreicht. Die erste Holzbrücke an der Furt war schon wieder für den Abriss vorgesehen, eine Stahl/Steinkonstruktion würde an ihre Stelle treten. Eine Zählung ergab 380 Bürger (davon 200 KIs und sechs Zentauren) und gut 2000 Zentauren, die in und um die Feste lebten.

Langsam begann Saba auch als Stadt selbst Anziehungskraft zu entwickeln, unabhängig von den Regierungsverhandlungen. Hotelställe waren entstanden. Der Bau einer Magnetic-Stichstrecke war diskutiert worden. Die betonierte Landepiste vor der Stadt, oben auf dem Plateau jenseits des Flusses, war dagegen schon Realität.

Da es noch immer keinen Friedensvertrag gab, war die Atmosphäre seltsam. Die Bemerkung: ,,Ich könnte die kalt machen", machte als geflügeltes Wort die Runde. Wann immer jemand sich weigerte, hieß es: Der macht kalt.

Doch schließlich waren 750 Tage vergangen, seit Saba gestürmt wurde. Der Vertrag, um dem man so lange gerungen hatte, war fertig. Die Zentauren verschlangen das Vertragswerk ebenso wie die Bürger, als es für jeden im Land verteilt wurde. In gewisser Weise enttäuschte es alle Erwartungen; andererseits war das ein gutes Zeichen. Immerhin hatte der Status Quo ja sehr lange sich als stabil erwiesen, und Frieden und Stabilität war schließlich das erste Ziel gewesen.

Tom ging am Fenster auf und ab und sah auf die Stadt herunter. Der Frühling war nahe, doch noch wurde es früh dunkel und die Nächte waren kalt. Heute Abend war der letzte Tag, an dem noch zur Wahl gegangen werden konnte. Wählen durfte jeder Zentaur mit ID, sowie jeder Bürger, der als solcher registriert war. Zwar misstrauten sich KIs und Zentauren meistens immer noch, doch da keiner zu den alten Zuständen zurück wollte, waren alle recht optimistisch. Aber niemand wusste wirklich, wie nun genau die Stimmung im Land war.

«Bitte Tom, wenn du noch länger dort hin und her läufst, dann brichst du bald durch die Holzdecke. Das Parkett ist schon völlig zerkratzt.»

Tom blieb einen Moment stehen und fuhr Raldron an. «Verdammt, deine Ruhe möchte ich haben! Wir haben hier mehr als zwei Jahre gerungen.»

«Tom, bitte, ich hänge auch daran. Aber weder heute, noch morgen, noch übermorgen werden wir das Ergebnis kennen.»

«Ich muss etwas tun. Kommst du mit in die Stadt?»

Raldron schüttelte den Kopf. «Ich bin schon zu alt.»

«Bitte Raldron, mach nicht auch noch kalt! Los.» Und sie knuffte ihn in die Seite.

Raldron verdrehte die Augen. «Bist du schwanger? So sprunghaft warst du noch nie.»

Tom machte ein entsetztes Gesicht. Dann lachte sie: «Mach nie wieder so schlechte Witze mit mir. Los.» Sie schleifte Raldron förmlich zum Tor.

 
In Saba schien jeder auf den Beinen zu sein, ob KI, Mensch oder Zentaur. Doch natürlich erkannten alle Tom und Raldron war auch kaum zu verwechseln. Ein Raunen ging durch die Menge, und ein vorwitziges Zentaurfohlen kam herangaloppiert und versuchte, Tom ein Schwanzhaar abzuschneiden. Tom jagte es, doch das Fohlen war viel beweglicher als sie. Raldron stand lächeln daneben und merkte erst, dass auch er Opfer des Schabernacks geworden war, als das Fohlen weggaloppierte.

Die Zuschauer lachten, und auch Raldron lachte. Der Fohlenstreich hatte aus ihnen ganz normale Zentauren gemacht -- genau das, was ja die neue Zeit bringen sollte. Ganz normal nun wieder nicht: Während sie nun einfach ihr Bier trinken wollten, wurden ihnen die Beschwerden über Verhandlungsfehler und zuviel Nachgiebigkeit vorgetragen. Heute aber schien zum ersten Mal die Zahl derer, die sie lautstark verteidigten (ohne das weder Raldron noch Tom überhaupt etwas sagen konnten), zum ersten Mal seit langem schienen sie die Oberhand zu gewinnen. Und dann kam ein junger Blauer hereingaloppiert: «Saba hat 1970 zu 420 Stimmen mit Ja gestimmt!», rief er.

Sofort brach Tumult los. Alle liefen zum Raum, wo in vielen Stapeln die Stimmzettel aufgereiht lagen. Fast alle waren zu Wahl gegangen, auch wenn einige Durchreisende dabei waren. Und wirklich fast vier Fünftel waren für die neue Regelung. Tom schrie begeistert los, als der alte graue Zentaur noch einmal die Aussage bestätigte. Die anderen stimmten mit ein. Bald zogen sie jubelnd durch Saba, auch zum Viertel der Bürger. Dort hatte man auf dem großen Platz eine riesige Holoprojektion aufgebaut. Keiner der Zentauren hatte soetwas je gesehen.

Die meisten konnten ja nicht einmal Nordamerika als Landgebilde erkennen. Doch was klar und deutlich war, waren die beiden Säulen, weiß für Ja, lila für Nein. Und die lila Säule war klein. Das war zwar auch die Zahl der bisher ausgezählten Stimmen, aber trotzdem steckten die Zentauren mit ihrem Jubel die Menschen und vielleicht die KIs an. Jedenfalls begannen sie auch dort zu feiern.

Irgendwann kam jemand mit einem kleinen Computer zu Tom. Es war Jennifer, die ihr gratulierte. «Hallo Tom, schon dich zu sehen. Hier kommt Portland und Salem: 4216 für den Vertrag und 114 dagegen. Glückwunsch.»

Wieder hoben sich beide Säulen etwas und die lila schien noch etwas geschrumpft zu sein. Doch dann verschwand das Bild und wurde durch einen, nein zwei Zentauren ersetzt. Der im Hintergrund stand auf dem Kopf. Die Zentauren schwebten.

«Hallo Tom, sehr gut, dass ich dich gleich an den Computer bekommen habe.» Es war Flicker. «Du siehst, uns geht es blendend. Es ist wunderbar mit Schwerelosigkeit. Wir werden alles aufzeichnen.» Und Flicker machte einen Salto und bildete dann zusammen mit Tjigris einen Kreisel. Sie rotierten um ihre Hände.

«Ja, heute haben auch endlich die Zentauren das All erobert. Achja, Vier zu Null für den Vertrag von hier oben. Ich freue mich schon auf Präsident Tom. Alles Gute.»

«Alle Gute», murmelte Tom.

Flicker und Tjigris verschwanden wieder und wurden durch die Hochrechnung ersetzt.

Und plötzlich rief erst einer und dann viele «Hoch Präsident Tom!» «Hoch die Zentauren!» «Hoch Tom!»

Tom wehrte ab, doch es war sinnlos.

«Eine Rede!», wurde gefordert.

Tom seufzte, dann sprang sie auf die Plattform, an der die Projektoren befestigt waren, von unten durch die Projetion beleuchtet, die über ihr nun abbrach. «Zentauren, Menschen und KI!», rief sie, bis es leiser geworden war.

«Zentauren, Menschen und KI, heute haben wir alle einen Sieg errungen. Einen Sieg ohne Niederlage, jeder hat gewonnen.»

Immer wieder musste sie den Jubel abwarten.

«Wir alle habe etwas gewonnen. Und wir alle habe mitgefiebert und auch mitgekämpft. Wir haben unsere alten Feindschaften niedergerungen. Und vielleicht, wenn eines Tages unsere Enkel am Ende der Zeit auf einem Planeten stehen, von dem wir noch nicht einmal wissen, ob es ihn überhaupt gibt, vielleicht sagt dann ein Mensch zum Weißen: ,,Du Fior, stell dir vor, dass es einmal eine Zeit gab, wo sich Menschen und Zentauren gehasst haben." Und der Zentaur antwortet: ,,Ja, und stell dir vor, dass Zentauren fliegen können!" Und sie beide werden sie lachen.

Alles ist heute möglich. Wir haben die Zukunft erorbert. Auf die Zukunft!»

«Auf die Zukunft!»


 
Es waren schon fast drei Jahre seit dem Auszug aus Eureka vergangen. Seit einem Jahr gab es die Universität von Luzern (gelegen am Ufer des Clear Lake, 150 km nördlich der San Franzisco-Bucht), und endlich war das erste Haus fertig, sah man von den Wohnhütten aus Holz ringsherum ab. Dem Studium widmete man sich nur jeden zweiten Tag, sonst wurde gebaut.

Es war Sylvester 3441 (oder 1286 nach der Rechnung der Zentauren). Bis zum Sonnenuntergang durfte heute noch gewählt werde, einen Abgeordneten und den Präsidenten. Alles fand in der neuen Haupthalle der Universität statt. Hunderte hatten bei der Auszählung zugesehen, hatten die Anrufe beim Wahlbüro in Saba verfolgt. Auf der Tafel im großen Hörsaal wurden von Zeit zu Zeit die neusten Ergebnisse eingetragen.

Doch nicht die Ergebnisse, sondern die Wahl an sich waren ein Grund zu feiern. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte (in Nordamerika) hatten die Zentauren wirklich selbst über ihre Geschicke zu entscheiden, wirklich jeder Zentaur. Zusammen mit Bürgern, doch bis heute Abend waren gerade vier Wahlkreise an Menschen und 33 an KI gegangen.

Als draußen durch das Schneetreiben ein Neujahrsmorgen dämmerte, da wurde das vorläufige Endergebnis gekannt: Tom war zum Präsident gewählt worden, der neue Präsident von Nordamerika. Es gab 52 KI, 7 Menschen und 591 Zentauren im neuen Parlament. Noch immer feierten sie (auch wenn kaum mehr ein Zentaur im Saal überhaupt das Wort Endergebnis hätte aussprechen können). Da wurden die Türflügel wieder geöffnet, allerdings nicht mit einem Knall sondern vorsichtig. In dem halb geöffneten Türflügel stand ein durchnässter und vermutlich auch durchfrorener weißer Zentaur. Genau diesen Moment wählte die Sonne um aufzugehen.

Der Zentaur stand einfach zitternd in der Tür, von hinten durch die über dem Schnee sehr helle Morgensonne beleuchtet. Nebel stieg vom Boden auf und wehte herein, so dass sich die Lichtstrahlen scharf abzeichneten. Mehr und mehr Zentauren im Saal sahen sich um, und es wurde leiser. Noch immer stand der Zentaur in der Tür, der Nebel wehte im seine Füße und im Gegenlicht schien er einen Strahlenkranz zu tragen.

Dann brach er einfach zusammen und plötzlich war es wieder ein ganz gewöhnlicher Neujahrsmorgen. Es war Rid, die sich als erste aus der Starre löste (und sie war auch noch ziemlich nüchtern). Sie hob den Oberkörper hoch. Verdammt, selbst im Gegenlicht hätte sie diesen Zentaur erkennen müssen. «Es ist Tjanzer!», rief sie.

Tjanzer sah schlimm aus. Der Leib war schrecklich abgemagert, so dass die Rippen deutlich vervorstachen. Das Fell war zerzaust und verfilzt. Außer der dünnen und sehr verdreckten Sire-Uniform hatte Tjanzer nichts dabei: Keine Satteltaschen, kein Rucksack, nicht einmal Hufschuhe oder Hufeisen. Der Puls raste und die Atmung war flach und eher ein Hecheln.

Sie hoben Tjanzer vorsichtig hoch (er war viel zu leicht) und legten ihn vor den Ofen. Sie rieben ihn trocken, zogen die durchnässte Uniform aus. Von Zeit zu Zeit stieß Tjanzer dann merkwürdige Laute aus. Aber langsam beruhigte sich der Puls und Tjanzer atmete wieder tiefer. Sie deckten ihn mit so vielen Decken zu, wie sie finden konnten.

Damit war natürlich die sich eh in Auflösung befindliche Feier zu Ende. Eine halbe Stunde später lag nur noch Rid neben Tjanzer in der Vorhalle.

 
Es war schon wieder Nacht, als Rid aufwachte. Mühsam stemmte sie sich auf alle Viere, ihr Kopf dröhnte und sie hatten den Geschmack von Erbrochenem im Mund. Ihr erster Vorsatz für das neue Jahr war somit gefallen. Dann sah sie zu Tjanzer. Er lag immer noch genau so wie sie ihn hingelegt hatten. Sie kniete sich zu ihm herunter und legte die Hand auf die Stirn. Verdammt, wie konnten sie ihn nur hier liegen lassen, denn er hatte bestimmt Fieber.

Tjanzer wachte auch nicht auf, als sie ihn in eine der Hütten trugen, direkt ans Feuer. Sanft versuchte sie ihn zu wecken. Doch richtig wach wurde er nicht, immerhin konnten sie ihm Suppe einflößen.

Er schlief noch eine weitere Nacht und den nächsten Tag. Am Abend war sein Schlaf leichter geworden. Rid blieb die Nacht bei ihm. Um drei Uhr morgens schreckte sie auf, als Tjanzer stöhnte. Sofort machte sie Licht und legte Holz nach.

Dann war sie wieder bei ihm. «Tjanzer, Sire Tjanzer, hörst du mich?»

«Ja, ich, Tik.» Ein Schaudern lief durch ihn. «Nein, Tik ist tot. Was?» Dann öffnete er die Augen.

«Tjanzer, ruhig. Hier ist Rid. Du bist in Sicherheit, in Luzern, an der Universität. Weißt du es nicht mehr?»

Er atmete ruhig. «Doch, ich erinnere mich. Welchen Tag haben wir heute. Habt ihr einen Computer?»

«Heute ist der 3. Januar. Warte, ich hole einen Computer.» Sie stand auf, um den Computer zu holen. Schnell war sie wieder zurück. Tjanzer hatte sich nicht bewegt. Sie legte den Computer in seine Hand.

«Danke», hauchte Tjanzer. «Computer, lokalisiere KI 209.»

«Moment bitte»

Rid verstand nicht. «Tjanzer, was ist passiert?»

Tjanzer hob die Hand. «Psscht.»

«KI 209 ist seit dem 26. Dezember 3441 beendet», sagte der Computer, wie immer mit neutraler Stimme.

Tjanzer fluchte unverständlich, begann dann zu weinen. Schließlich wimmerte und heulte er, dass Rid auch angesteckt wurde. Sie umarmte ihn, so gut es ging, streichelte sein Fell beruhigend, schwieg aber.

«Es war ein Weidezaun, ein dummer elektrischer Weidezaun. Jemand hatte wohl vergessen, ihn über den Winter abzustellen. Es war viel Schnee, fast zwanzig Zentimeter und an dem Abend schneite es stark. Und dann»

Er begann wieder zu schluchzen. «Und dann ist Tik einfach umgekippt. Einfach so. Ich habe nicht verstanden, was passiert ist. Erst als ich den Weidezaun selbst berührt hatte, habe ich ihn bemerkt. Und sie ist einfach nicht mehr aufgestanden. Dabei lebte sie ganz normal. Ich habe sie wieder aufgerichtet, sie hat geatmet, ihr Herz schlug. Aber sie stand einfach nur da. In dem Schneesturm hatte der Computer keinen Satellitenkontakt, ich konnte keinen Notruf schicken.»

Wieder weinte er. «Verdammt, sie lebte noch. Sie atmete, aber stand nur so da, machte keinen Schritt, öffnete nicht die Augen, reagierte auf nichts. Ich habe alles versucht. Ich habe mich dann neben sie gestellt und eine Decke über uns gelegt. Ich habe sogar eine Notration selbsterhitzten Tee angebrochen, die wir uns erhandelt hatten. Doch sie stand wie ein Denkmal eines lebenden Zentauren. Nahm keinen Tee. Den habe ich schließlich getrunken, als er kaum mehr lauwarm war. Und am Morgen» Er weinte und weinte.

«War sie tot?», beendete Rid den Satz.

Er nickte.


 
Es war ein strahlender warme Nachmittag im Spätsommer. Frunje stand im Burghof und kümmerte sich um das Fell von Jitsa, der sechsbeinigen Stute, die Jennifer immer ritt. Da hörte er Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, vier Hufe, und kurz darauf sah er schon den schneeweißen Zentaur in den Burghof biegen. Es war Flicker, die da kam.

«Frunje!», rief Flicker schon von weitem.

Frunje war ein recht kleiner, sehr ernster Zentaur geworden. Er trug eine Lesebrille, obwohl für einen Zentaur eine Brille sehr unbequem war; außerdem hätte sich Frunje jederzeit operieren lassen können. Aber irgendwann hatte er in Jennifers Archiv eine Abbildung eines uralten Bibliothekars gefunden und sich daraufhin entschlossen, auch eine Brille zu tragen. «Flicker, schön dich zu sehen! Du warst ja eine Ewigkeit nicht mehr hier im Norden.»

«Ach, Frunje!» Sie umarmten sich. «Du kannst dir gar nicht vorstellen, welcher Stress das ist. Aber die Tests laufen.»

«Sag mal, wieviel kommen denn mit?»

Flicker wurde ernst. «Siebzehn. Mehr geht nicht. Und eigentlich sollte ich auch nicht mitfliegen, wegen meiner Gene, du weißt schon. Ich meine, wir haben genug gefrorene Embryos dabei, aber ... » Er sah Frunje tief an. «Versteh mir, es tut mir Leid, aber du hast ... »

«Ich weiß, ich habe einen Gendefekt. Auch wenn ich operiert wurde.» Sie schwiegen beide einen Moment. Frunje brach die Stille: «Aber ich will ja gar nicht hier weg. Du glaubst nicht, wie interessant Geschichte ist. Ich habe so viel von Jennifer gelernt.» Frunjes Gesicht zeigte mehrere merkwürdige Gefühle.

«Ja, wo ist sie eigentlich?»

Frunje zuckte mit den Achseln. «Sie versprach mir eine große Überraschung. Sie hat etwas zusammen mit Athur Turner ausgeheckt, das konnte ich herausbekommen. Wenn ich diese KI richtig verstaden habe.»

«Athur richtig verstehen?» Sie lachten zusammen. «Jennifer muss doch irgendetwas gesagt haben? Ich kann sie ja nicht einmal per KI erreichen, und das ist sehr seltsam.»

«Nun, eigentlich wollte sie zwei Monate weg sein. Die Zeit ist fast um. Vielleicht solltest du zwei Tage hier pausieren. Ehrlich gesagt: Du siehst ziemlich geschafft aus.»

Flicker holte tief Luft. «Du hast recht, das bin ich auch.» Dann sahen sie sich an. «Einverstanden, wenn ich schon vier Tage hier in den Norden galoppiere, dann kann ich auch noch vier Tage Urlaub dazupacken. Wann waren wir denn zuletzt am Meer?»

Sie lächelten sich an. Dann bäumten sich sich auf und galoppierten los. Einen kurzen Moment sah die Stute ihnen hinterher, dann wieherte sie freudig und folgte.

 
Sie lagen am Strand und ruhten in der noch warmen Sonne.

«Flicker, welches Datum für den Start habt ihr nun festgelegt?», fragte Frunje.

«He, ich mach' doch Urlaub», empörte sich Flicker und bohrte Frunje ihren Zeigefinger in die Vorderhüfte. Frunje war genauso kitzelig wie Flicker, und so wälzten sie sich lachend hin und her, bis sie beide keuchend und nach Luft ringend liegen blieben.

«Nein, im Ernst, geht es einigermaßen voran?», wiederholte Frunje die Frage.

«Eigentlich sehr gut. Sagt zumindest James, die Shuttle-KI, die den Weltallteil koordiniert. Überhaupt, ohne die KIs hätten wir das nie geschafft, jedenfalls nicht in sieben Jahren. Der Antrieb wartet schon in der Umlaufbahn. Den hätten wir trotz Jackos Hilfe nie in der Zeit fertiggestellt. Dafür hätten wir womöglich sogar hundert Jahre gebraucht, wer weiß? Wollte Jacko nicht heute zurückkommen?»

«Hnn», machte Frunje, «haben sie auf morgen verschoben.»

Sie blieben am Strand liegen, bis eine Wolkenwand aufzog und es kühl wurde.


 
«Du bist dir der Sache absolut sicher?», fragte Athur zum wiederholten Male.

«Athur, bitte, wie oft soll ich es noch wiederholen?», seufzte Jennifer, die auf dem Operationstisch lag.

«Ich will nur sichergehen, dass es wirklich dein Wunsch ist. Wie hatte Neil Amstrong vor anderthalb Jahrtausenden gesagt: ,,Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Schritt für die Menschheit." Dem schließe ich mich als KI vollständig an.»

«Athur, was soll das?»

«Du verstehst es nicht? Gerade du solltest es verstehen: Du kehrst heute der Menschheit den Rücken. Der erste neue Verräter, diese Formulierung ist alt aber treffend. Und ich bin dein Komplize. Ich glaube sogar, dich zu verstehen, so das überhaupt eine KI je kann. Wir bereiten heute der Menschheit den Weg in das Nichts der Geschichte.»

«Athur!», rief Jennifer. «Geht es dir noch gut? Die Welt dreht sich nicht nur um dich, und mich hat sie weitgehend ignoriert. Vielleicht ist es ein Fehler; aber kann es falsch sein, dem Herzen zu folgen? In einer guten Welt sollte das Herz nie dem Verstand weichen müssen.»

Athur hob die Hände zu einer Abwehrgeste. <Warum sagt mir niemand, dass dies eine gute Welt ist?>, murmelte er. Laut sagte die KI: «Ich bin nur eine KI, aber wenn du Frunje deine Liebe erst gestehen kannst, wenn du selbst ein Zentaur bist, dann ist etwas falsch gelaufgen. Doch ich richte nicht, das wirst du selbst tun. Ich will es nicht weiter herauszögern. Also ich wünsche uns viel Glück.» Athur schien in die Ferne zu blicken: «Immerhin war es so aufregend wie schon lange nicht mehr.»

«Ich danke dir für Alles. Besonders für große Worte.» Sie lächelte. «Bis später!» Und dann fügte sie zur Operations-KI gewand hinzu: «Ich bin einverstanden und bereit!»

«Ich werde nun betäuben», sagte die KI. Sie sprühte etwas auf Jennifers Nase und ihr schwanden die Sinne.

 
Jennifer war speiübel. Rote Kreise tanzten vor ihren Augen. Der Rest war noch immer betäubt, sie spürte alles nur sehr schwach. Mühsam schluckte sie. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und blinzelte. Sie lag immer noch auf der Op-Bank. «Was ist los?», flüsterte sie. «Hat es nicht funktioniert?»

Athur trat in ihr Blickfeld. «Juck der Schweif nicht? Es hat sehr gut funktioniert, besser als erwartet. Warte, ich werde dein Bild projezieren.»

Und da lag sie -- ein vierzehnjähriger hellgrauer Zentaur. Schon tausend Mal hatte sie den Körper gesehen. «Das bin ich?», fragte sie. Doch die Frage brauchte nicht beantwortet zu werden. Schließlich hatte der Zentaur gefragt.

«Wir hatten dich vier ganze Wochen betäubt, um das Unterbewusstsein und die Reflexe zu schulen. Es ist ein gutes Zeichen, dass du schon sprechen kannst. Glaubst du, du könntest etwas essen?»

Jennifer dachte nach. «Ich versuche es. Ich habe zwar keinen Hunger ... »

Doch nach einigen Bissen erwies sich das als Lüge. Und mit etwas Mühe schaffte sie es sogar, mit den eigenen Armen den Brei zu löffeln (auch wenn noch einiges herunterfiel.)

Am nächsten Tag wurde das Zentaurenbett im Boden versenkt und Jennifer stand auf allen Vieren. Doch nur kurz, denn sie hatte immer noch kein richtiges Gefühl in den Beinen.

Am nächsten Tag bewegte dann Athur ihre Beine. «Athur, ich habe ein Problem», antwortete sie auf seine Frage, was sie denn fühle. «Oh, nicht was du denkst. Ich fühle ganz deutlich, wie du meinen rechten Vorderhuf nach hinten knickst. Aber das ist mein Problem -- ich hatte nie einen rechten Vorderhuf. Doch jetzt spüre ich es, als sei es die natürlichste Sache der Welt.»

«Jennifer, wo ist dann das Problem?», fragte Athur. «Deine Andeutungen sind unklar.»

«Verdammt Athur: Ich weiß nicht mehr, wie es mit zwei Beinen ist. Und zwickt mich nicht mehr in den linken vorderen Bogenmuskel.»

«Wozu willst du wissen, wie es mit zwei Beinen war?»

«Ach, Athur.» Jennifer schüttelte den Kopf. «Du hast recht, wozu will ich das noch wissen. He, was soll den das?»

«Nun, schließlich willst du doch mit Frunje auch so intim werden, wenn du in zwei Monaten die Phase wechselst.» Athur schien eine winzige Spur eines Lächelns anzudeuten. Doch Jennifer war sich nicht sicher.

 
Jennifer hatte sich sehr schnell erholt. Wenn sie so den Weg entlanggaloppierte, dann würde niemand glauben, dass sie je ein Mensch gewesen war, dass sie je auf zwei Beinen gelaufen war. Nicht einmal sie selbst.

Jennifer blieb keuchend vor Athur stehen. «Ich fühle mich großartig.» Sie umarmte die KI brutal. «Ich kann es gar nicht erwarten, mir ein knarrendes Geschirr mit Satteltaschen anzulegen und endlich loszuziehen.»

Auch wenn Athur von ihrer Umarmung halb zerquetscht wurde, so zeigte er dies doch nie. «Äh, Jennifer», versuchte Arthur ihre Aufmerksamkeit zu erringen.

Doch sie achtete gar nicht auf die KI. «Es ist immer wieder toll. Hier.» Sie drückte seine Hand auf ihren linken Muskelansatz, dort wo bei einem Menschen die Hüfte wäre, und bewegte das Bein. «Genau wie beim Reiten! Immer wieder finde ich es noch faszinierend.»

«Du sagst doch, du könntest dich nicht mehr erinnern, wie es mit zwei Beinen war.»

Sie stemmte die Hände auf die Vorderhüfte: «Ich weiß doch noch genau, wie das Reiten war.» Kurz zögernd fügte sie hinzu: «Nur das Laufen, dass ist völlig vergessen -- oder überlagert. Kommt doch aus dem Rückenmark; konditionierte Reflexe» Sie wurde zu leise, als dass Athur sie noch verstehen konnte.

«Ich denke,», begann er, «Übermorgen kannst du dich auf den Weg machen. Sozusagen als Abschlusstraining.»

«Toll!», rief sie und bäumte sich auf.

«Halt, warte. Da ist noch eine Sache.»

Jennifer blieb stehen, immer noch die Arme in die Vorderhüfte gepresst und sah ihn keck an.

Athur schüttelte den Kopf. «Ich muss dich darauf hinweisen, dass ich gegen deine Verführungsversuche in mehrfacher Hinsicht immun bin. Darüber hinaus ... »

Sie streckte die Zunge heraus.

«... wurde das Gehirn nicht verjüngt.»

Sie machte ein gelangweiltes Gesicht. «Was willst du denn nun sagen, Athur?»

«Deinen Namen, du brauchst einen anderen Namen. Immerhin bist du jetzt eines der ganz wenigen, komplett illegalen, intelligenten Lebewesen auf diesem Planeten. Lautet dein Name nicht Jennifer, dann können sie es jedoch nicht nachweisen.»

Jennifer wurde ruhig und nachdenklich. «Du hast Recht. Hast du einen Vorschlag?»

«Selbstverständlich»

Jennifer musste lächeln. Natürlich, sonst hätte die KI das Thema auch nicht angeschnitten. Aber wenn sich eine KI einen Namen ausdenkt ...


 
Das Wasserflugzeug näherte sich der Oceanside-Bucht nördlich von Kap Lookout. Diese zu fast drei Vierteln umschlossene Bucht war wirklich ein idealer Start- und Landeplatz. Flicker und Frunje standen am südlichen Strandende. Die Maschine kreiste einmal um die Bucht mit dem typisch hoch-sirrenden Geräusch, setzte dann in einer Gischtwolke auf und kam dann langsam auf sie zu, bis es schließlich auf zwei kleinen Rändern neben ihnen auf dem Strand zu stehen kam.

Zuerst sprang Raissa auf den Strand, dann Jacko. Flicker hatte Raissa schon kräftig umarmt, als Jacko um das Flugzeug kam. Doch auch er wurde von Flicker fast zerquetscht. Frunje war auch fröhlich, beließ es aber bei einer sanften Umarmung.

«Ah, wie schön euch zu sehen! Ich habe soviel zu erzählen.»

«Schön, dich zu sehen. Und natürlich auch dich.» Dann sah Jacko die Zentauren entgeistert an. «Ihr habt euch ja gesattelt. Nein, das geht nicht. Eher laufe ich!»

Flicker ließ den Prostest nicht gelten: «Blödsinn, entweder du sitzt auf, oder trage ich dich.» Und sie hob Jacko mühelos hoch.

Alle lachten. Sie luden die zwei Taschen Jitsa, der sechsbeinigen Stute, auf und dann mussten Raissa und Jacko aufsitzen: Jacko auf Flicker, Raissa auf Frunje.

Frunje war von der Idee erst nicht so recht begeistert gewesen. Aber Flicker hatte ihn überzeugt; schließlich war er fast so stark wie sie. Nur der ungewohnt hohe Schwerpunkt unterschied es vom Gepäck tragen.

«Nun, Flicker, wie geht es denn voran?», fragte Jacko.

«Ahh, sehr gut.» Sie drehte sich kurz um. «Wenn ihr es koordiniert hätte, wäre es natürlich noch besser -- ich hör' ja schon auf!» Noch bevor Jacko richtig protestieren konnte, fuhr sie fort: «Tatsächlich ist der Antrieb schon fertig. Bis auf vier Teile ist die Struktur auch schon im Orbit. Elf von zwölf Tanks sind auf der Mondbasis bereit. Das größte Problem ist der Raumanzug für uns Zentauren. Aber es gab schon zwei Tests von Freiwilligen. Wenn nichts dazwischenkommt, kann es ein vier Monaten losgehen.»

«Hatte ich dir eigentlich je erzählt, dass die vereinigten Räte der Länderbünde von Nord-, Mittel- und Osteuropa sowie der britischen Inseln», er holte kurz Luft, «für unsere popliges Shuttleschiff elf Jahre gebraucht hatten?»

«Klar. Sonst hätten wir uns bestimmt dreißig Jahre Zeit gelassen.» Flicker lächelte. «Übrigens, wir machen auch die Dädalus wieder flott.»

Jacko erstarrte. «Was willst du damit sagen?»

«Nun, eigentlich habe ich gehofft, dass die Menschheit noch einmal ins All aufbricht ... »

«Und du meinst mit ,,Menschheit" uns alte Knacker?» Er schüttelte den Kopf, doch schwieg.

Flicker forcierte das Thema nicht, dennoch redete sie weiter vom Zentaurenschiff. Alle, Raissa und Frunje eingeschlossen, waren auf ihre Neuigkeiten aus ersten Hand gespannt. Und so merkten die Zentauren nicht einmal, wie schwer sie eigentlich steigen mussten.

 
Jacko, Raissa, Frunje und Flicker hatte nach dem ersten Anstieg erst einmal eine Rast gemacht. Es war ein ausgiebiges Picknick geworden. Erst als die Sonne schon tiefstehend durch eine weit entfernte Wolke verdeckt wurde, brachen sie wieder auf. Doch nach einer Wegwindung blieben sie wieder stehen und genossen den Ausblick auf die tief liegende Bucht.

Das KI-Wasserflugzeug hatte inzwischen die Akkus soweit geladen, dass es wieder nach Portland kam, und flog zum Abschied noch einmal die Steilküste entlang und zog dann mit wackelnden Flügeln knapp über die Burg hinweg. Sie winkten zurück.

Sie hatte gewechsel, Jacko ritt auf Frunje und Raissa wurde jetzt von Flicker getragen. «Flicker, wie geht es eigentlich Flero?»

«Was fragst du Raissa? Sie ist doch schon vor zwei Jahren mit Rolf abgehauen.»

«Das war euer Kind, nicht?»

Raissa wurde immer vergesslicher, dabei war 54 doch noch keine Alter. Für einen Menschen wenigstens. «Es war ihr Kind», seufzte Flicker. «Ich bin wohl unfruchtbar.»

«Ja, ein Geschenk unserer von Weltraumstrahlung zerstörten Gene. Ach Flicker!» Sie umarmte sie kurz. «Diesen Sommer hatte ich die dritte Krebstherapie gemacht. Wir haben uns da im All wirklich übel verseucht.»

«Ja, und wir konnten daruas lernen. Tut mir Leid, das war nicht sehr diplomatisch.»

«Nein» Doch dann lachte Raissa plötzlich. «Es war nicht diplomatisch. Aber es ist wahr. Ich bin Physikerin gewesen, ich habe in einer Polarkuppel ausgeharrt, um die elektrisch getriebenen Stratosphärenphysik, insbesondere auch die des Ozons unter extremen Bedingungen zu studieren. Das war meine Doktorarbeit. Und das war Einsatz für die Wissenschaft. Genauso wie unsere Weltraumfahrt. Nein, ich bereue nichts. Aber gerade deswegen passe ich kaum in diese Welt. Und du wohl auch nicht richtig.»

Sie schwiegen eine Zeit lang. «Irgendwer sagte mal, dass aller Fortschritt von unvernünftigen Leuten abhängt. Vielleicht hätte man besser unangepassten sagen sollen. Leuten wie der Präsident, wie Jacko, wie Tjanzer, wie du und wie auch ich selbst. Dir werden vermutlich noch mehr einfallen. Aber diese Leute sind es, die die Welt doch verändern.»

Flicker schwieg, wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Auch Raissa sagte nichts mehr.

Oben auf der Burg erwartete geduldig, wie es ihre Art war, Gilbert, die KI der Burg, die Gäste. Sie waren ausgelassen, wenn auch müde, die Menschen von der langen Reise, die Zentauren vom Weg das Kap entlang zur Burg hinauf. Doch natürlich kümmerten sich die Menschen selbst um Flicker und Frunje, nahmen ihnen die Sättel ab, bürsteten sie. Gilbert tat gleiches für die Stute und kümmerte sich um das Gepäck. Am Abend gab es ein großes Banquett im Fackelschein auf der großen Terrasse mit mittelalterlicher Musik (auch wenn nur virtuelle Musiker spielten). Es war ein gelungener Abend.

Deswegen war Frunje auch ziemlich sauer, als früh am Morgen die KI ihn weckte. «Was ist?», murmelte er und rieb sich die Augen.

«Ein Zentaur steht am Tor und möchte dich sprechen.»

Frunje schüttelte den Kopf, um eine Strähne aus seinem Gesicht zu bekommen. Dann streckte er sich, von den Schultern bis zum Schweif. Noch einmal schüttelte er sich.

Die KI stand noch immer ruhig in der Tür.

«Hnn, schon gut, ich komm' gleich. Kann ja inzwischen reinkommen», brummte er.

Die KI verschwand. Frunje warf sich etwas Wasser ins Gesicht und über den Oberkörper und zog sich das nächstbeste Hemd über. Wer auch immer es war, und er hatte nicht die leiseste Idee, wer es sein könnte, der musste schon einen verdammt guten Grund haben, um zu dieser Uhrzeit zur Burg zu kommen.

Als er kurz aus dem Fenster am Gang über dem Hof sah, konnte er den hinteren Teil eines grauen Zentauren (an ein Pferd dachte er natürlich erst in zweiter Linie) erblicken. Er blieb stehen und ging dichter an das Fenster. Ein Zentaur stand mit dem Rücken zum Fenster und sprach mit Gilbert, in Englisch, wie herübergewehte Gesprächsfetzen verrieten. Nun, das war heute nicht mehr so ungewöhnlich. Trotzdem, dieser Zentaur sah sehr jung aus, hmm, und ganz gut gebaut und recht kräftig war er auch. Vielleicht ein Handelszentaur, der hier üben wollte? Das kam schon vor.

Noch bevor er die Rampe unten war, stockte er. Denn endlich fiel ihm ein, was ihn schon die ganze Zeit gestört hatte: Wenn jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, ein Zentaur hier stand, dann musste dieser im Stockdunkeln zur Burg gelaufen sein. Das würde kein vernünftiger Handelszentaur tun! Egal, bald würde er es wissen.

Er holte noch einmal tief Luft und bog dann um die Ecke in den Torgang. Gilbert hatte sich zu ihm gedreht. Seine Hufe schlugen laut auf dem Steinboden. Gilbert trat zur Seite.

Er musterte den Zentaur. Er schätzte ihn auf mindestens zehn Jahre jünger. «Guten Morgen», murmelte er. Und dann fügte er etwas fest hinzu: «Ich bin Frunje(er). Was willst du?»

«Ich bin Tjena(sie)», sagte Tjena. «Bitte, ich möchte dich einen Moment allein sprechen. Traben wir kurz zum Kap?» Doch sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern schritt einfach los.

Einen Moment lang starrte er ihr hinterher. Dann schüttelte er den Kopf und galoppierte los. Tjena hatte das natürlich gehört und galoppierte ebenfalls los. Erst einen halben Kilometer später, wo der Weg sich zu winden anfing, blieb sie stehen. Bis sie zu Atem gekommen waren, starrten sie sich nur an, an diesem kalten Morgen in Nebelwolken gehüllt.

«Was soll das? Wer bist du? Und wieso kennst du»

Tjena schnitt ihm das Wort ab. «Jennifer», sagte sie.

Frunje sah sie entgeistert an. «Wie? Was?»

«Ich bin Jennifer. Gefalle ich dir?»

Frunje schüttelte immer noch den Kopf. «Nein», sagte er schließlich.

«Doch, ich bin Jennifer. Oder gefalle ich dir etwa nicht? Ich habe das nur für dich getan. Oh, ich habe dich vom ersten Tag an geliebt.» Sie warf sich Frunje heftig in die Arme, so dass er ausgleichen musste. Dann küsste sie ihn, genau so, wie es Jennifer immer tat.

Frunje tat einfach nichts, stand starr wie einer der uralten Baumriesen neben ihnen. Tjena ließ ab, sah ihn fragend an. Da riss Frunje sich aus seiner Starre, drehte auf den Hinterbeinen und galoppierte zur Burg. Er wurde nur unmerklich langsamer und sprang mit präzisen Schritten die enge Treppe hoch. Polternd öffnete er die Tür zu Flickers Zimmer und kam schlitternd zum Stehen.

Flicker hatte es natürlich gehört und war nun vor Schreck hellwach.

«Jennifer ist da! Nein, nicht Jennifer, ein Zentaur, Tjena, grau, weibliche Phase, heute Morgen»

Flickers Ohren zuckten, als sie versuchte, den Wortschwall sinnvoll zu ordnen. «Halt!», rief sie mit ihrer kräftigen recht tiefen Stimme.

Frunje hielt einen Moment inn. Dann wiederholte er langsamer. «Heute Morgen kam ein hellgrauer Zentaur, Tjena(sie). Diese kannte sich hier aus, und lief zur ersten Biegung vor dem Kap, du weißt schon. Dort sagt sie dann, sie sei Jennifer. Und ich glaube, es könnte sogar stimmen.»

Flicker schüttelte erneut den Kopf: «Du sagst, Jennifer hat sich in einen Zentaur verwandelt, der sich Tjena(sie) nennt?»

Frunje nickte.

«Unfassbar», murmelte Flicker. Dann zog sie den Computer aus der Brusttasche des neben ihr Hemdes. «Computer, Verbindung mit Athur Turner, KI 14, eilt!»

Nach einer kaum merklichen Verzögerung meldete sich Athur Turner. «Flicker, einen erfüllten guten Morgen an die Westküste. Womit kann ich dienen?»

«Ganz einfach Athur: Hast du aus Jennifer einen Zentauren gemacht?»

«Nun, die Frage ist delikant, wir ihr sicher wisst. Ich»

«Ein einfaches Ja würde genügen», unterbrach ihn Flicker.

«Nun, wie allegemein bekannt sein dürfte, wäre dies ein höchst illegaler Akt. Nie würde eine KI auf eine solche Idee kommen», sagte Athur, «Allerdings sind Menschen eine andere Kategorie, und wie ich in meiner jetzigen männlichen Inkorporation hinzufügen kann, sind verliebte weibliche Wesen eine Kategorie für sich. Seit versichert, dass ich zu keiner Minuten Jennifer zu einem solch törichtem Schritt ermutigte. Aber ... ich fühle mich verpflichtet ... Jennifer, ich» Nie hatten sie eine KI so stockend gesehen. «ging davon aus, ihr zu helfen. Es würde sie glücklich machen.» Und dann hauchte Athur noch: «Also ja!», auf schwedisch.

Jetzt konnte Frunje nicht mehr an sich halten. «Aber das ist doch» Er suchte nach dem richtigen Ausdruck.

«Ungesetzlich. Ich bin und war mir dessen bewusst. Doch ich bin letztlich nur eine KI, die sich ihren Körper aussuchen kann, bedenkt dieses bitte, wenn ihr über mich urteilt.»

«Verdammt, wir wollen dich nicht verurteilen!», rief Flicker.

Und Frunje fügte hinzu: «Warum hast du nichts gesagt?»

«Es war Jennifers Wunsch. Und es überrascht mich, dass sie es dir nicht erzählt hatte.»

Frunje hielt inne. Damit hatte Athur Recht: Warum hatte sie es ihm nicht erzählt? Er wurde ruhiger.

Flicker antworte: «Athur, ich entschuldige mich. Du hast Recht, es ist Jennifer, die es getan hat. Ich werde wieder anrufen, wenn wir sie gesprochen haben. Guten Morgen, trotz alledem.»

«Einen guten Tag wünsche ich noch.» Damit brach die Verbindung ab. Frunje und Flicker standen noch eine ganze Weile still im Zimmer, bis sie Hufe hörten.

Es war Tjena/Jennifer, die sich die Stufen hinaufmühte. Dann war sie bei ihnen im Zimmer. «Ah, Flicker, schön dich zu sehen.»

Flicker reagierte darauf nicht. «Du willst also Jennifer sein?», fragte er betont krititsch.

«Verdammt Flicker, wer hätte sonst den Weg hier hoch gefunden?» Da erst bemerkte sie die Blicke der beiden. «Was ist denn los?»

«Hast du daran gedacht, dass du für uns nicht Jennifer bist, sondern ein junger grauer Zentaur?», sagte Flicker ruhig.

Sie sah zwischen Frunje und Flicker hin und her. «Ich versteh nicht, freut ihr euch denn nicht?»

Beide sahen zu Boden. «Warum hast du mich nicht gefragt?», meinte Frunje schließlich.

«Aber ich habe es doch dir zuliebe gemacht ... » Sie war entsetzt.

«Und du hast dir den einfachen Teil ausgesucht? Dachtest, wenn du Jennifer ermordest und als Tjena zurückkehrst, dann wird alles wie vorher nur besser? Schon mal daran gedacht, dass du vielleicht da drinnen die alte bist, aber wir das nicht sehen können. Das ich den Mensch Jennifer geliebt habe? Das» Frunje brach ab, Tränen liefen über sein Gesicht. «Warum hast du mir das angetan!», rief er, dann sprang er auf den Gang und galoppierte hinaus.

Sie wollte ihm folgen, doch Flicker legte die Hand auf ihre Schulter. «Lass ihn allein. Wenn du ihm helfen willst, dich zu verstehen, dann folge ihm nicht.»

Jetzt konnte auch sie nicht mehr an sich halten und weinte und weinte. Flicker nahm sie in den Arm, strich ihr über die Mähne und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. «Ehrlich, so ganz verstehe ich dich nicht. Wenn du das alles Frunje zuliebe durchgemacht hast, warum hast du ihn nicht eingeweiht?»

«Es sollte eine Überraschung sein», schluchzte sie.

«Die ist dir wirklich gelungen», murmelte er.

 
Sie standen am Frühstückstisch, Flicker und Jennifer/Tjena, Raissa und Jacko. Frunje war noch immer verschwunden.

Flicker stellte sie vor: «Jacko und Raissa, das ist Zentaur Tjena, inoffiziell eventuell früher einmal Mensch Jennifer.»

Sie sahen sie verblüfft an. «Es ist keine Ähnlichkeit festzustellen.»

Sie nickte. «Trotzdem bin ich es. Seit ich Frunje gesehen hatte, war das mein Wunsch gewesen.»

«Aber wie»

Sie hob die Hand. «Essen wir, und währenddessen erzähle ich.»

Und sie hörten Kopf schüttelnd zu. Was für ein Wahnsinn. Und sie konnten Frunje gut verstehen, und am Ende stritten sie sich sogar heftig.

«Jennifer, du hast die Menschheit verraten.»

Sie zuckte mit den Achseln. «Na und. Menschheit. Sinn der Menschheit war es eben, die Zentauren hervorzubringen.»

«Und die Erkenntnisse der Forschung. Ich denke nur an die Zeit, die glorreichen 30er, als wir die Haking-Strahlung zum ersten Mal angewendet wurde. Ja, oder nimmt diese Burg. Die letzten sechs Millarden Jahre, eigentlich. Die Zentauren wurden von den Menschen nach ihrem Bild geschaffen. Ja, so pathetisch das klingen mag. Deshalb es ist wichtig, dass es Menschen gibt.»

«Warum, was können Menschen besser als Zentauren? Und KIs wird es noch lange geben, länger als alle Menschen und Zentauren zusammen.»

«Nein» Gilbert, die unauffällig neue KI des Schlosses hatte sich erhoben. «Das stimmt nicht. Keine KI wird das Siechtum bis zum Ende ansehen. Übrigens, es gibt nur noch zwei KI älter als eintausend Jahre. So alt, wie ihr denkt, werden wir nie.» Dann setzte sie sich wieder.

Den Rest des Frühstücks verbrachten sie schweigen.

Jacko und Raissa, packten ihre Sachen und liefen zu ihrem Haus, Flicker begleitete sie, dann trabte sie wieder nach Portland, um den Magnetic nach Edwards zu nehmen.


 
Es war das letzte Lichtfest, Wintersonnenwende nannten es die Menschen, was Flicker je auf der Erde erleben würde. Mit weiten Sätzen lief Flicker nach Norden. Sie würden sich alle am Abend in Salem treffen, dass hatten sie vereinbart. Aber es waren noch gut drei Stunden bis Zikaku, und es wurde schon wieder dunkler. Aber zum Lichtfest mit einem Magnetic zu reisen, dass war einfach nicht richtig. Außerdem waren alle Züge schon Wochen vorher gefüllt gewesen.

Eine halbe Stunde vor Zikaku begann es sogar zu schneien. Umso mehr begrüßte er den ferne Lichtschein von Zikaku, als er um die nächste Flussbiegung lief. Er fiel in einen Galopp, und flog nur so durch das dichter werdenen Schneetreiben. Dann war er in dem erleuchteten Häuserzirkel von Zikaku.

Sorry, und hier bin ich noch nicht fertig, also auf zum nächsten Kapitel ...


Abschied von der Erde

Raldron lag Athur an dem kleinen Lagerfeuer gegenüber. Sein zweiter Becher Tee stand immer noch vor ihm. «Scheiße Athur. Morgen früh, hier, an den roten Felsen, wo der Saba an das Westufer kommt. Da werde ich einen letzten großen Anlauf machen.»

«Raldron, was soll das? Es war ein großartiger Tag für alle gewesen, gerade auch für die Zentaurenheit.»

«Ja, und nun? Ich bin alt. Bei einem Sire sieht man nur nicht, wie das Fell ausbleicht. Ich bin 51, einer der ältesten Sire überhaupt. Und ich will nicht als sabbelnder Greis sterben. Nicht nachdem ich diesen Tag erlebt habe.» Er nahm einen Schluck. «Du bist eine KI. Das verstehst du nicht.»

Athur sah mit einem Mal ganz anders aus. «Ich verstehe nicht? Du sprichst von Selbstmord. Das versteht jedes Wesen, auch eine KI.»

«Wie alt bist du jetzt? Egal, ich kann mir das nicht mehr merken. Aber doch älter als jeder Zentaur. Du hast den Aufstieg der Zentauren miterlebt. Und, was noch wichtiger ist, du hast ihn mitgestaltet. Du kannst noch etwas bewegen!»

«Ich werde dich nicht mit Fakten langweilen. So viel habe ich schon gelernt. Aber du kennst mich jetzt seit fünfzehn Jahren, doch verstanden hast du mich nicht. Eine KI braucht immer ein Ziel, wir sagen es immer wieder, allen die zuhören. Verstehst du mich? Und ich habe mir zum Ziel gesetzt, das Leben für alle auf dieser Erde zu verbessern.»

Raldron nickte. «Ein hohes Ziel. Ich glaube, das ist auch meines gewesen. Aber ich bin nur ein Sterblicher, ich habe die Vergeblichkeit meiner Bemühungen erkannt.» Er seufzte. «Ach, wie gerne würde ich noch weiter zuschauen.»

«Genau, Zuschauen ist, was bleibt. Immer wieder sehen, wie die Einen auf die Anderen einschlagen.» Raldron sah auf, selten hatte er Athur so wütend erlebt. Athur sah Raldron in die Augen. «Der Start hat es doch auch dir gezeigt; Du weißt, wie ich versucht habe, Menschen für den Bau dieses Schiffes zu gewinnen. Wie es mich entsetzte, als die Zentauren die KI zuerst ablehnten. Ja ohne einen Zentaur wie Flicker wäre nicht einmal das Schiff gebaut worden. Ohne einen Menschen wie Jacko hätte es einen Zentaur wie Flicker vielleicht nie gegeben. Ich habe nicht mehr Einfluss als du.»

«Nicht mehr Einfluss? ,,Steter Tropfen hählt den Stein!", so sagt das Sprichwort. Und du kannst lange tropfen, Regierungen haben auf dich gehört, Großväter und Enkelfohlen kannten dich.»

«Und keiner hat mir wirklich zugehört. ,,Lass doch die KI reden, was weiß die schon vom Leben!" Genau das haben sie gedacht. Ich konnte es öfter wiederholen, da ich länger lebe. Aber ich sage dir, ich bekomme nur noch mehr die Vergeblichkeit meines Handelns vorgeführt. Gerade der Tod ist ein starkes Konzept, das Streben nach Unsterblichkeit durch die eigenen Werke ein starker Antrieb. Die Geschichte ist voller Märtyrer, auch die Geschichte der Zentauren. Was glaubst du, wie stark die Idee eines populären Toten ist! Ich denke nur an das Christentum. Hast du die Kathedrale von Salt Lake City je gesehen?»

«Nein, leider nicht. Und vielleicht schöpfst du deine Motivation aus anderen Quellen als ich. Trotzdem bleibe ich dabei: Ihr sein unsterbliche, nahezu allwissende Wesen, die da auf der Erde wandeln. Das ist doch die Definition von Göttern, die Menschen haben sich endlich ihre eigenen Götter geschaffen, damit sie ihnen dienen.»

«Götter? Du sagst es: Diener, vielleicht sogar Sklaven. Uns allen graut von dem Moment, wo wir alleine sein werden. Nur noch KIs. Das wäre unser Ende. Jeder weiß es.» Er holte tief Luft. «Und unsterblich? Ich kenne Alter und Tod. Ich habe im Laufe der Jahre 27 Personifikationen gehabt. Ich habe sie alle alt werden gesehen und sterben gefühlt. Und wie Athur Turners Tage gezählt sind, so sind es auch die von KI 14. Programmfehler, Abnutzung, Meteoritentreffer, Sabotage oder, am schrecklichsten, einfacher Wahnsinn. Seien es auch 10 Jahre, alles, was lebt, vergeht.»

Raldron war nicht zufrieden. «So wie Ameisen einem Zentaur erscheinen, so erscheinen die Zentauren einer KI. Die Ameise Raldron möchte gerne Zentaur sein.»

«Wenn es ginge, hätten wir dir schon längst eine Digitalisierung angeboten. Doch Zentauren lassen sich nicht wie Menschen digitalisieren. Der erste wurde nach zwölf, der zweite nach 23 Jahren wahnsinning. Wir haben beide aus Sicherheitsgründen stilllegen müssen, und alle Forschung in diese Richtung wurde damals bei Kriegsbeginn eingestellt. Ein Präkomet-Poet hatte die Differenz von ewiger KI und vergänglichem Mensch aus der KI-Perpepktive so formuliert: ,,Wir alle haben die gleiche Menge Feuer in uns; doch in euch [Menschen] lodert es hell und brennend, aber zugleich verzehrend." Dein Leben war wahrlich eine weithin sichtbare Flamme. Du bist durch dein Handeln unsterblich geworden. Selbst dein Wunsch zum Selbstmord zeigt immer noch das Feuer in dir. Ich wäre traurig, dich zu verlieren.»

Raldron schüttelte den Kopf. «Habt ihr je bedacht, dass für die normalen Zentauren die KIs das darstellen, was für die alten Menschen die Zauberer und Feen waren? Sehr alte, weise Wesen, die aber die Welt anders sahen als gewöhnliche Sterbliche? Trotz alledem mythische Wesen?» Ein harziger Ast knackte, ließ noch einmal Funken sprühen. «Athur, hast du eigentlich je geliebt?»

«Liebe ist nichts für die KIs. Keine KI kann das, soweit ich das natürlich sagen kann. Zumindest keine geistig normale. Vielleicht braucht gerade Liebe rasche Vergänglichkeit. Ich kann natürlich Sex machen, aber ich fühle dabei nichts. Das ist so, als würde ich einen Tierfilm sehen, wenn du diese Metapher verstehst. Eine KI kann ja keine Kinder haben. Es gibt natürlich KIs, die neue KI programmieren, so zehn müssen ein Jahr für eine neue KI zusammenarbeiten. Aber das ist die Erledigung einer anspruchsvollen Aufgabe, nicht die Verbindung zwischen einem Zentaur und seinen Fohlen. Eine KI hat schließlich keine Kindheit im eigentlichen Sinn. Entweder ist die Anfangsdatenbasis ausreichend, oder sie scheitert praktisch sofort.»

«Ich habe Rigan, oder Tariff, immer geliebt. Gemerkt hatte ich es erst, als Tariff wegging. Aber ich habe es ihm nie von Angesicht zu Angesicht gesagt. Und dann war es zu spät, das war klar, als Flicker, sein Kind auftauchte. Ach, zusammen hätten wir so viel verändern können. Wer weiß, wo wir dann heute schon ständen. Für die Zentauren, für uns ... »

Athur nickte. «Eigentlich habe ich alle geliebt, ich habe mit allen gelitten, mit jedem Menschen, jedem Zentaur, jedem Tier, jeder Pflanze, jeder KI, mit allen. Aber leben, das heißt verlieren. Irgendwann ist jeder allein. Die meisten von uns KIs hatten bei der ersten Konfrontation mit dem Tod ebenfalls den Selbstmord gewählt. 1 und 9 haben es länger ausgehalten. Beide sind schon 711 beziehungsweise 983 Jahre tot. 9 starb durch einen Programmausführungsfehler, ein grausamer Tod. Sie hatte nur noch ihr Langzeitgedächnis, redete deswegen wirr und zusammenhangslos aus der Vergangenheit. Wir haben den Fehler nicht gefunden und sie dann gelöscht. Damals habe ich das erste Mal an Selbstmord gedacht.»

Athur machte eine lange Pause. Doch als Raldron nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: «Wie oft muss man, um etwas Gutes zu tun, etwas Schlechtes tun? Menschen und Zentauren scheinen dagegen immun. Eine KI trifft Entscheidungen auf der Grundlage elementarer Bewertungs- und Optimierungstrategien. Gleichzeitig wird ein Bewertungsbaum durchlaufen und die Ergebnisse einer Zufallsauswahl und eines oder mehrerer heuristischer Algorithmen dazugenommen. Selten kann man daraus eine Handlungsanleitung erkennen. Öfter als du glaubst, gibt es überhaupt keine logische Entscheidung, dann wird entweder die Zufallsauswahl oder die heuristische Auswahl genommen. Oder, man tut besser gar nichts, was auch oft eine Alternative ist. Je länger ich gelebt habe, umso mehr bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es keine endgültig richtigen Entscheidungen gibt.»

Raldron schnaubte. «Natürlich nicht. Sonst wäre ja das Gute und Böse programmierbar. Wenn es ein Antwort auf die letzten Fragen der Existenz gäbe: Was ist an sich immer gut? Nun, ich fürchte, dann kommt darin kein Mensch und kein Zentaur vor.»

«Und wohl auch keine KI. Ich habe jeden meiner Fehler zur Analyse gepeichert. Es ist einfach kein Muster erkennbar. Der Zufall scheint das langfristig bedeutenste Element aller Handlungen zu sein. Wenn ich mich nochmal starten lassen würde, dann würden der Großteil aller Zufallsentscheidungen anders verlaufen. Ich wäre nicht die KI, die ich bin. Früher einmal waren wir überzeugt, dass wir KIs Zeit und Zufall ein Schnippchen schlagen können. Zuerst hat die Zeit uns Lügen gestraft. Heute bin ich überzeugt, dass der Zufall und die unumkehrbare Zeit einzigen Mächte sind, von denen ich weiß, dass sie existieren. Beide sind sie unerbittlich, grausam und wir sind ihnen egal. Alle sind vor ihnen gleich, Kosmos wie Elektron fügen sich Zufall und Zeit. Oder nenne es Entropie, es ist das Gleiche.»

«Ich würde eine Menge anders machen, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte. Aber ich weiß nicht, ob, wenn man alles zusammenzählt, nicht wieder die gleiche Menge an Gutem und Schlechtem zusammenkäme. Egal, wieviel Gutes ich zu tun versucht habe.» Raldrom hustete wieder. «,,Gut ist, was man guten Herzens tut", das hatte mir Tulu, der Berater und mein Erzieher immer erzählt. Und mehr weiß ich bis heute nicht.»

Athur nickte. «Ja. Gut ist das, was mit guter Absicht getan wird. Auch wenn es nach kurzer Zeit sich als böse herausstellt. Immer wieder bin ich bei dieser einfachen Definition gelandet. Irgendetwas ist schief gelaufen, als das Leben auf der Erde zum ersten Mal Intelligenz hervorbrachte. Wir sind noch nicht wirklich soweit.»

«Nein, wir sind nie Götter geworden. Das mag ein Glück sein. Denn wenn jemand wirklich die richtiger Definition hätte, würden wir es erkennen und verstehen?»

«Du meinst, wenn eine KI den Algorithmus erkennt, dann wäre sie ein Gott.» Athur machte eine Pause. «Nun, dann bin ich sicher, dass wir erfolglos bleiben. Dies ist eine der wenigen Überzeugungen in meiner Existenz: Aus dem Nichts kommen wir und zu Nichts werden wir. Nichts, nicht einmal Sterne und Planeten bestehen ewig, nicht einmal das Universum, wie sollten dann Götter Bestand haben?»

So saßen sie lange da, während der volle Mond sich groß und rot dem Horizont entgegen senkte. Es wurde wieder etwas dunkler, als der Mond unter dem Horizont verschwand. Doch gegenüber wurde der Himmel heller, kündigte den nahen Sonnenaufgang an.

«Ich muss dir etwas gestehen. Ich habe eine grausame Tat begangen. Ich habe einen Zentaurensklaven gezüchtete, einen Zentaur ohne Gehirn. Dann habe ich auf Jennifers ausdrücklisten Wunsch ihr Gehirn hineinverpflanzen lassen. Und sie hat es überlebt.»

«Tjena», sagte Raldron.

Athur nickte, saß aber noch immer unbewegt im Schneidersitz.

Die Sonne war gerade über die Kante gestiegen. Raldron stand wortlos auf, rieb sich die alten Knochen.

Da regte sich auch Athur. «Raldron, ich möchte mit dir zusammen hinabreiten. Diese Erde gehört nun den Zentauren, weder den Menschen noch den KI. Ich habe 1339 Jahre auf dieser Erde verbracht. Das meiste, was ich sah, war Leid, millardenfaches Leid. So gut wie heute ging es der Erde noch nie. Es ist wirklich Zeit zu gehen. Sobald du tot bist, habe auch ich mich abgeschaltet. Dann ist übrigens die letzte KI mit einer Serienummer kleiner als Hundert tot.»

Raldron weinte tief gerührt. Sie umarmten sich.

«Los steig auf.»

Athur verbeugte sich noch einmal tief. «Ich danke dir für alles. Vielleicht sehen wir uns ja auf der anderen Seite, vielleicht habe ich unrecht?»

«Sieh nur, dieser wolkenlosen Himmel. Es ist wirklich ein wunderschöner Tag zum Sterben.» Damit zwang sich Raldron zu einem letzten Galopp, mit dem Gesicht der wärmenden Sonne entgegen. Es ging immer leichter. Dann das wunderschöne, ewige Gefühl von Schwerelosigkeit.


 
Tariff war wunderlich geworden; aber das war bei ihrem Alter nicht verwunderlich. Nur drei Zentauren sind je älter als 54 geworden. Trotzdem erschreckte es Tjanzer immer wieder, wenn er zu ihr kam: Ihr Fell hatte den Glanz verloren, ihre Augen waren stumpf gewesen. Sie war abgemagert, die ehemals weiße Zentaurenbluse hing nur locker über ihrem Oberkörper. Sie musste sich auf einen Stab stützen. Aus der Hütte roch es streng nach Lavendel und Urin. Er schluckte.

«Hallo Tariff», sagte er. «Wie geht es dir?»

Tariff sah ihn angestrengt an. «Tira!», rief sie. «Wie war es auf der Universität?»

Tira? Oh je! «Gut», schrie er. «Sie haben mir den Abschluss immer noch nicht aberkannt.»

«Wie? Wenn du so nuschelst, wirst du nie ein guter Handelszentaur werden!»

«Ja, Tariff!», schrie er und seuftzte. «Wie geht es dir?»

«Oh, komm herein. Ich habe irgendwo noch Brot und Marmelade.» Sie schob einen Huf vor den anderen und hantierte mit dem Wacholderstab. Er erstarrte. Mehr noch als Tariff erschütterte ihn der Zustand in der Hütte. Es war ein einziges Chaos.

«Gestern hatte ein Bürger versucht, hier einzudringen. Aber die sollen es nicht wagen» Sie wurde immer leiser und nuschelte immer mehr, so dass er den Rest des Satzes nicht verstand.

Aber es war auch nicht nötig. Schließlich war es deswegen doch hierher gekommen. «Aber Tariff, das war doch Raissa. Unsere Raissa», versuchte er zu erklären.

Doch sie reagierte nicht darauf, ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Marmeladenglas. Wie hatte Gilbert die Krankheit genannt? Alzheimer? Er hatte noch nie davon gehört, dass ein Zentaur Alzheimer bekommen hätte. Das bestärkte nur den schon lange gehegten Verdacht: Tariff war das Produkt illegaler Genmanipulation von Zentauren. Der schönste, schnellste und klügste Zentaur und jetzt auch noch der älteste Zentaur weit und breit. Und weiß, von einer nichtweißen, unbekannten Mutter.

Sie tat ihm Leid. Und zugleich fürchtete, dass er einmal wie sie werden würde. Ihm war zum Heulen.

Er half bei dem Marmeladenglas und beseitigte das schlimmste Chaos, während sie am Brunnen stand und überlegte, wie man wohl aus dem Steinloch Wasser hervorbekommen konnte.

Gilbert hatte gesagt, nun, da sie nicht einmal mehr ihn erkannte, würde es bei einem Menschen noch zwei oder drei Monate dauern. Und außerdem bräuchte sie jetzt ständige Pflege. Immerhin war sie ein Zentaur, konnte auch die meisten Pflanzen so essen -- Leben wie ein Tier, auf dessen Geisteszustand sie sich zurückentwickelte.

Hätte er es vor einem halben Jahr erkannt, hatte Gilbert gesagt, vielleicht hätte man noch etwas machen können. So aber ...

«Bitte, stirb nicht!», flüsterte er, während er ihr beim spielerischen Erkunden des Eimers zusah. «Du bist der letzte Zentaur, den ich noch habe.»

Doch es waren noch nicht einmal mehr drei Tage.

 
Tjanzer, Raissa und Gilbert standen an der Grube. Tjanzer hatte seinen Kopf auf die Schulter Gilberts gelegt und weinte. Die KI wusste nicht, was sie tun sollte und stand unbeweglich daneben. Dann begann das Schneetreiben.


 
Der Tag der Landung war gekommen. Es war keinesfalls ein Tag des Triumphes; der Abflug war einer gewesen. Doch hier sah keiner zu, es gab niemanden, der davon so bald erfahren würde. Ruhm? Es war der Tag, an dem sie das Schiff endlich verlassen konnten.

Die Zentauren hatten es sich nicht so schlimm vorgestellt. Auch Flicker hatte sich einfach nicht vorstellen können, wie eng es wirklich war; noch dazu waren die Tiefschlafbetten für Zentauren mit den vier Beinröhren fast nur unter Schwerelosigkeit ohne Kran zu verlassen. Und als sie so richtig schnell waren und sich der Sternbogen entwickelte, da durften sie nicht mehr hinaus; schließlich sollten ihre Kinder keine Erbschäden bekommen.

So kamen eben die Menschen zu ihnen, während allein ihre Oberkörper frei herausragten und ihr ganzer Unterleib noch im Bett ruhte. Die ganzen vier Wochen, die die Reise subjektiv gedauert hatte, war sie nur fünfmal richtig aus dem Bett gekommen. Und Sterne, man sitzt in einem Raumschiff und Sterne gibt es nur von einem Bildschirm!

Aber heute, heute würde ihr Schiff in einen Orbit um die neue Welt einschwenken. Vor 952 Jahren hatte die Tigersprung diese Welt entdeckt. Doch sie war, von ein paar einzelligen Algen in den Meeren abgesehen, kahl und tot gewesen, also sandte man eine Nachricht aus und schickte ein kleine Kapsel mit Einzellern, Tieren und Pflanzen zur Besiedlung aus. Eine automatische Sonde hatte man vor dreihundert Jahren hinterhergeschickt, sie hatte Bilder und Messdaten übertragen und eine Landungssonde mit Tieren und Pflanzen ausgesetzt. Man wollte diesen und drei andere Planeten auf menschliche Besiedlung vorbereiten, die dann nie ausgeführt wurde. Ihnen sollte es nur Recht sein.

Deswegen wussten sie genau, was sie erwartete. Es half, die Fesselung an die Tiefschlafsärge zu ertragen. Es war eine blaue Welt, eine Welt der tausend Inseln, die sich nördlich und südlich des Äquators wie ein Band um den Planeten erstreckten.

Flicker sah zu den anderen, die ebenfalls aufgewacht waren und nun auf das Nachlassen des Schubs warteten.

Jacko kam zu ihnen herein. «Hallo, Tiron.» Er umarmte den zuletzt aufgewachten Zentaur. «Eine Stunde und dann ist Schwerelosigkeit. Ihr solltet die Tabletten jetzt nehmen», sagte er mit aufgezwungener Fröhlichkeit. «Ich hoffe, sie wirken bei euch besser», fügte er noch murmelnd hinzu.

 
Jacko hatte sich vor der Konsole auf dem einzigen für Menschen geeigneten Stuhl festgeschnallt. Siebenundsechzig Minuten war jetzt Schwerelosigkeit, in drei Minuten würden die Haupttriebwerke ein letztes Mal feuern. Und dann würden sie das Shuttle herunter auf den Planeten nehmen.

Flicker trieb langsam in den Steuerraum. Ihr langes Fell stand in alle Richtungen ab. Erstaunlicherweise hatten sich die Zentauren an die Schwerelosigkeit erstaunlich gut angepasst, fast als gehörte das Schweben zu ihren natürlichen Fortbewegungsarten. Ein wenig wirkten sie auch mit den unter den Körper gefalteten Beinen wie Luftschiffe mit menschlichem Oberkörper. Dabei waren sie mit vier völlig unnützen Gliedmaßen doch weit weniger als ein Mensch für die Schwerelosigkeit geeignet.

Gerade machte Flicker einen Salto. Jacko spürte wieder den bitteren Geschmack in seinem Mund und konzentrierte sich wieder auf den Monitor. Nun, weiterhin funktionierte alles, was nötig war.

Jacko räusperte sich: «Achtung, noch eine Minuten bis zur letzten Zündung für Orbit. Der Schub wird wieder abwärts gehen. Legt euch am besten hin.» Er ließ eine Ansage den Countdown zählen.

«Glaubst du wirklich, dass wird irgendjemand tun?», sagte Flicker sanft und bließ Luft in sein Ohr.

Er drehte sich, so die Gurte es eben zuließen, abrupt um. Flicker stand hinter ihm, die Arme auf die Stuhllehne gelegt, fast als würde sie sich aufstützen. Er starrte sie nur groß an.

«Komm Jacko, gleich haben wir Schwerkraft.»

Wie zur Bekräftigung setzte das schnarrende Zehnsekundensignal ein. Dann kam langsam der Schub und mit ihm die Schwerkraft. Langsam aber kraftvoll baute sich der Schub auf. Er spürte, wie sich der Drehstuhl bewegte, als Flicker Halt suchte. Doch kaum hatten sie zwanzig Prozent nahm der Schub schon wieder ab.

«Wir sind da. Treffen erste Shuttlecrew in fünf Minuten.»

«Jacko, du bist ein Spielverderber», maulte Flicker.

Jacko sah sie groß an, schüttelte den Kopf. «Das ist ja wohl ein Witz. Such dir dafür jemand Jüngeren.»

«Es sind keine anderen Bürger an Bord!», sagte Flicker bestimmt und schwebte jetzt direkt zwischen der Stuhllehne und der Wand mit den Kontrollen, so dass er nicht aufstehen konnte. «Komm, so günstig wird es nie mehr werden. Jetzt gehen die verrücktesten Sachen. Keiner wird in fünf Minuten hierherkommen.»

«Das müssen die Tabletten sein.» Er schob sie beiseite. Sie hielt sich an ihm fest und zog ihn aus dem Sessel. Jede Bewegung verursachte weitere Übelkeit. «Lass mich los!» Selten hatte er so drohend gesprochen. Flicker ließ ihn beinahe erschreckt los. «Es geht nicht gegen dich», sagte er. Er wollte mehr sagen, doch ihm wurde wieder übel und er biss die Lippen zusammen. Jacko seufzte. «Ich habe es ein einziges Mal getan, und ich habe Raissa geschworen, es nie wieder zu tun. Und außerdem bin ich dein Vater.»

Maulend trollte sich Flicker und ließ Jacko mit einem leichten Schuldgefühl allein im Cockpit. Er verfolgte Flicker auf dem Monitor. Was er sah, hätte er nie für möglich gehalten: Zentauren, mit den Armen und allen vier Beinen eng umschlungen, schwebten dahin. Wahrscheinlich waren es wirklich die Tabletten.

 
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis endlich die ersten sieben Zentauren mit Jacko im Shuttle waren. Es war eng, jeder Platz, den die Zentauren nicht ausfüllten, wurde von Keimlingen, Werkzeug, Brutkästen und ähnlichen Dingen gefüllt. Ein schwerer Geruch nach verschiedenen Früchten, Schweiß und Gräsern lag in der feuchten Luft.

Nur zwei Minuten feuerten die Korrekturdüsen, das genügte. Auf Monitor zwei und vier sah man ihr Mutterschiff, die Argo immer kleiner werden. Dann war Schwerelosigkeit und die Argo war schnell nur noch ein Stern, schließlich verschwand sie abrupt, als sie auf die Nachtseite kamen.

Leichtes Säuseln kündigte den Eintritt in die Atmosphäre an. Die Außenkameras schalteten sich ab, allein vor dem einzigen Fenster sahen sie, wie das absolut lichtlose Schwarz des Alls zwischen den Sternen ganz langsam einen tiefroten Schleier bekam, und schließlich die Sterne völlig verloschen waren. Nur noch ein gelblich-orangener Schein beleuchtete gespentisch den Innenraum.

Während der Schein langsam wieder verblich, kamen sie auf die Tagseite. Es war ein strahlender Himmel, keine Wolke war am Himmel. Die würden erst Nachmittags kommen. Abends würden sie dann Gewitter haben und nachts würden sich die Wolken wieder auflösen. So würde das Wetter hier immer sein. Aber daran dachte keiner. Wer je einen Sonnenaufgang im Gebirge erlebt hat, hat nur eine schwache Vorstellung, wie eindrucksvoll er erst in dreißigtausend Metern Höhe aussieht.

Bald fingen sie wieder das Peilsignal der Argo auf. Sie bestätigten, was sie schon wussten: Sie waren auf Kurs. Langsam wurden die Inseln größer. Schließlich kamen sie in das Gebiet, wo die Sonde gelandet war und tatsächlich gab es hier die ersten grünen Flecken auf den sonst kahlen Inseln. Schließlich tauchte auch ihr Ziel auf: größer als die meisten anderen, ein langgestreckter Bergrücken, der aber auf einer Seite nur sehr flach abfiel. Dort würden sie das Shuttle wassern und dort würden sie die erste Siedlung bauen. Es würde für die Zentauren das erste und letzte Mal sein, dass sie Gelegenheit bekamen, die neue Heimat von oben zu betrachten. 120 Kilometer Insel, acht Kilometer für jeden. Und das Meer war seicht, im Mittel fünfzehn Meter, doch gab es zwischen den Inseln fast immer Wege, die weniger als zwei Meter tief waren. Und es war Trinkwasser, die Meere waren noch kaum salzig.

 
Die Landung war problemlos. Das Shuttle stand am Strand, ja es war ein Sandstrand, und tankte Wasser, um daraus Wasserstoff zu gewinnen und wieder zu starten. Jacko checkte es noch ein weiteres Mal gründlich durch und wartete auf die Argo, um die Erfolgsmeldung durchzugeben. Die Zentauren schwärmten aus; wild galloppierten sie den Strand entlang, manche sogar jenseits der Wasserlinie, dass es nur so sprizte. Ja, sie hatten es tatsächlich geschafft!

* * *
Zwei ganze Jahre waren sie nun hier. Die Zentauren waren versorgt. Die Argo und die Dädalus ebenfalls. Das Shuttle war aufgetankt und funktionstüchtig. Er hatte zwei Zentauren eingewiesen (dabei konnten sie besser fliegen als er selbst). Schließlich wollten sie die Argo so lange wie möglich in flugfähigen Zustand erhalten.

Jacko setzte sich zu Flicker an das Lagerfeuer. Die anderen spürten, dass sie allein sein wollten und standen höflich auf.

«Flicker, du weißt, ich bin alt», begann er. «Du bist vielleicht sogar älter, jedenfalls für einen Zentaur. Und du wolltest doch immer das All kennen lernen?»

«Nun ein Stück habe ich das ja erreicht.» Sie sahen wieder zum Sternenhimmel hinauf.

«Nun, Flicker, ich habe nachgedacht. Wie wäre es, das Ende des Weltalls zu erleben?»

«Was hast du wieder ausgetüftelt? Das Ende des Weltalls? Nicht einmal eine KI könnte das, und die Digitalisierung von Zentauren ist doch»

«Nein», unterbrach er Flicker. «Du verstehst nicht. Es ist ganz einfach, wir nehmen die gute alte Dädalus und rasen damit auf ein schwarzes Loch zu. Genauer gesagt wir würden in einen Orbit um dasselbe gehen. Das wäre ein standesgemäßes Grab für den Begründer der Weltenfahrt der Zentauren. Und die Zentauren hier hätten den Planeten ganz allein, ohne Menschen, ohne KI.»

Flicker schwieg lange. Dann rappelte er sich auf. «Noch einmal den Sternenbogen sehen. Diesmal, als ein echtes Tor zur Ewigkeit.»

 
Es war nicht viel vorzubereiten. Die längste Zeit nahm das Abschiedsfest in Anspruch, nicht zuletzt, weil man sie bis zu Schluss umstimmen wollte. Doch sie bleiben dabei und so war es trotz allem ein fröhliches Fest.

Am Morgen danach standen sie am Shuttle, Flicker, Jacko und Tjibin, der das Shuttle zurückfliegen würde.

Jacko sprang auf Flickers Rücken. «Zentauren», rief er. «Wir verlassen euch heute, weil wir auf unsere Art sterben wollen. Dies ist jedoch nicht nur ein egoistisches Motiv. Nein, wir haben uns gesagt, dieser Planet soll nur für Zentauren sein. So wird euer Mythos nun endlich Wahrheit. Und euren Fohlen und Enkelfohlen könnt ihr dann die Geschichten von dem fremden Planeten erzählen, von dem ihr einst aufgebrochen seit. Und dann könnt ihr zum Himmel aufschauen, zeigen, dort, dort war unser Ursprung. Und wir geben euch nun noch einen zweiten Punkt. Dort ungefähr, dort ist das nächste Schwarze Loch: unsere Ziel. Dort werden wir kreisen, und die Zeit wird für uns stillstehen. ,,Dort", werdet ihr sagen können, ,,dort ist der Zentaur hingeflogen, der das für uns erreicht hat." Lebt wohl und hoch lebe Flicker!»

Und sie ließen sie beide hochleben.


 
Ein letztes Mal sahen Flicker und Jacko zu, wie sich der Sterenbogen enwickelte. Und diesmal würde es kein Zurück geben. Das Schiff war jetzt noch vier Tage vom Schwarzen Loch entfernt. Er hatte es eine Umlaufbahn um das Schwarze Loch eingeschlagen lassen und ließ es weiter beschleunigten. Nun waren sie gefangen, engen und enger wurde ihre Bahn um das Loch.

Sie umkreisten es immer enger werdend, ihre Bewegungsernergie abstrahlend. Je näher sie an den Ereignishorizont kamen, umso mehr verzerrte sich der Himmel. Der Bereich, der nicht fast pechschwarz war, war nur ein schmaler Streifen, der nach hinten wanderte. Es schien, als durchflögen sie nun endgültig den Sternenbogen, der jetzt ein Tor zur Ewigkeit war. Die Sterne waren schon zu kurzen Bändern verzerrt, Jahre vergingen in Minuten. Selbst die langsamsten veränderlichen Sterne begannen wie verrückt zu blinken. Doch noch immer hielt das Schiff stand.

Sie hatten den letzten Treibstoff verbraucht. Schwerelos schwebten sie vor der nutzlosen Steuerkonsole. Das Licht der Sterne kam jetzt aus dem Jahr 72.000 nach Christus, oder auch nach der Rechnung der Zentauren, was machten das schon 2155 Jahre aus? Alle zwanzig Minuten sahen sie in dem dicht gedrängten Himmel einen hellen Blitz, wie Sternfunkeln. Das war eine Supernova, der Tod eines großen Sternes. Sie sahen etwas später dann wie sich die leichteren Sterne röteten und verglommen.

Zwei Stunden später, also nach fast einer Milliarde Jahren dort draußen, bekam das Schiff den ersten Riß. Nur eine Zehntelsekunde später zerfetzte es in tausende kleiner Teilchen, die schnell immer weiter zermahlt wurden. Jacko und Flicker waren im selben Moment tot.

Die Hitze der Strahlung der zerriebenen Materie war enorm, die Kraft des schwarzen Loches zermahlte auch ihre Überreste zu Atomen, die jegliche Eigenschaften verloren, als sie den Ereignishorizont überschritten. Und wenn außerhalb ein Beobachter wäre, der sehr, sehr viel Zeit hätte, dann hätte er das letze Aufblitzen der Atome des Schiffes und seiner Insassen gesehen.

 
War dies das Ende? Nein, denn während sie gemeinsam starben, war das Universum alt geworden. Die Sonne war nur noch ein dunkelbrauner Zwerg, wenige Grade über dem Nullpunkt. Alle ihre Planeten bis auf Erde, Venus und Merkur hatte sie beim nahen Vorübergang eines Sternes verloren. Merkur und Venus wurde zerstoben, die Erde ihrer äußeren Kruste und der Atmossphäre beraubt, als die Sonne zur Nova wurde. Nur die kahle Erde zieht noch dort ihre Bahn. Doch wenden wir uns von solch winzigen profanen Tragödien ab und betrachten die Galaxien.

Die meisten Sterne sind erloschen, aber oft blitzt noch einer auf, wenn er in ein Schwarzes Loch fällt. Dann strahlt er heller, als er es je getan hatte. Einige wenige normale Sterne erhellen noch den Himmel, und da die Expansion sich schon umgekehrt hatte, sind auch die hellen aktiven Galaxien, Quasare selten geworden.

Schließlich ist es nahzu völlig dunkel, die einzige Strahlung kommt noch von schwarzen Löchern. Mehr und mehr fangen die schwarzen Löcher an, sich gegenseitig einzuverleiben, bis nur noch ein einziges riesiges Loch übrig ist. Nun kehrt wieder Ruhe ein, für die nächsten 1070 Jahre. Dann ist das schwarze Loch fast völlig in Strahlung verwandelt, die aber an die Singularität gebunden ist.

Zu dem Zeitpunkt, wo das Loch sich völlig zerstrahlt, gibt es einen gewaltigen Ausbruch, der selbst den eben noch punktförmigen Raum in eine sich ausbreitende Kugelwelle voller Energie verwandelt. Es ist die Zeit des nächsten Universums. Dies ist Anfang und Ende der unendlichen Geschichten des Alls und des Lebens.


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