Winter

von Markus Pristovsek

Inzwischen ist es hell geworden. ,,Heute geht es wieder." Die Worte sind Hohn. Wir machen uns wieder auf den Weg zur Stadt, zum sagenumworbenen Moskau, wo ganze Massen von Menschen in den U-Bahnschächten hausen sollen.

Heute ist der 5. Januar, vielleicht auch erst Mitte Dezember. Nehmen wir also an, es sei der 5. Vor zwei Wochen, so sagte unser Kalender, war Winteranfang. Ich hätte zu gerne gewusst, wie ein Sommer aussieht. Diese, unsere Geschichte begann an jenem Tag -- oder besser gesagt es begann knapp sieben Jahre vorher, als die Bomben fielen, in dem Krieg, der sinnlos und gewaltätig war wie jeder Krieg und doch anders ...

An jenem 21. Dezember ließ erstmals der Schneesturm nach. Wir waren nur noch zu dritt, Peter, sein Vater und ich. Der Unterstand, unser Heim, war für fünfzig ausgelegt, doch nur zwanzig hatte ihn rechtzeitig erreicht. Ohne große hygenischen Möglichkeiten breitete sich eine Seuche aus, die für Erwachsene tödlich war, für uns ungefährlich. Ein Arzt meinte, er bräuchte nur ganz wenig Penezellin und alles wäre wieder gut; nur hatten wir leider keins. Und so starben sie. Peter Vater war der Letzte, auch er schon sehr geschwächt.

Jedenfalls sprach er mit uns. ,,Ihr müsst hier weg. Unser Proviant reicht nur noch für ein halbes Jahr, selbst für zwei. Ich werde in zwei, spätestens drei Wochen sterben. Ihr wisst, wie schnell das geht. Also, packt alles auf einen Schlitten, was noch an Vorräten da ist, nehmt die Aufzeichnungen von Professor Charkow mit und dann nutzt das gute Wetter."

,,Aber wohin sollen wir denn gehen? Es ist doch alles gleich."

,,Nein. Ihr geht zur Moskauer Metro. Dort hatte die Akademie in einem Versuch Felder unterirdisch und völlig autonom anlegen lassen. Ich war selber dabei, mit dem Professor. Das ist eure Chance, die der Menschheit." Er hielt einen Moment inne, dann verzog er das Gesicht, musste Husten und Blut spucken. ,,Also, macht euch auf den Weg. Ich helfe euch packen und werde noch ein paar Messungen machen."

Der Schneesturm hatte nachgelassen, genauso wie die Radioaktivität. Wir brauchten keine Schutzanzüge, zumindest hier nicht. Es wurde richtig dämmerig hell, dabei war es schon Nachmittag.

Peter Vater war gezwungen fröhlich gewesen. Kurz vor dem Abschied hatte er uns noch etwas schwören lassen: ,,Wenn ihr durchkommt, müsst ihr mir eins versprechen: setzt nie, nie Kinder in die Welt, denn sie können noch viel, viel schlimmer sein als ihr. Lebt wohl und viel Glück!"

Und so verließen wir ihn. Schon bald waren wir außer Sichtweite, folgten nur dem Kompass. Dann hörten wir den Schuss. Peter musste weinen und auch ich schluchzte aus vollem Herzen. Gesagt hatte keiner etwas, wir mühten uns still vor dem Schlitten.

Nun zu uns. Ich bin etwa ein Meter vierzig groß. Mein Vater sagte, ich wäre doppelt so alt wie ich sein dürfte. Ich habe überall Haare, fast wie ein Fell, ein schwarzes, dichtes, wie bei einem Bären. Genau das richtige für das Klima. Und, leider auch fast wie bei einem Bären, verkrüppelte Hände und Füße.

Peter sieht normal aus, denn er wurde noch vor dem Krieg geboren. Dafür friert er als erster. So hat er aber brauchbare Hände und massig Kraft. Die aber auch deswegen, weil er immer anderthalb Stunden Hanteltrainig täglich machte, es gab ja sonst auch nicht viel zu tun.

Es wurde dann doch bald dunkel, deshalb musste wir eine Lampe anzündeten. Wir konnten zwar ohnehin nicht viel sehen, aber wir wollten auch nichts übersehen. Der Geigerzähler tickerte ruhig vor sich hin, es bestand keine Gefahr.

Natürlich bestand Gefahr. ,,He Peter, nicht einschlafen, zieh dir den Schutzanzug an!"

,,Nein, wir müssen noch weiter." Die Antwort kam wie in Trance. ,,Peter, ich kann nicht mehr, lass uns rasten."

Also zogen wir uns unsere Schutzanzüge an und legten uns auf den Schlitten.

Am morgen sahen wir unseren Fehler: Wir sind zugeweht worden. Zum Glück hatte der Wind über Nacht nachgelassen und so konnten wir uns und der Schlitten einigermaßen leicht befreien. Aber der Anblick der sich uns dann bot, war zu schön für uns. Der Wind wehte nur noch schwach und der Schneefall hatte beinahe aufgehört. Dadurch war es zum ersten Mal richtig hell und es schien uns wärmer als gestern. Auch die Sicht war gut, man konnte fast eine Horizontlinie erahnen. Und dort schien eine Wechte zu sein.

Nun, trotz allem aßen wir erst einmal Frühstück. Dann stapften wir frischen Mutes los in Richtung Schneewechte. Doch die Radioaktivität wurde stärker. Also mussten wir uns nach Norden wenden. Dann mussten wir uns trotzdem die Anzüge wieder anziehen. So kamen wir noch langsamer voran. Noch etwas über zwanzig Kilometer lagen vor uns und etwas über zehn hinter uns.

Gesprochen hatten wir kaum, unseren Atem brauchten wir für den schweren Schlitten. Und wenn wir rasteten, waren wir dazu zu müde.

Nach vier Kilometern nahm die Radioaktivität wieder ab. Nach meiner Karte waren wir jetzt in der Nähe des Autobahnringes. Doch wir sahen nichts in dieser fast konturlosen dämmrigen Schneewüste.

Das Wetter wurde wieder schlechter. Nach weiteren vier Kilometern setze der Sturm wieder ein. Wir rasteten. Die Radioaktivität war noch so stark, dass wir nur kurz den Schutzhelm abnehmen durften. Hastig schlangen wir die Mahlzeit hinein und schliefen bald darauf ein.

In den Anzügen ist es eine Qual, man atmet stickige, schweißige Luft ein und am ganzen Körper juckt es wie wild. Wir konnten ja unsere Sachen nicht hier waschen, geschweige denn uns selbst, und die Insekten im meinem Pelz freute es.

Ja, und heute war wie gesagt Neujahr. Wir waren in der Nacht nur von einer zarten Schicht Schnee bedeckt worden. Der Wind hatte total nachgelassen. Es war noch dunkel, sogar dunkler als sonst, obwohl der Sonnenaufgang nicht mehr weit entfernt sein konnte. Zum Fruhstücken mussten wir aber erst einen Platz mit niedriger Radioaktitivität suchen. Bald hatten wir endlich einen Platz, wo wir länger aus den Anzügen herauszukommen konnten. Endlich konnte man den anderen wieder deutlich verstehen. Wir jauchzten kurz. wälzten uns im Schnee, das half gegen die Läuse.

Als wir uns in der Umgebung genauer umsahen, natürlich nach dem Essen, stellte wir eine Art Schneehügelkette fest. Peter kam als erster drauf: ,,Das ist die Autobahn, dass sind die zugewehten Spitzen der Laternen."

,,Und die Richtung stimmt, die Hügel gehen nach Nordwest, ungefähr. Immer der gleiche oder doppelte Abstand. Was soll das sonst sein?"

Wir verglichen die Richtung der Hügel mit den Himmelrichtungen der Karte. Es könnte stimmen, doch dann mussten wir mehr nach Süden.

Dann brach die Sonne hindurch. Oder fast, jedenfalls konnte man deutlich den grellen Kreis am Himmel erkennen. Es wurde heute fast heiß. Wir brechen sofort auf, um die günstige Gelegenheit zu nutzen.

 
Inzwischen hat es völlig aufgeklart. Das hatte ich noch nie gesehen. Es wird so hell, dass wir geblendet sind, und der Himmel hat so eine fremdartige Farbe. In meinem Fell schwitze ich, Peter hat es besser als ich. Wir nur rasten kurz. Nach zehn Minuten geht wieder eine Wolke vor die Sonne. Ich hätte nie gedacht, dass sie so stark wäre. So muss ein Sommer sein!

Nun gehen wir weiter, so schnell wir können, denn der Schnee schmilzt, aus der festen schmuziggrauen Schneedecke wird ein See. Und schwimmen haben wir nicht gelernt. Außerdem verderben die Vorräte.

Am späten Nachmittag sehen wir die zerstörten Hallen der Leninstation am Horizont, von der Sonne, die schon tief steht, deutlich vom Schnee befreit. Ein Schwarzer Leuchttum. Als wir aus einer Mulde wieder herausgehen, sahen wir die Sonne gerade noch untergehen -- ohne dass sie von Wolken verdeckt ist, vor den Ruinen der Station. Ein grellroter brennender Ball.

Endlich, nach achtundzwanzig Kilometern, sind wir beim Bahnhof. Es ist ein sonderbarer Anblick, alles glitzert in Pfützen, rechts und links sieht man ein paar dunkle Ruinen und in einem blau-rotem Himmel leuchten schon erste Sterne, zumindest erinnern sie an die alten Erzählungen und Fotos. Das Wasser, durch das wir waten müssen, dringt durch mein Fell, bis zu den Knien stehen wir im kostbaren Wasser, erste Eisklumpen frieren an meinem Fell fest. Es wird schnell sehr kalt.

Nach einer halben Stunde geht der Mond auf, glitzernd über der Schneewasser-Ebene. Ein noch nie erlebtes Schauspiel. Bald haben wir das Portal durchschritten und nähern uns den hinteren Trümmern im Bahnhof. Der Mond und die Sterne leuchteten wie in alten Bilder auf die Erde.

Dann erreichten wir einen Pfad, deutlich zu sehen. Wir folgen im schummrigen Licht dem Pfad. Er scheint streckenweise fast nur eine Einbildung zu sein, doch dann kommen wir an das hintere Ende des Bahnhofes, aber alles nur eine Ruine. Wir stellen den Schlitten an eine trockene Stelle und suchen. Dann, an einer Stahltür findet Peter rote Buchstaben. Er versucht sie zu entziffern. Doch die Handschrift verrät ihr Geheimnis nicht. Dafür passiert etwas anders, Peter hat bessere Ohren, er schreckt auf: ,,Hör doch, Lachen!" Tatsächlich, echtes Lachen. Neugierig gehen wir so schnell wie möglich in in die Richtung.

Nach einer kleinen Strecke stehen wir auf der Brücke eines anderen Stellwerkes. Die Fenster sind mit Holzplatten verschlossen. Vor dem Stellwerk stehen fünf Gestalten und lachen. Es ist so ansteckend, dass wir einfach mitlachen müssen. Nach einiger Zeit treten wir zu ihnen.

,,Hallo! Ich bin Boris. Wer seid ihr zwei?"

Peter antwortet höflich: ,,Guten Tag. Wir sind Flüchtlige aus Wnukowo. Wir können doch bleiben?"

,,Natürlich. Kommt her, zu den anderen!" Und er lacht weiter.

,,Warum lacht ihr so?"

,,Ganz einfach, solange über der Erde noch Sterne leuchten, ist die Menschheit nicht verloren. Und heute haben sich die Sterne wieder gezeigt."

Ein anderer fügt hinzu: ,,Habt ihr vergessen, was für ein Tag heute ist? Heute ist Weihnacht und Neujahr auf einmal und Gott hat uns heute die Sterne wiedergegeben!" Und sie lachen, das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ich jemanden habe lachen hören.