Nie wieder Känguruh von Markus Pristovsek


«Das war Nummer 100», jubelte Dr. Ferris Crissom.

Wir schreiben das Jahr 2019. Der Mond ist noch immer so fern wie eh und je. Die Jubiläumsmission zum Mond wurde abgeblasen, noch nicht einmal zu Ende geplant -- kein Geld. Denn natürlich sind alle Ressourcen für den immer noch gerade bevorstehenden Beginn der globalen Erwärmung, aber insbesondere für die Mehrung der Börsengewinnen von Nöten. Aber in fast sechzig Jahren NASA hatten sich genug blinde Flecken in der Landkarte der inneren Finanzverpflechtungen gebildet, so dass die Peanuts unter einer Million pro Quartal als Rundungsfehler abgeschrieben wurden.

Ein solcher Rundungsfehler war auch das Teleportationsprojekt von Dr. rer. nat. Ferris Crissom und Dr. med. Sandra Pelkins. Sie hatten zudem den großen Vorteil in Australien ihr Labor zu haben, und keine Seite wollte vorzeitig den Geldhahn bei einem internationalen Projekt zudrehen. Denn die NASA unterstütze ja ihre Arbeiten; bzw. sogar der multinationale Forschungsrat Australien/Ozeaniens, falls man gegenüber der NASA argumentieren musste. Und die Minimalquote von sechs Veröffentlichungen und zwei Patenten pro Jahr war mühelos einzuhalten. Außerdem reizte nur wenige Gutachter die Zweitagesreise mitten in die Wüste im australischen Nirgendwo und schrieben daher ihre Berichte lieber von einem Vorgänger ab und hielten sie vage.

Und jetzt hatten sie also ihr 100. Känguruh teleportiert. Ok, es war es eigentlich Nummer 104, aber sie zählten nur die, die auch danach noch lebten -- vier hatten halt dem Fortschritt Opfer zollen müssen. Aber auch diese Zahl war kontrovers, weil schließlich nur drei durch Fehler in der Wiederherstellung ums Leben kam, Nummer vier hatte wohl schlicht einen Herzfehler. Allerdings gab es ja auch ein lebendes Känguruh mit überzähligen Teilen, also einigte man sich schlicht auf vier Opfer.

Alle zwölf Mitglieder des Teams hatte sich in der kleinen Bibliothek versammelt. Gerade knallte ein Sektkorken gegen eines der Regale und zischte als Querschläger durch den Raum. Für Singh und Rhamin, die zwei Inder, die keinen Alkohol anrührten, gab es kalten Orangensaft. Auf dem Tisch lag unter einer Glasglocke der schrecklich verbrannte Schädel eines Känguruhs -- makaberer Überrest der Ausleseprozedur.

«Auf unsere 100 überlebenden Hüpfer!», rief wer.

«He, die Kaninchen ganz am Anfang haben auch gehüpft», wandte Sandra ein. «Wieviel waren es noch? 37?»

Niemand nahm sie so richtig ernst, außer Singh, der ernst nickte. «Und davon nur 4 lebend!»

Howard, ein auf selbst für dieses Projekt abenteuerlichen Finanzierungswegen hierher gelangter Doktorand der Universität von Californien, brüllte laut: «Achtung!» In der entstandenen Stille tippte er sehr dezent mit seinem Glas an die Sektflasche. «Zuerst herzliche Glückwünsche an uns alle, aber ganz besonders natürlich an Sandra und Ferris.» Er hob sein Glas. Bevor er trank, fuhr er plötzlich mit Grabesstimme fort. «Wir sollten jedoch nicht die Nager und Hüpfer vergessen, die diesen Tag des Triumpfes nicht miterleben durften. Kennt jemand die Namen?»

Unruhiges Gemurmel. «Ich glaube, das erste Kaninchen hieß Betty. Aber danach haben wir eigentlich immer eingefangene Wildkaninchen genommen.»

Howard ließ sich davon kaum bremsen. «Also auf Betty, und ihre unbekannten mümmendeln Soldaten der Wissenschaft.» Pathetisch hob er das Glas. Ein Schluck.

«Dann», hob er wieder an, «auf die Känguruh-Kameraden. Muhammed Ali und Tyson waren die ersten Opfer, bis wir endlich den großen Backup-Speicher bekamen.» Er hob das Glas. Noch immer folgten seine Kollegen seiner Ansprache belustigt.

«Dann waren da noch ,,Harte Rechte" Boris und Schmuse-Lilly. Mögen ihre Namen unvergessen sein!» Irgendwer raunte neben Ferris: ,,Wir sollten wirklich einen Gedenkstein aufstellen."

«Aber jetzt, seit dem verbesserten heuristischen Backup von Singh und Niko sind mehr als 72 Teleportationen in anderthalb Jahren durchgeführt worden, ohne ein weiteres Todesopfer bis auf Herzschwäche.» Er zögerte einen Moment. «Und irgendwo springt ein Känguruh mit zwei Schwänzen durch's Outback.»

Sie sahen sich betreten an. Dass war wirklich schlimm gewesen, denn sie hatten nie eine Fehlfunktion gefunden. Und bei einer zweiten Teleportation blieb der Schwanz erhalten. Sie machten dann eine Genanalyse, und irgendwie war das Schwanzgen auch zweimal enthalten. Sie hatten spekuliert, dass das Känguruh vielleicht mit zwei Schwänzen geboren wurden; aber wer sollte dann einem Wildkänguruhbaby hier im Nirgendwo den Schwanz abgenommen haben? Ungeklärte Fehlfunktionen wie diesem konnten wirklich Grusel verbreiten.

«Doch blicken wir nicht mehr zurück. Seit 61 Teleportationen keine besonderen Vorkommnisse. Der Tag, an dem ein Mensch in die Kapsel steigt und zerlegt wird, um woanders wieder zusammengesetzt zu werden, ist nicht mehr fern. Auf diesen Tag!»

Und jetzt hatte selbst Howard genug gesagt, und sie feierten fröhlich.

 
Am nächsten Tag war doppelte Katerstimmung. «Wir bekommen keinen Schimpansen.» Sandra war hörbar sauer. «Wir sollen weiter Känguruhs nehmen. ,,Die Masse sei doch vergleichbar, und mehr würden sie doch nicht brauchen."» Sie äffte die Stimme des Beamten des Forschungsrates nach. «Was denkt der eigentlich? Wir brauchen etwas, was so groß und schwer ist wie ein Mensch, und auch zwei Beinen geht und einen testbaren IQ hat.»

«Und nicht unter Naturschutz steht, wie praktisch alles mit messbarem IQ», stöhnte Claus, und hielt sich seinen Stirn.

«Aber wir haben doch dressierte Känguruhs!», protestierte Kirstin, die kleine schwarzhaarige Tierpflegerin. «Ich kann Griesgram bestimmt noch ein Kunststück beibringen.»

«Es reicht mit Känguruhs!» Howard war aufgesprungen. «Diese Heinis sind doch dämlich. Sie geben uns nur das halbe Geld. Naja, nehmen wir eben Känguruhs, gibt's hier auch genug. Gut. Dann aber keine Tests mit Schimpansen, Pavianen, Orang Utan, Yetis oder Außerirdischen -- Naturschutz. Nicht so gut. Aber wir dürfen auch keinen Test mit Freiwilligen machen. Nicht gut, nach dem USY-Debakel aber verständlich. Aber diese Heinis verbieten sogar, dass wir uns als Versuchstiere nehmen. Unverständlich. Jetzt haben wir alles un-»

«Howard, würdest du da wirklich hineingehen?», fragte Singh. «Jetzt schon?»

«Wenn ich wüsste, dass ich an den Kontrollen säße, dann würde ich es auch tun», lächelte Ferris. Dabei war der schon lange nicht mehr an den Kontrollen gewesen. «Aber so wie es aussieht, ist das müßig, und wir werden wohl weiter Känguruhs aus dem Teleporter ziehen.»

«Blödsinn. Nehmt mich. Ich melde mich freiwillig.» Die sonst so stille und unauffällige Kirstin war aufgesprungen. «Ich bin fast seit Anfang an dabei. Der einzige Fehlschlag, gegen den wir niemals gefeit sind, war durch den Stromausfall von dem leichten Erbeben. Das kommt hier so schnell nicht wieder vor.»

«Kirstin, danke für deinen Einsatz, aber ich denke nicht, dass» Ferris kam nicht zum Ausreden.

«Warum nicht? Die Känguruh sind immer fröhlich wieder heraus, das kann ich beweisen. Wir wissen alle, die Kammern sind sicher!» Kirstin war voll in Fahrt. Keiner konnte sich je erinnern, dass sie sich irgendwann in etwas eingemischt hatte, es sei denn, es ging um die Tiere.

«Ich weiß nicht. Vielleicht sollte lieber ein Physiker», doch auch Howard kam nicht zum Ausreden.

«Unsinn. Ihr werdet gebraucht. Ich bin während der Teleportation nutzlos. Gibt es halt keinen Kaffe zwischendurch.»

«Sie hat Recht. Wir sollten es versuchen.», brach Claus das betroffenen Schweigen. «Es merkt doch keiner, der nächste Gutachter kommt in drei Jahren, vielleicht. Und wenn es geklappt hat, gehen wir an die Presse.»

«Und noch was!» Kirstin war noch keinesfalls fertig. «Ich bin die beste Wahl, klein und das ist das Einzige, das ich wirklich zu dem Projekt beitragen kann. Ich kümmere mich sonst doch nur um die Tiere.»

«Die sind dir sicher dafür auch dankbar», nickte Ferris ihr zu. «Ich glaube unseren Känguruhs hier geht es besser als draußen in der Wildnis.»

«Lenk nicht ab», ging Sandra dazwischen. «Claus hat Recht, keiner wird es merken.» Die Stimmung für einen echten Versuch war deutlich.

Nur Ferris schien dagegen zu sein: «Ich finde, das ist keine sehr eilige Entscheidung. Denn es kann, wie damals bei dem absolut unwahrscheinlichen Erbeben wieder eine neue Verkettung unglücklicher Unfälle ergeben. Und dann» Er schwieg einen Moment. «Dann gibt es keine Rekonstruktion. Nie mehr!»

«Ferris. Sei realistisch. Überleg mal, womit wir im Labor arbeiten: Zwei Röntgenlaser, ein halb-offenes sieben Kilowatt-UV-Laser-Array, einem offenen Hochfeld MCR-Generator, von den diversen Megawatt-IR-Lasern und der Kryo-Kühlung mit flüssigem Helium und dem flüssigen Stickstoff nicht mal zu reden. Es gibt wirklich ziemlich viele Möglichkeiten, hier einen schweren Unfall zu haben.» Sandra lehnte sich wieder zurück.

Ferris war keinesfalls besänftigt: «Verdammt, ihr wisst, was das heißt, wenn es rauskommt? Dann sind wir alle arbeitslos?»

«Genau!», brummte Claus. «Deswegen werden wir es bestimmt weiter erzählen.»

«Außerdem stelle ich mir gerade die Schlagzeile vor: Mensch teleportiert, nun arbeitslos.» Howard hatte es auf den Punkt gebracht.

Die Diskussion wogte zwar noch kurze Zeit hin und her. Aber schließlich war entschieden: Noch drei Mal die noch recht junge Griesgram (ihr zur Zeit schwerstes und deswegen auch meist teleportiertes Känguruh) und nächste Woche wurde erneut entschieden.

 
Die Auflösung Griesgrams ging auch dieses Mal ohne Probleme. Nur das bekannte Problem, dass die Röntgenlaser am Rande der Kapazität feuerten, das konnten sie nicht ändern, denn es gab einfach keine stärkeren. Die Targettemperatur kletterte jedesmal etwas höher, aber solange das Target nicht schmolz, stieg die Leistung. Kein echter Grund zur Sorge also.

Was hatten sie alles kämpfen müssen, bevor es überhaupt losging. Zuerst gegen die Puristen, dass eine exakte Bestimmung von Ort und Impuls nicht möglich ist. Recht hatten sie. Aber wenn man je im Körper ein Wasserstoffatom mit dem Elektron in der achten Schale gefunden hätte, so war es praktisch ohne Belang. Genauso etwa, wie die Hifi-Puristen Achtkanal mit 32 und 96 fordern, wo doch mit zwei Ohren von einem Mensch nichts oberhalb von 18 auf zwei Kanälen wahrgenommen werden kann. Beschränkung auf das Wesentliche war also nötig. DNA und Gehirn wurde halt ultrasorgfältig abgetastet, mehr konnten sie nicht tun. Und ein winzigkleiner Bereich wurde wirklich durch Quantenauslesen gespeichert, Information, die man jeweils nur einmal lesen und schreiben konnte; wobei sie noch nicht einmal sicher waren, ob sie da wirklich was schrieben und lasen. Es war hat das Zugeständnis an einen puristischen Gutachter.

Dann kam das zweite Argument, die Theoretiker. Der menschliche Körper hat soundsoviele Zellen, jede aus soundsoviel Atomen. Die Verarbeitung dieser Informationsmenge würde mehr als eine Milliarde Jahre dauern. Geschenkt. Jede Zelle stammte aus der DNA und war anderen Zellen sehr ähnlich aufgebaut. Speicher nur die Differenzen. Und dann, fast alle Haut- und Haarzellen sind identisch. Also: speicher nur Prototyp, wenn Abweichung kleiner als blabla. (An blabla hatten sie lange geforscht.) Die Scancomputer mussten riesige, nahezu unglaubliche Datenmengen verarbeiten. Aber fast alles davon waren redundante Informationen, die die millionen DSP gleich in den Datenhimmel beförderten.

99.9972 % übertragen, kein Backupvergleich nötig, meldete lakonisch der Computer.

Der Backupspeicher war wirklich die entscheidende Innovation gewesen. Damit wurden Ausfälle durch eine möglichst gute Approximation aus dem Puffer ersetzt. Aber es war wirklich schwierig gewesen, das halbe Petabyte zusammenzubekommen. Er grinste, als er daran dachte, wie die Speicherpreise um sieben Prozent sanken, als sie endlich fertig waren. Und sie hatten reichlich rumprobiert, bis sie die Daten endlich soweit zusammenquetschen konnten, dass sie in den Puffer passten.

Dann startete der Genomcheck, an ausgewählten Stellen wurden die Abweichungen mit dem im Computer abschnittsweise rekonstruierten Master und dem Backup verglichen. Dieser Check dauerte manchmal Stunden, trotz Parallelverarbeitung und allem.

Hier zeigte sich, dass die Speicherkapazität wahrlich an der Grenze stand. Und bei dem Abspeicherprinzip waren auch ein paar Sachen sehr gefährlich. Es durfte in den Zellen, die als Vorlage dienten nur DNA eines einziges Lebewesen dabei sein, die Flöhe und andere Fremdgeninformationen mussten vor der Wiederherstellung herausgefiltert werden; aber die lebensnotwendigen Bakterien im Inneren des Körper sollten bleiben. Als gleichem Grund sollte das Känguruh auch nicht schwanger sein. Und selbst mit der Spezialhardware waren nicht mehr als zwei Millionen rekonstruierter Genomvergleiche der Rohdaten pro Sekunde und Board zu machen, also musste das alles massiv parallel ausgeführt werden.

Während der Vergleich lief, war es Zeit die Startkapsel auszumisten. Bewaffnet mit einer Gasmaske musste der von den Röntgenlasern verbrannte Känguruhleichnam entsorgt werden. Deswegen, und wegen der Röntgenlaser, war die Zerlegungskammer in einem kleinen Anbau aus dickem Beton mit einer einzigen Tür ins Freie aufgebaut.

Lief alles ok, wie auch in diesem Fall, dann begann die ungefähr dreizehnminütige Wiederherstellungsprozedur in einer anderen Kammer im Gebäude. Es begann mit dem Skelett, denn je härter, also je dichter das Material, desto länger dauerte es. Und natürlich begann man mit den Teilen, die am längsten ohne Blutkreislauf und so weiter überleben würden. Dabei wurden vorher in der Ursuppe die entsprechende Zellen hergestellt, um dann von optischen Pinzetten mit Laser an die richten Stellen gesetzt zu werden. Es war recht großer Stress für den Körper, und einer Menge Tiere ging es danach erst einmal ziemlich schlecht für ein oder zwei Tage. Vermutlich gerieten dabei die inneren Uhren bei der Wiederherstellung außer Schritt, denn manchmal half dagegen eine Medizin gegen Jetlag.

Auch diesmal klappte die Tür auf, und ein nur leicht mitgenommenes Känguruh lag in den Resten der Ursuppe. Kirstin und Howard waren diesmal dran. Sie trugen es heraus, wuschen die Ursuppe ab und föhnten es dann trocken. Ganz in Gegensatz zu ihrem Namen gefiel Griesgram das. Sie war hier im Institut aufgewachsen und nicht zuletzt wegen dem guten Futter so groß geworden und hatte sich an die Teleportationen längst gewöhnt.

Sie blieb liegen und angelte mit ihrem kräftigen Schwanz nach Menschen in ihrer Reichweite. Als sie keinen fand, richtete sie sich auf. «Griesgram!» Sofort suchten die Ohren den Rufer, und mit zwei Sätzen war sie bei Kirstin und leckte ihre Hand. Salziger Schweiß, dass mochte sie. Dann folgte sie mal gehend, und wenn Kirstin rannte, dann wieder hüpfend, zu ihrem Privat-Gehege.

Kirstin schloss die Tür, und kraulte Griesgrams Kopf durch das Tor. «Na, es scheint dir ja mächtig Spass zu machen.»

 
Es war Abend, und sie saßen zusammen am Tisch und diskutierten. Wie Ferris befürchtet hatte: Natürlich war alles glatt gegangen, und jetzt forderte Kirstin endlich einen Versuch. Sie wollte unbedingt der erste Mensch sein, der teleportiert wird. Und außerdem war sie eine Frau.

Das brachte Proteste von Claus und Howards. Beide wollte auch. Sandra unternahm nichts, Singh saß kopfschüttelnd da. Ferris wusste nicht mehr, was er tun sollte. Schließlich stimmten sie ab; sieben zu drei für einen Versuch. Ferris schüttelte nur den Kopf, aber auch Sandra lächelte.

Wie erwartet wurde sein Vorschlag eines absolut gründlichen Durchcheckens der Anlage abgelehnt. Denn das würde natürlich einen oder zwei Monate dauern, und dann müsste sie auch neu ausprobiert werde. Er seufzte, jetzt oder nie, irgendwann mussten sie es doch testen.

Auch Kirstin stand praktisch sofort als einzig ernstzunehmenden Freiwillige fest: Sie war klein hatte während des eigentlichen Vorgangs wirklich nichts zu tun und sie war Frau, was natürlich erst für danach wichtig war. Er seufzte.

Dann begannen sie mit den Vorbereitungen für den nächsten Tag, insbesondere dem Aufladen der Peakenergiespeicher und der Nachjustage der Röntgenablenkungsoptik. Denn dazu gab es kein Ersatzsystem.

 
Endlich, der große Tag war gekommen. Sie alle hatten etwas für das Frühstück in das Institut mitgebracht, und so feierten sie erst mal. «Wisst ihr, das Gemeine ist, dass ich von dem Ganzen gar nichts mitbekommen werde!», scherzte Kirstin. «Außer vielleicht ein Kribbeln.»

«Hat dir das Griesgram erzählt?», lachte Howard. «Psst, Kirstin, unter uns Frauen. Glaub mir, das ist ein Heidenspaß. Und es kribbelt so toll!»

«Du!» Kirstin holte zur Drohung mit einem Omlettbrötchen aus.

«Mach dir nichts draus. Wir wissen alle, hast nur Augen für Känguruhs. Bestimmt heiratest du bald eines!»

Jetzt flog das Brötchen wirklich Richtung Howard.

«Was sich neckt ... », stichelte Sandra.

Howard lief rot an. Sollte Sandra wirklich was getroffen haben?

Bei Ferris kamen trotz der Fröhlichkeit seine väterlichen Instinkte durch: «Lass Kirstin in Ruhe. Heute ist ihr Tag. Den hat sie wirklich verdient! Danach, nie wieder Känguruh!»

Seinen Ruf als Clown machte Howard alle Ehre. Er hüpfte winkend zur Tür. «Juhu, nie wieder Känguruh!» Gelächter.

Nur Singh saß wie immer ernst da. «Warum lachst du nicht?», rief Claus. «Nicht ein einziges Mal?»

«Ich werde danach lachen», antwortete er ernsthaft. Dann lehnte er sich wieder zurück.

Doch der Stimmung machte es keinen Abbruch, und erst als einen halbe Stunde später des letzte Brötchen vernichtet war, wurde es mit einem Schlag geschäftsmäßig. Jeder ging an seinen Platz, oder machte sich beim Aufräumen nützlich.

Kirstin ging noch einmal aufs Klo, dann zog sie sich ein rotes T-Shirt und einen schwarzen Schlüpfer an und ging zum Zerlegungsbunker. Drinnen standen Claus und Howard und warfen noch letzte kritische Blicke auf das Röntgenscansystem.

Howard hatte irgendwoher eine Trillerpfeife. «Stiiiillgestanden!», rief er. Die Beiden standen so still, wie es undisziplinierte Wissenschaftler bei einem Scherz vermögen. «Feuert Salut!», rief Howard. Claus nahm eine Wasserpistole und drückte Richtung Kirstin einmal ab. Die kicherte.

«He, was soll das? Wir müssen langsam!», schnarrte Ferris Stimme aus der Gegensprechanlage.

Howard zuckte mit den Achseln, dann umarmte er kurz eine verdutze Kirstin, die sich schon so klein wie möglich in die Kammer gekauert hatte. Claus schloss die dünne Blechtür. Jetzt wurde es ernst. Sie rannten zum Kontrollraum zurück, wo gerade der letzte Check abgeschlossen war. «Los geht's!», rief Ferris, und haute auf die Returntaste.

«Da, eine Fluktuation beim Laserstart!», rief Rhamin. «Wie vor zwei Wochen!»

«Kein Abbruch!», rief Ferris.

Jetzt wurde es ernst. Sie sahen, wie der Computer die Prozente hochzählte.

«Target II ist wieder bei 1300», meldete Claus. «Target I bleibt diesmal kühler. 1100.»

«51 raunte wer in die Stille.

«66 % Auch in Ferris Stimme zitterte vor Anspannung.

«Laserleistung von I fällt, Target I Temperatur fällt jetzt schneller.» Claus klang besorgt. «Nur noch siebzig Prozent.»

«71 % rief Ferris.

«Nein, fünfzig, dreißig, oh Gott!», rief Claus. «Stoppen, wir müssen Laser I sofort stoppen.»

«Aber Laser II reicht nicht.»

«Das Target von I ist durchschmolzen. Wir schmelzen jetzt nur Teile der Ablenkoptik.» Claus sah wie erschossen aus. «Laser I ist aus.»

«Dekonstruktion läuft weiter. Wie sieht es mit Laser II aus?»

«Target 1425 und leicht steigend. Leistung leicht steigend. Reicht das?»

«Theoretisch könnte es reichen», sagte Singh. «Aber mit der jetzigen Scanneranordnung eher nicht, und der letzte Test ist sehr lang her. War das nicht noch zur Kaninchenzeit?»

«87 % Oh, der Computer bricht ab.»

Niemand spricht ein Wort. Nur Schweigen. «Und jetzt?», fragt schließlich Howard -- wer sonst?

«Jetzt muss der Computer ein Wunder vollbringen», meinte Ferris.

Singh schüttelte nur den Kopf.

Auslesen 87.2 % Gehirn zu 99.98 % übertragen. Starte heuristische Vervollständigung.

Alle starrten gebannt auf den Computerschirm.

Doch schon nach wenigen Sekunden kamen die erste Fehlermeldung. Vervollständigung nicht möglich. Starte Backupvergleich.

Dann kam die nächste Hiobsbotschaft. Zu große Abweichung zwischen Puffer und Backup.

«Was heißt das?», fragte Howard.

«Das im Backup immer noch die Daten von Griesgram sind», stöhnte Sandra. «Wir hätten vorher Leichen transferieren sollen.»

«Damit dann aus verwesten Organen die Wiederherstellung läuft?»

«Aufhören!», rief Ferris. «Oder verschwindet aus dem Kontrollraum!»

Und schließlich kam die letzte Meldung: Zu wenig Daten für Rekonstruktion!

«Mein Gott!», rief Ferris. «Warum habe ich nur zugestimmt?»

«Verzeihung, aber zum Aufgeben ist's zu früh!», sprach plötzlich Singh. «Wir sollten mal Wiederherstellung ohne Quanteninformationen laufen lassen. Damit sehen wir, was im Speicher fehlt ist.»

«Ja Singh, mach nur.» Ferris schritt schleppend aus dem Labor.

Der Rest sah sich stumm an. Singh ergriff die Initiative: «Claus, stell fest, was mit dem Laser nicht stimmt, denn eventuell können wir den Backuppuffer mit den Informationen eines Menschen überschreiben. Dazu muss der Scanner aber funktionieren. Und Howard, kümmere dich um die, äh, du weißt schon.»

Howard und Claus verließen gemeinsam und bedrückt den Kontrollraum und machten sich auf zum Zerlegungsbunker. Beim Öffnen der Stahltür quoll ihnen schwarzer Rauch entgegen und sie sahen grünliche Flammen an der Scanoptik von Laser I lecken. Schnell war der Brand gelöscht.

Dann erst trauten sie sich zur Kammer zu sehen. Sie öffneten die Tür. Claus rannten hinaus, riss sich die Maske vom Kopf und erbrach sich. Howard fluchte, dann nahm er die Kiste und packte Kirstins Überreste hinein, bis auch ihm schlecht wurde. Denn die Hälfte der Beine und fast das ganze Becken waren nur oberflächlich versengt. Bei der Berührung platzte die Kohle ab und darunter kam rosa Fleisch zum Vorschein. Sie deckten die Kiste zu und stellten sie schnell ins Kühlhaus.

Sie duschten sich erst einmal. Als sie wiederkamen, da wurde gerade die zweite Kiste dazugestellt. «Fragt nicht», wehrte Sandra ab. «Nur Oberkörper halbwegs rekonstruiert. Hüfte und Füße fehlen völlig. Ein Blutbad.»

Wortlos deutete Howard auf die zweite Kiste. «War innen noch roh.» Er konnte nicht weiter. Dann fasste er sich wieder. «Wir sehen uns gleich mal den Laser an. Komm!» Er zog den apathischen Claus hinter sich her.

Der Fehler war schnell gefunden. Das Target, ein dicker wassergekühlter Block aus Titan, war von den Megawatt starken IR-Pumpstrahl schlicht durchgeschossen worden. Und hinter dem Block war die eine Hälfte der zweiteiligen Röntgenablenkungsoptik von Laser I, durch das IR nahezu zerstört. Die ehemaligen Einkristalle der dritten 2Q-a-Diffraktionsoptik waren mit den Haltern zu einem dunkeln Glas verschmolzen. Da war nichts mehr zu machen.

Mit hängenden Köpfen machten sie sich auf den Weg in den Kontrollraum. Singh arbeitete dort ganz allein. Draußen, vor der Glasscheibe bereiteten Sandra, Huang und Pirout die Anlage für einen erneuten Wiederherstellungsversuch vor.

«Singh, wie geht es?», fragte Claus.

«Nicht so gut. Känguruh im Backup ist sehr schlecht. Aber mehr als 88 % ist nicht drin. Was ist mit'n Scannern?»

Claus schüttelte den Kopf. «Nur Scanner II. Reicht das?»

Singh hielt einen Moment inne beim Tippen. «Nein, vermutlich nicht ohne Neuprogrammierung der Eingangs-DSP. Aber's braucht Zeit und Tests.»

«Wieso ist Zeit ein Problem?», fragte Howard.

«Quantenspeicher halten nicht ewig. Getestet bis zehn Stunden. Und gerade da sind wesentliche Teile des Gedächtnis. Glaubt man mindestens, wissen tun wir's leider nicht genau.» Singh betonte das überdeutlich.

Claus schüttelte wieder den Kopf. «Und nun?»

«Können wir nicht irgendwas machen?», fragte Howard. «Es ist so frustrierend.»

«Nur der Computer», lächelte Singh. «Der kann versuchen, aus Puffer und Backup was Lebendiges zu kombinieren. Dann kann man neuen Versuch mit gutem Backup starten und 's Ganze rückgängig machen, wenn's Gehirn ok ist. Und s'ist.» Er sah zu ihnen. «Kopf hoch, Gehirn wurde als Erstes gescannt. S'ist ok.»

«Ich seh mir mal das zweite Lasertarget an», murmelte Claus und ging nach draußen.

Howard knetete immer noch seinen Unterlippe. «Sag mal Singh, ich meine, heiß das, die willst Griesgram und Kirstin mischen? Eine Mischung aus Mensch und Känguruh?»

Singh nickte. «Genom zwar entschlüsselt, aber noch ist längst nicht jede Funktion der Gene bekannt. Der Computer kennt alles, was veröffentlicht, und kann manches aus'm Gen restaurieren. Rest muss aus Backup kommen. Computer erstellt was mechanisch und genetisch kompatibles. Wäre besser mit Mensch im Backup, aber muss ohne gehen.» Damit lehnte er sich zurück.

«Singh, du freust dich doch nicht an der Katastrophe?» Howard schüttelte den Kopf. «Warum lächelst du nur?»

«Nein, niemals. Aber 's ist große Herausforderung. Jetzt zeigt sich, wie gut 's Programm ist.» Er wurde ernst. «Ich habe Hoffnung. Aber nicht zu große.»

Howard schüttelte sich wieder. «Und wie lange wird das noch brauchen?»

«Sandra meinte, Wiederherstellung frühestens in sechs Stunden. Oder die Rechnung? Ich weiß nicht.» Singh zuckte mit den Achseln. «Bis Mitternacht ist Zeit. Wird's vorher fertig, kann'n Check laufen.» Er nickte Howard zu. «Kopf hoch, seit 57 Versuchen gab es keinen Programmfehler mehr.»

Howard nickte. «Singh, äh, sind die Routinen mal richtig getestet worden?»

«Natürlich.» Aber Singh wurde trotzdem ernst. «An Känguruhs. Daher kam auch die skalierte Wiederherstellung.» Dann lächelte er wieder leicht. «Backup kann etwas skaliert werden, so dass Übereinstimmung maximal wird, wenn das Scanobjekt deutlich größer oder kleiner ist.» Er dachte kurz nach. «Letzte Mal getestet nach dem Zwei-Schwanz-Känguruh. Hatte nichts damit zu tun.»

Er ertrug diese angestrengt fröhliche Maske von Singh nicht mehr. «Ich seh mal nach Claus», murmelte er und trat in den Gang.

Tatsächlich ging er aber auf das Dach, um sich den Sonnenuntergang im Outback anzusehen. Diese waren wegen dem vielen vom Wind aufgewirbeltem Staub eigentlich immer recht eindrucksvoll. Doch er war nicht der Erste: Sandra hatte scheinbar dieselbe Idee gehabt. Stumm stellte er sich neben sie.

Langsam färbte sich der Himmel immer mehr violett, bis es dann zu dunkel für Farben wurde.

«Kirstin hat mal gesagt: ,,Auf dem Mars muss es fast so aussehen wie hier." Ich glaube wegen dem roten Staub», flüsterte Howard.

«Es geht mich eigentlich nichts an, aber... gibt es da was zwischen euch?»

«Nein!» Die Antwort kam sofort. «Ich weiß nicht. Sie ist so nett, und» Er zuckte mit den Achseln.

«Du hast sie nie gefragt?»

«Nein» Howard hing wie ein Schluck Wasser. «Sag nichts!»

«Doch! Du weißt, was du tust, wenn sie aus der Kammer kommt?»

Es war zu dunkel, um zu sehen, ob er nickte.

 
Claus war in seinem Büro. Immer wieder las er den einen Satz. Er bemerkte nicht, wie Howard eintrat.

«Was hast du da?», fragte Howard.

Claus schreckte hoch, sackte wieder zusammen. «Lies!» Er hielt ihm die mit handschriftlichen Anmerkungen übersäte schlechte Kopie hin.

«Alle hundert Betriebsstunden sollte das Target gewechselt werden.» Howard sah Claus an.

«Laser I hatte 298 Stunden. Sag es!»

«Was soll ich sagen?»

Doch Claus hörte nicht zu. «Ich bin schuld!», rief er wieder. «Ich bin nicht drauf gekommen. Nicht mal als die Targettemperatur stieg.»

«Claus, hör auf. Du hast die Laser auch nur von Nakamoto übernommen. Der hätte es dir sagen müssen.»

«Ich bin schuld an Kirstins Tod», jammerte Claus wieder.

«Jetzt reicht's!», rief er, «Sie ist nicht tot!»

«Doch, und ich bin Schuld», jammerte Claus weiter.

Howard überließ Claus seinem Selbstmitleid. Dann sah eben er selbst nach dem Target. Doch während er den Gang entlang ging, fielen ihm die Känguruhs ein. Die mussten versorgt werden. Und vielleicht brachten ihn gerade Griesgram und die anderen auf fröhlichere Gedanken.

Als er zwischen ihnen stand, musste er sich eingestehen, dass diese Idee absolut blödsinnig gewesen war.


Ferris war schon nach der missglückten ersten Wiederherstellung mit dem Rest nach Queensborough gefahren, mehr als hundertfünfzig Kilometer weit, nur um sich dort in der nächsten echten Kneipe sinnlos zu betrinken. Es gab ja auch nicht viel zu tun, nachdem die Wiederherstellungskammer wieder vorbereitet war. Der Gedanke, was für absurde Geschichten sich die anderen Mitkumpanen in der Kneipe würden anhören müssen, brachte die Hiergebliebenen kurz zum Schmunzeln. Nur Sandra, Howard, Rhamin und Singh waren noch da und warteten auf den Computer. Es war dreiundzwanzig Uhr als der mit dem Gegencheck fertig war.

«Wie sieht das Log aus?», fragte Sandra. «Was heißt das, genetische Integrität zu 84 %

«Die DNA von Griesgram und Kirstin wurde auf Basis der direktkodierten Enzyme angepasst. 84 % ist Kirstin, der Rest ist von Griesgram. Aber zu 97 % überlebensfähig.»

Sandra war noch nicht zufrieden gestellt. «Und die, äh, der erste Versuch?»

«Kleiner 2 % Sandra, es wird nicht mehr. Nur mehr Känguruh.» Singh sah sie an. «Wir können eh nicht mehr warten, die Quantenspeicher verlieren immer mehr Kohärenz. Ist alles fertig für Rekonstruktion? Wir brauchen mehr Ursuppe, wegen skalierten Wiederherstellung.»

«Singh, wir haben noch mehr als eine Tonne», schnaubte Sandra. «Wenn du nichts vergessen hast, dann fang eben an!»

Klack. Der Klang des Tasters schien donnernd widerzuhallen, diese kleine Geräusch, das über ein Menschenschicksal entscheiden würde. Dann kam das knatternde Dröhnen und Brummen der Pumpen und der optischen Pinzetten der Rekonstruktionseinheit.

Nach elf Minuten waren sie immer noch bei Skelett und Knorpel. Dann endlich begann die kritische Phase. Gebannt starrten sie auf die Prozentanzeige der Rekonstruktion und natürlich auf die Visualisierung. Wirklich, verdammt viel Känguruh untenrum. Endlich waren sie bei hundert Prozent. Sandra und Howard stürmten aus dem Kontrollraum, dicht gefolgt von Rhamin. Sie öffneten die Tür und erstarrten. Doch, es war eindeutig Kirstin, und sie lebte, sie atmete flach und stöhnte leise.

Aber andererseits erkannte man auch Griesgram. Die kräftigen weit noch oben fast parallel zum Oberkörper angewinkelten Beine an dem viel zu breiten Becken waren eindeutig Känguruh, wenn auch größer, die baumstarken Oberschenkel reichten bis an die Schultern. Und war Kirstin eher zierlich, so hatte sie jetzt seitlich deutlich mehr Muskeln. Und sie hatte ein Fell unterhalb des Bauchnabels.

«Kirstin!», zischte Howard, erschreckt bis verzweifelt und auch Sandra fluchte.

Vorsichtig hoben sie Kirstin an ihren Schultern aus der Kammer. Dann kamen die Beine. Und Beine, vielleicht fast einsfünfzig waren Kirstins ausgestreckte Känguruhbeine lang. Dazwischen war das deutlichste Känguruh-Attribut: Eine echten, dicht-befellten kräftigen Känguruhschwanz hatte sie.

Und schwer war sie geworden. Sandra, Howard und Rhamin mussten sich mächtig anstrengen, bis sie sie auf der fahrbaren Bahre hatte. Vorsichtig fuhren sie Kirstin in die Dusche, denn es stand ein halber Meter Bein und Fuß über.

Sandra scheuchte die beiden Männer heraus und begann mit der Wäsche. Bis zum Bauchnabel sah man keine Spur von Känguruh; dann aber begann das Fell und die Muskeln für die Beine und diese merkwürdige überbreite Känguruhhüfte. Sandra duschte sie gründlich ab, trocknete sie ab und föhnte dann das Fell an Beinen und Schwanz trocken. Sie zog ihr eine weites T-Shirt über -- nicht dass es viel verdeckte. Dann durfte die Männer wieder herein.

Gemeinsam legten sie Kirstin auf eine Matratze in der Tierambulanz nebenan. Sie wogen und maßen sie ab. Kirstin wog jetzt 125 Kilo statt 65, und mit ausgestreckten Beinen war sie von Kopf bis Zehenspitzen zweivierundfünzig lang. Der Schwanz war einsdreißig, der Umfang des Schwanzes am Hintern war zweiundfünfzig Zentimeter. Sie machten ein paar Fotos mit der Messlatte. Als sie damit fertig waren, ging Rhamin nach Hause, ausruhen. Wenn er Schlaf finden würde.

Howard und Sandra blieben aber bei Kirstin. Sandra hatte zwar einen Doktor in Medizin, allerdings für DNA-Resynthese. Doch sie war in ihrer Studentenzeit Rotes-Kreuz-Ersthelferin gewesen. Zuerst maß sie erst Puls und Temperatur. Nach menschlichen Maßstäben hatte Kirstin hohes Fieber. Und sie wachte nicht auf, stöhnte nur leise. Zweimal zuckte sie mit den Beinen, einmal mit dem Schwanz. Die Nerven schien also intakt.

Sandra gab ihr ein paar Aspirin wegen dem Fieber, mehr wagte sie nicht. Schließlich, als es so aussah, als ob Kirstin so bald nicht aufwachen würde, stand Sandra auf. «Ich leg mich aufs Sofa. Weck mich, wenn sich was ändert.»

Howard nickte, gähnte kurz. «Soll ich den kalten Umschlag wechseln?»

«Immer, wenn er warm und trocken ist.» Sandra gähnte weit.

Howard sah zu Kirstin. «Ob sie es schafft?»

«Ach, sie ist klein und kräftig.» Dann biss sich Sandra auf die Zunge. «Wird es schon. Und wenn wir einen Arzt rufen, dann ist alles zu Ende, einschließlich der einzigen Chance, sie wieder herzustellen.» Sie holte tief Luft, doch es wurde ein Gähnen daraus: «Bis Morgen!»

«Nacht!» Dann sah er wieder zu Kirstin und strich ganz vorsichtig durch ihr Haar. «Kirstin, wach auf!», flüsterte er.

 
«Ohhh», stöhnte Kirstin. Dann öffnete sie ein Auge.

Howard war sofort hellwach. «Kirstin, wie fühlst du dich?»

«Mir ist schlecht, ich friere und es juckt überall.»

«Großartig!»

Sie stöhnte. «Howard, spar dir deine Scherze.» Sie drehte den Kopf zur Seite. «Du scheinst dich wirklich darüber zu freuen, du Schwein!» Sie hustete noch einmal.

Da wurde er wieder ernst. «Ist wirklich alles ok? Es gab nämlich Komplikationen.»

«Hab mich, hrrm, nur verschluckt.» Sie räusperte sich. «Komplikationen? Deshalb fühle ich mich so merkwürdig?»

«Äh, naja, Laser I ist durchgebrannt kurz vor Schluss. Die Beckenregion und die Beine hatten Fehler, die wir mit dem Backup abgleichen mussten. Äh, ja, wie soll ich sagen»

Sie hustete wieder. «He, ich bin nicht aus Pappe. Spuck's aus!»

«Ja, äh, du bist untenrum Känguruh.» Howard sackte zusammen.

Kirstin lächelte matt. «Netter Scherz Howard» Doch als sie ihn dann wie einen Schluck Wasser hängen sah, erschrak sie: «Howard, kein Scheiß?»

Howard nickte nur schwach. «Soll ich die Bettdecke»

Doch Kirstin schwang sie energisch zur Seite und erstarrte. Ihre muskulösen Oberschenkel endeten auf Schulterhöhe, nur lagen sie deutlich seitlich. Sie tippte vorsichtig an ihr Knie. Dann fuhr die Hand weiter den Unterschenkel herunter. Und herunter und herunter, denn er war fast einen Meter lang. «Unglaublich», flüsterte sie. Dann sah sie erst so richtig ihren Arm und stutzte erneut. «Howard?», fragte sie anklagend. «Was habt ihr noch alles mit mir gemacht?»

«Es war der Computer. Der überlebensfähigste Mix aus Känguruh, und -- Kirstin, es tut mir Leid», sagte Howard matt. «Aber wichtiger ist, wie fühlst du dich? Ich meine, wir mussten dich fast sechzehn Stunden im Quantenspeicher lassen. Hast du Erinnerungslücken?»

«Hmm. Ich weiß nicht. Mir fällt keine auf. Ist vermutlich wie ein Saufgelage, man erinnert sich noch an die Kneipe und wacht dann plötzlich zu Hause im Bett auf und fühlt sich mies. Ehrlich gesagt, ich fühle mich etwas schlimmer. Hmm, warte, ich weiß noch die Wasserpistole.» Sie lächelte kurz. «Kirstin Krompart, 27 Jahre, gelernte Tierpflegerin. Seit siebeneinhalb Jahren bei der Teleportationsgruppe um Großvater Ferris. Reicht das?»

Howard umarmte Kirstin. «Ich bin so froh, dass du es geschafft hast.» Er weinte.

Sie ließ ihn eine Weile gewähren. «Komm Howard, ich will sehen, ob ich stehen kann. Hilf mir auf!»

«Meinst du, das ist klug? Fühlst du dich stark genug?»

«Jetzt oder nie. Komm!» Er reichte ihr nur die Hand, doch sie stand von ganz allein. Mit ihren abgewinkelten Zehen hockte sie fast einen halben Meter über dem Boden.

«Howard, worauf sitze ich?»

«Äh, nun ja, ähm, Känguruhschwanz», brachte er schließlich heraus.

«Känguruhschwanz?» Sie drehte sich um. «Warum spüre ich das alles nicht?»

Howard zuckte mit den Achseln. «Was weiß ich. Kommt vielleicht alles aus dem Rückenmark. Scheiße. Verdammt, das hätte nie passieren dürfen.»

«Aber es ist.» Sie zuckte mit den Achseln. «Komm Howard, halt mich, ich will mich ausstrecken!»

Sofort reichte er die zweite Hand. Sie standen sie mit ausgestreckten Armen gegenüber. Langsam begann sie sich zu strecken. Immer wieder zuckte kurz ein Muskel im linken Oberschenkel. Dann war sie auf Augenhöhe mit Howard. Doch die Oberschenkel waren gerade erst waagerecht. Schließlich balancierte sie wankend fast einem halben Meter über ihm. Selbst der Schwanz berührte nicht mehr den Boden. «Ich bin jetzt tatsächlich größer als du!» Sie lachte wild. «Autsch, Krampf!»

Dann sackte sie abrupte zusammen und Howard fing sie auf und fiel mit ihr vornüber auf den Boden. «Ganz schön, äh, kräftig geworden», schmunzelte er. «Fast hundertfünfundzwanzig Kilo Knochen und Muskeln. Und was für welche!», während er sich mit einer Hand knapp über Kirstin abgestützte und der anderen Hand ihr rechtes Bein nach oben entlangfuhr.

«He, man fragt vorher!», rief sie und stieß ihn scherzhaft mit einem Bein etwas weg. Doch so kräftig, wie sie den Rückstoss spürte, so schmerzhaft war es für Howard. Der lag schmerzverkrümmt neben ihr auf dem Fussboden und japste nach Luft. Ohne groß nachzudenken griff sie unter seine Schultern, hob ihn hoch und legte ihn jetzt auf das Bett. Dann stand sie auf ihren Schwanz gestützt neben dem Bett und sah auf Howard herunter.

Der bekam endlich wieder Farbe. «Oh, Kirstin», keuchte er. «Das war ja wohl ein Liebesbeweis nach Känguruhart.» Dann wurde er wieder ernst. «Tut mir Leid.» Er hustete wieder. «Ich weiß, ich bin nicht gut im Austeilen von Nettigkeiten, aber ich finde, du hast die ganze Sache besser weggesteckt als jeder von uns. Und ich» Er holte tief Luft. «Kirstin, ich hätte es dir viel früher sagen sollen. Ich, ich liebe dich.»

Sie sah ihn entgeistert an. «Jetzt?»

Howard blickte zu Boden. «Ja, ich weiß, ich meine, das»

«Howard!» Sie zog ihn zu sich. «Psscht» Kirstin legte den Finger auf seinen Mund, denn beugte sie sich und küsste ihn. «Danke», flüsterte sie dann.

Howard stammelte «Ach Kirstin, da wo es drauf ankommt bist du hübscher denn je» und lief puterrot an.

«Das von dir!» Und das gerade jetzt, fügte sie stumm hinzu. Sie küssten sich erneut. Dann standen sie lange eng umschlungen da, Kopf an Kopf. Schließlich begann sie zu weinen.

Howard streichelte ihr Haar. «Was ist?»

«Was soll schon sein? Es ist jetzt auch hier oben angekommen.» Dann sah sieh ihn wieder an, rieb die Tränen aus dem Gesicht. «Howard, warum hast du ... Wie lange»

Er strich ihr sanft übers Haar. «Seit ich hier angekommen bin. Ich bin auch nicht so gut, im, naja, ich meine, weißt du, eigentlich bin sich schrecklich schüchtern.»

«Ich war so dumm», weinte sie. «Und jetzt noch» dümmer, dachte sie zu Ende.

Sie standen einfach nur eng umschlungen da. Dann löste sich Howard wieder vorsichtig und lächelte er wieder verschmitzt. «Und wir müssen uns dringend um was anzuziehen kümmern, denn wenn du stehst, dann sind, äh ist deine, äh, auf Kopfhöhe, äh»

«Howard!» Sie wurde rot. «Wo sind eigentlich meine Sachen?»

«Naja, keine deiner Hosen dürfte mehr über diese Oberschenkel passen. Abgesehen davon, dass ein Schwanz stört und dein Becken doppelt so breit ist.» Sie sah wieder bestürzt an sich herunter. «Aber ich hab schon einen Idee. Moment.» Er sprang einigermaßen elegant von der Krankenbahre und rannte fast aus der Zimmer. Gleich darauf kam er mit einer Schere, einem breiten Gürtel, einem weißen Handtuch und etwas Schnur zurück. Sie sah mit gemischten Gefühlen, wie er daraus einen Art Lendenschurz bastelte.

«Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen», seufzte sie.

«Nur ein Bisschen. Wir werden schon noch richtige Sachen schneidern. Und außerdem ist es ja vielleicht rückgängig zu machen.»

«Warum hast du das nicht gleich gesagt!», rief sie. «Nein, wieso bin ich dann überhaupt so aufgewacht?»

«Wie brauchen zwei Scanner, aber Nummer I ist kaputt. Der muss vorher ausgetauscht werden. Das wird Monate brauchen, um das Geld aufzutreiben und neue Einkristalle zu bekommen. Los, probier mal!»

«Der Gürtel ist mal zu fest, mal zu locker, je nachdem wie ich den Oberschenkel anwinkle.» Schließlich hatte sie eine bequeme Position gefunden. «Ach Howard. Ich danke dir!» Wieder fanden sich ihre Lippen.

«Wir sollten dich den anderen zeigen. Claus ist wahrscheinlich immer noch in seinem Zimmer und wimmert. Der hat halb den Verstand verloren. Kannst du gehen?»

«Ja» Sie lächelte. «Zumindest solange ich nicht zu intensiv daran denke, mit was ich gerade gehe.» Vorsichtig machte sie einen weiten Schritt. Es war sehr merkwürdig, aber mit Howards Hilfe und der unbewussten Stütze durch den Schwanz bekam sie einige Schritte hin. Sie ging extrem breitbeinig, es war als würde sie tief in der Hocke auf Zehenspitzen gehen. Howard fand, es sah wie watscheln aus, schwieg aber.

Nach einigen Meter ging das schon halb auf Automatik, und sie konnte sich ein paar andere Gedanken leisten. «Wer ist denn noch da?»

«Jetzt, hier?» Howard sah auf die Uhr. «Schon halb sechs?» Er musste wie auf Befehl gähnen. «Hmm, Singh vermutlich noch, er versucht gerade ein halbes Petabyte Backup zu organisieren, und die Daten dann auch in endlicher Zeit dorthin zu übertragen. Der hat seit gestern Morgen nur vor dem Computer gesessen. Na und Sandra schläft gerade in der Bibliothek. Rhamin ist gegangen, nachdem wir dich lebend im zweiten Versuch aus der Kammer geholt haben.»

Sie blieb stehen. «Zweiter Versuch?»

Er schüttelte nur den Kopf. «Frag Sandra, wenn du es unbedingt wissen willst.»

Als sie am Klo vorbeikamen, spürte Kirstin plötzlich ein dringendes Bedürfnis. Zum Glück waren Känguruhs ihr nicht fremd. Nur das Hinternabwischen mit dem großen Känguruhschwanz im Wege war grauenvoll ungewöhnlich. Als sie endlich fertig war und aus der Toilette kam, da schlief Howard an der Wand zusammengesunken. Sie lächelte und ließ ihn schlafen.

 
Claus reagierte nicht auf ihr Klopfen. Es kam überhaupt kein Geräusch aus seinem Raum. Allerdings war abgeschlossen, und dass war sehr seltsam. Sie klopfte erneut. Keine Reaktion. Auch Rütteln an der Tür half nicht.

Hmm, also Känguruhtaktik. Ihre neuen Beine schienen ja recht kräftig zu sein. Probeweise lies sie sich etwas zurückfallen. Der Schwanz stützte sie ein Wenig, also zurückfedern und heftig nach der Tür treten.

Für diese lächerlichen Sperrholztür war das völliger Overkill. Die Tür zerbrach in viele Trümmer, einige flogen weit in den Raum. Selbst die Fensterscheibe auf der gegenüberliegende Seite ging zu Bruch. Drei große Stücke hingen noch in den Angeln. Sie schob sie sich durch die Trümmer in den Raum.

Es sah fürchterlich aus. Überall waren Blutspritzer, und auf dem Schreibtisch lag vornübergebeugt Claus. Sein ganzer Kopf war dunkel verkrustet von Blut, und noch immer sickerte ein wenig nach. Doch er atmete. Scheinbar hatte er versucht, sich mit einem Klotz zu erschlagen. Verdammt!

So schnell es ging drückte sie sich wieder durch die Tür und schritt zur Bibliothek. «Sandra!» Sie rüttelte sie.

Sandra wurde nur langsam wach. «Ja, Hmm. Was? Kirstin?» Da war sie abrupt wach. «Oh was für ein Alp» Sie brach ab. «Tut mir Leid, ich bin -- Wie geht es dir?»

«Egal. Komm, Claus hat sich selbst halb umgebracht!»

Sandra schüttelte den Kopf, um ihre Müdigkeit loszuwerden.

Schnell waren sie wieder bei Claus. Sandra besah die Wunden mit fachmännischem Blick. «Vermutlich nichts gebrochen. Ist aber schwer zu sagen, bei einer Kopfwunde. Einen Arzt brauchen wir aber auf jeden Fall.»

Während Kirstin den Hörer aufhob, warf Sandra einen Blick auf den Klotz. «Das ist das durchschossene Lasertarget. Verdammt, das hätte ruhig noch einen Versuchslauf länger halten können», murmelte sie zu sich selbst.

«Ambulanz kommt», meldete gerade Kirstin. Dann sahen sie sich an.

«Verdammt», fluchte Sandra «Eigentlich sollten wir uns alle um dich kümmern! Statt dessen musst du mir helfen.»

«Ist schon ok, lenkt ab. Und bevor die Ambulanz kommt, werde ich aus der Sichtlinie verschwinden.»

«Das Ganze ist ein riesiges Fiasko. Vielleicht hat Ferris Recht, und wir sollten abbrech»

«Sandra!» Kirstin unterbrach so grob. «Denk nicht mal im Traum daran. Ich werde alles tun, dass das Projekt weiterläuft. Und du auch, bitte versprich mir das!»

«Aber Kirstin, nachdem du so» Sie schluckte.

«Sandra, ich kannte das Risiko. Ich bin fast genauso lange dabei wie Singh und nur zwei Monate länger als du, oder? Als ich hier anfing, war ich eine unerfahrene undisziplinierte halb ausgelernte Tierpflegerin. Ihr habt mich genommen, weil ich die Einzige war, die freiwillig hier im Nirgendwo arbeiten wollte. Und das Projekt hat mich verändert.»

«Das kann man wohl sagen.» Sandra nickte. «Und ohne das Projekt kann man dich, äh, ich meine zur Wiederherstellung brauchst du das Projekt.»

«Das meinte ich nicht.» Kirstin schüttelte den Kopf. «Auch wenn du mir nicht glaubst: Selbst wenn ich jetzt nach Queensborough laufen müsste, um mich dort als Kind der Wüste auszugeben, ich würde es tun, wenn es das Projekt retten würde. Hast du denn das große Bild aus den Anfangstagen vergessen? Der Teleporter auf den Mond, den Mars?»

Sandra schwieg lange, dann nickte sie. «Du hast vermutlich Recht. Aber es schmerzt mich, dass du, dass irgendjemand vom Team solche Opfer bringen muss.»

Es war alles gesagt, Schweigen. «Brauchst du noch Hilfe?»

Sandra schüttelte den Kopf. «Nein, ruh dich aus.»

«Ich werde mich erst mal um die Känguruhs kümmern», rief Kirstin aus dem Gang zurück.

Vorsichtig ging sie mit den weiten schwingenden Schritten den Gang entlang. Zweimal schwankte sie leicht, doch schnell hatte sie sich wieder ausbalanciert. Dann öffnete sie die Tür nach draußen. Es war hell, die Sonne war wohl gerade aufgegangen. Aber sie war nicht zu erkennen, über der Wüste hatte sich dichter Nebel gebildet. Sie sah nicht einmal das Nebengebäude.

Beim Gatter war sie mit ihren Gedanken nur noch bei den Känguruhs, kümmerte sich voller Hingabe um Griesgram und ihre Kumpanen. Dann hörte sie Motorengeräusch und sah den fliegenden Arzt auf der Suche nach einer lichten Stelle im Nebel. Sie wollte schon losrennen, als sie über ihre langen Beine stolperte. Rennen war nicht. Und überhaupt, sie musste dankbar für den Nebel sein, so dass sie der Arzt nicht sehen konnte. Schnell beendete sie die Känguruhfütterung. Jetzt er merkte sie, wie kalt es war, sie fror bevor sie ihren kleinen Bungalow erreicht hatte.

Die Känguruhfütterung hatte auch sie hungrig gemacht. Sie hatte großen Appetit und verschlang fast das ganze Toastbrot. Dann musste sie dringend auf Klo. Als sie das Bad betrat, sah sie sich zum ersten Mal im Spiegel und erstarrte. Sie hatte es bisher fast verdrängt, aber dieses fremdartige Wesen, dieser Menschenoberleib auf einem Riesenkänguruh, dieses Frankensteinmonster, dass war sie selbst. Sie warf den Lendenschurz beiseite und setzte sich mit Mühe aufs Klo.

Sie stand mit zuviel Schwung auf und stieß sich den Kopf sehr unsanft an der niedrigen Decke. Sie spülte, wankte dann ins Wohnzimmer und legte sich rücklings aufs Sofa. Doch es war unbequem, zu eng, denn ihre Oberschenkel wollten sich entspannt am liebsten fast parallel zum Oberkörper nach oben legen. Sie schüttelte wieder den Kopf, zupfte dann das Fell am Knie. Dann am Schwanz. Sie schüttelte sich.

Nun, es würde eben keine Diskobesuche mehr geben. Es gab bisher eh erst drei, vor acht Jahren in Queensborrow, bevor sie hierher gekommen war: Sie hatte sich doch nie viel aus der Zivilisation gemacht; sonst wäre sie ja kaum hierher gekommen. Und sie ist doch bisher auch ganz gut ohne Freund ausgekommen. Deshalb hatte sie Howard so lange übersehen? Und jetzt ... Dann war das Adrenalin endgültig verbraucht, und die Schmerzen kamen zurück.

 
Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so gelegen hatte, als Howard an die Tür klopfte und nach ihr rief. Kaum antwortete sie, war er drinnen.

«Was ist passiert?», fragte er entsetzt, als er ihr Gesicht sah.

Kirstin zuckte wieder. «Howard, mir geht es ziemlich mies. Ich fühle mich, als wäre ich gerade von einem Känguruh niedergestreckt worden.» Sie fuhr sich durchs Haar. «Selbst das Haar fällt mir aus!»

«Was!» Howard starrte entsetzt auf das Büschel in ihrer Hand. «Bleib liegen, ich hole Sandra!»

«Mir war eh nicht nach Marathon zumute», murmelte sie, während Howard schon zur Tür hinaus war.

 
Sandra erinnerte sich an die Strahlenkrankheit, aber es war unklar, warum sie Strahlenschäden haben sollte. Die Känguruhs hatten schließlich nie welche gehabt. Sie liefen zu Singh. Der nickte zu den Strahlenschäden. Dann fiel ihm aber Chemotherapie ein. Sie setzten sich an Singhs Computer und suchten etwas im Netz herum. Aufgeregt diskutierten sie miteinander. Schließlich kamen sie zu einem Entschluss: Es war eine Abstossungsreaktion. Kirstin versuchte vermutlich, einen Teil ihrer eigenen DNA loszuwerden, die Körperteile, die ihrer neuen DNA nach nicht dazugehörten. Denn die mechanische und die genetische Rekonstruktion hatten sicher Abweichungen.

Körperteile, die einfach nicht mehr dazugehören. Das konnte natürlich nicht gutgehen. Bei Transplantationen benutzte man heutzutage programmierbare Retroviren, um die Immunsysteme abzustimmen. Sozusagen einen genetischen Reset. Aber das Verfahren benutzte das Programm von Singh auch.

Singh meinte schließlich, dass bei ihrem Körper der ,,Reset" halt etwas länger dauern und heftiger also normal wäre. Keinen befriedigte die Erklärung so recht, doch außer Abwarten hatten sie eh keinen Alternativen. Denn Kirstin zu einem Arzt zu bringen, würde ihre einzige Chance auf Wiederherstellung vernichten.

Howard lief mit den beiden anderen zurück zu Kirstins Bungalow. Im Schlafzimmer sah es wüst aus. Kirstin hatte sich zweimal übergeben, und lag leise wimmernd da. Er blieb bei Kirstin auf dem Bett sitzen, während Singh etwas aufräumte. Dann machte Howard die nächste schlimme Entdeckung. «Singh, komm her! Sie mal, jedes Mal, wenn sie sich bewegt, dann fällt auch Fell aus.»

Singh legte die Hand auf seine Schulter. «Wir haben getan, was wir konnten. Kein Arzt kann mehr tun, denn sie ist wirklich einmalig.» Er lächelte. «Kopf hoch, es wird schon.»

 
Die nächsten Tage war Kirstin nicht recht ansprechbar. Sie hatte Fieberschübe. In der ersten Nacht wachte sie kurz auf, meist würgte sie nur heftig, aber ihr Magen war leer. Dann fiel sie wieder in unruhigen Schlaf.

Am zweiten Tag war das Fieber etwas niedriger. Gegen Mittag wachte Kirstin wieder auf. Sie fühlte sich schwach und elend, aber sie blieb wach genug, dass Howard ihr Suppe und Toast einflößen konnte. Dann legte sich Kirstin wieder hin, aber nach zwei Stunden wachte sie erneut hungrig und durstig auf. Alle zwei bis drei Stunden wachte sie nun auf, und wollte was essen und trinken und die Schmerzen hatten jedes Mal etwas nachgelassen; dafür klagte sie über Juckreiz. Und sie aß unglaubliche Mengen.

Der Tiefpunkt war überschritten. Dafür sah Howard fürchterlich aus. Nur mit Gewalt brachten sie ihn von ihrem Bett weg. Doch kaum lag er, da schlief er auch schon. SO bekam er nicht mit, wie Kirstin beim nächsten Aufwachen um Betäubungsmittel flehte; sie schrie und weinte vor innerem Juckreiz. Doch sie trauten ihr nichts stärkeres als Aspirin zu geben.

Singh schien Recht zu behalten: Der Reset war noch im Gange, die DNA und der Körper gleichten sich ab. Die Muskeln du den Känguruhbeinen seitlich an der Taille wurde etwas größer und vorne faltete sich ein Beutel. Auch das Fell ging jetzt höher, in der Mittel bis zum Bauchnabel, am Rand fast bis zum Brustkorb. Dafür schrumpfte ihr Busen und die nach dem skalierten Transfer übergroßen Zellen an den Beinen, so dass die Adern, Sehnen, Knochen und Muskeln, an den nun nur noch spärlich befellten Beinen besonders deutlich hervortraten.

Kirstin bekam von alledem wenig mit. Wenn sie wach war, dann überlagerte der Juckreiz alles. Sie konnte kaum einen vernünftigen Satz vollenden, bevor Kratzen wieder ihr Denken beherrschte. Singh, Sandra und Howard pflegten sie; den anderen der Forschungsstation war es auch recht, nicht an das Desaster erinnert zu werden. Mehr noch, sie mieden selbst die drei Pfleger, ganz als wäre Känguruh ansteckend.

Auch nach der erzwungenen Ruhe sah Howard ebenso mies wie Kirstin aus. Fast die ganze Zeit saß er an ihrem Bett. Sandra und Singh mussten auch ihn zum Essen zwingen. Endlich, nach fast einer Wochen schien es Kirstin wirklich besser zu gehen. Sie war jedenfalls das erste Mal länger als zehn Minuten am Stück wach und wieder ansprechbar. Juckreiz hatte sie nur noch dort, wo Fell oder Haare ausgefallen war. Und sie war nicht mehr hungrig, nur müde. Damit war dann wohl das Schlimmste überstanden.

 
Kirstin erwachte mit einen Schlag. Aber es war dunkel, kurz nach zwei Uhr morgens. Sie erstarrte einen Moment: Dienstag -- dann hatte sie ja fast sechs Tage hier gelegen.

Vorsichtig tastete nach dem Lichtschalter. Howard war von dem Stuhl neben ihrem Bett zusammengesunken und lag nun mit seinem Kopf neben ihr. Sie lächelte, lies ihn aber schlafen. Sie fühlte sich ganz gut, das Jucken mal ignorierend. Und sie spürte ein dringendes Bedürfnis. Sie rollte sich aus dem Bett. Aber mit ihren Beinen war kriechen keine Option, doch sie fühlte sich stark genug um zu gehen. Langsam ging sie ins Bad und wusch sich das Gesicht.

Ihr schwarzes Haar war fast zur Gänze ausgefallen, dafür waren ein paar braune Stoppeln erschienen. Ähnlich war der Zustand des Fells, aber dem Jucken zufolge dürfte sich das wohl noch ändern. Und auch sonst war sie sehr anders. Sie hatte nie soviel Busen, dass sie wirklich einen BH benötigt hätte. Aber jetzt war da gar nichts mehr, nicht einmal Brustwarzen. Der Brustkorb war fast völlig taub. Dafür hatte sie nun einen Beutel unterhalb des Bauchnabels. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als sie ihn berührte. Vorsichtig fuhr sie mit der Hand hinein und erstarrte. Dort also waren ihre Brüste verschwunden, genau wie bei einem Känguruh. Sie schüttelte sich kurz, dann spielte sie wieder etwas mit der langen Brustwarze.

Da drängte sie erneut ihre Blase. Mühselig suchte sie eine Position auf dem Klo, ihren Kopf zwischen den Knien. Und so wie sie stank, würde sie wohl als nächstes duschen. Aus der Dusche wurde ein heißes Bad. Sie räkelte sich, so weit sie denn in die Wanne passte. Die Unterschenkel und Schwanzende hingen halt außen über.

Da betrat Howard das Bad. «Mein Gott, Kirstin, du solltest noch nicht auf sein!», rief er.

«Danke, und du auch.» Sie sah ihn durchdringend an. «Ich glaube, mir geht es zur Zeit besser als dir. Wann war deinen letzte Mahlzeit?»

«Äh, was?» Howard knetete wieder seinen Unterlippe. «Weiß nicht.» Er gähnte.

«Los Howard, schlaf aus. Du kannst ja kaum deine Augen offen halten. Morgen reden wir dann!» Und als er keine Anstalten machte: «Los, du schläfst ja schon im Stehen!»

Es war halb zehn, als Howard aufwachte. Er brauchte einen Moment, bis er seinen eigenen Bungalow erkannte. Da fiel es ihm wieder ein. Schnell war er aus dem Bett. Oh man, in seinem Bungalow sah es vielleicht wüst aus. Und seinen Sachen, in denen er geschlafen hatte, stanken zum Himmel. Also schnell eine Dusche zum Wach werden und neuen Sachen angezogen, dann schnell gegenüber zu Kirstin gerannt.

Sie war wach, hatte sogar aufgeräumt und nähte gerade an einer Jeans. Diverse Stoffstücke lagen am Boden.

Howard umarmte sie sofort. «Kirstin, ich bin ja so froh!»

«Howard, bitte, lass mich wenigstens das Nähzeug weglegen!» Doch sie lächelte. «Und ich hab eine Überraschung für dich. Schau mal in meinen Beutel!»

«Was?», rief er erstaunt, als sie seine Hand führte.

«Nun, ich würde sagen, ich habe jetzt einen Brustbeutel», lächelte sie verschmitzt. Doch gleich darauf klingelte ihr Telefon, während sie antwortete, zog sie seine Hand wieder heraus.

«Komm, lass mich das fertig machen. Um elf ist Fleischbeschau, und bis dahin will ich was Besseres anziehen als den Lendenschurz.»

«Sag mal, was ist denn noch anders?»

Kirstin grinste jetzt. «Nun, eigentlich müsstest du das besser beurteilen können. Aber hier, das ärmellose T-Shirt war mal labberig, und da hatte ich noch etwas Busen. Naja, und außerdem wird es dann hoffentlich doppelt soviel Spaß machen.»

«Häh?» Er sah sie fassungslos an.

«Ich meine, falls du trotzdem, ähm, falls wir trotzdem es tun ... Nun ja, ein Känguruh hat zwei hmm, tja, Vagina.»

Howard sagte nichts, sondern wurde noch röter.

«Nun, ich versteh dich ja. Ich meine wegen Sodomie und»

«Nein!» Howard schüttelte den Kopf. «Nein, du bist kein Tier. Das ist was anderes.»

«Also, heute abend dann!» Sie lächelte. Das war ja fast zu leicht. «Und wie sitzt es hintenrum?»

«Naja, etwas mehr rechts, dann ist das Schwanzloch mittig. Ist aber nur ein halber Zentimeter.» Howard antwortete mehr mechanisch, während sich immer noch der Inhalt des letzten Gesprächs langsam zum Bewusstseinszentrum vorarbeitete.

Sie nähte die Stelle um. Dann köpfte sie die Hose über dem Schwanz hinten und natürlich auch vorne zu. Das ärmellose nabelfreie T-Shirt hatte sie schon an. Schließlich suchte sich noch zwei Ohrringe. «Wie sehe ich aus?»

Der nickte mit offenem Mund. «Ich glaube, ich habe dich noch nie so, äh, beeindruckend gesehen!», stammelte er.

So schüchtern war er echt süß. Sie lächelte zufrieden: «Ok, gehen wir!» Stolz schritt sie voraus.

 
Abrupt verstummten die Gespräche in der Bibliothek, als Kirstin in der Tür auftauchte. Sie beachtete es nicht weiter, sondern ging zum Sofa, denn die Formstühle aus Recyclingkunstoff waren für sie mit dem dicken Schwanz schlicht unbrauchbar. «Rutsch doch mal!», forderte sie Rhamin und Pirout auf. Pirout war sofort aufgesprungen, aber Rhamin musste sie schubsen, bevor er aufsprang. Dann machte sie es sich, so gut es eben mit den Beinen und dem Schwanz ging, auf dem Sofa bequem.

Wie auf Kommando begann sie alle wild durcheinander zu reden. Doch noch hatte Ferris die Kontrolle: «Zuerst, wie fühlst du dich?»

Sie zuckte mit den Achseln. «Ganz gut. Besser als manches Känguruh nach dem Transfer», antwortete sie ernsthaft. Doch das entsetzte Einatmen entging ihr nicht.

«Und wie kommst du mit deinen, äh, Beinen zurecht?»

Wieder Achselzucken. «Scheint alles fast automatisch zu gehen. Und den Schwanz, den spüre ich meist gar nicht. Muss ich vielleicht noch etwas mit üben, aber ich bin auch noch nicht draufgetreten.» Dann richtete sie sich auf. «Ok, ich bin immer noch Kirstin, da bin ich mir sicher. Das werden die IQ-Fragebögen bestimmt bestätigen. Und an den Transfer kann ich mich nicht erinnern, dass ist wie ein Filmriss. Ich weiß noch, wie ich in die Kapsel stieg und dann war ich auf der Krankenstation.» Sie sah in die Runde. «Ihr habt doch sicherlich schon über den Unfall geredet. Los, was ist alles schiefgegangen?»

Singh räusperte sich und begann eine knappe Aufzählung. Er sprach nie zuviel, nicht einmal über seine geliebten Computer. Es gab keine neuen Erkenntnisse, das Target war durchgeschossen worden, der Laser arbeitete dann nicht mehr, und eine der Ablenkoptiken war dadurch irreparabel beschädigt worden. Mit einer neuen Optik, würden sie sie vermutlich wieder herstellen können. Außerdem erzählte er noch mal knapp über die skalierte Wiederherstellung und die Protein-DNA-Vergleich und warum es ihr so schlecht gegangen war.

Dann begann Ferris zu reden. Wie viele wichtige Personen hörte sich der alte Professor auch gerne selber reden. Das Fazit war, dass sie schon eine neue Optik bestellt hatten, und er bestimmt das Geld dafür auftreiben würde. Lieferzeit war ein halbes Jahr. Dann aber würde er emeritieren, sich zur Ruhe setzen. Dann sah er wieder zu Kirstin, und begann eine erneute Entschuldigung.

Sie unterbrach. «Bitte, ich gebe niemanden die Schuld. Es war Unfall. Und ich wollte unbedingt als Erste, mein Pech. Verschweigt mein Missgeschick. Ich bitte euch, das Projekt ganz normal weiterzuführen.» Sie hielt einen Moment inne. «Wie geht es Claus?»

«Nur angebrochen, und eine schwere Gehirnerschütterung. Sie haben ihn im künstlichen Koma, um ihn die Kopfschmerzen zu ersparen. Ist noch nicht aufgewacht, aber er wird durchkommen. Es war knapp, er hatte sehr viel Blut verloren», antwortete Sandra. «Wer weiß, ohne dich wäre er vielleicht verblutet.»

Kirstin wurde rot. «Nein, es war Howards Idee, nach ihm zu sehen. Gut, dass er durchkommen wird.» Dann lächelte sie wieder. «Verdammt, niemand sollte die Schuld bei sich suchen. Und es hat doch funktioniert, eigentlich sollten wir jetzt feiern.»

Sofort begannen alle, wild durcheinander zu reden. Nach einiger Zeit war wieder geordnete Diskussion möglich. Schließlich beschlossen sie, einfach weiter wie bisher zu machen, und erst mal nichts über Kirstins Teleportation nach außen dringen zu lassen. Außerdem würden sie Versuche mit den anderthalb übriggebliebenen Röntgenoptiken vorbereiten, so dass ein Ausfall beim nächsten Mal kompensiert werden könnte.

Dann sollte Kirstin die ganzen Fragebögen und den IQ-Test ausfüllen, den sie vorher vorbereitet hatten. Aber mit der ganzen Gruppe um sie herum konnte sie sich nicht konzentrieren, also wurden alle herausgescheucht.

Natürlich war keiner bei so recht der Sache, ständig standen zwei oder drei Leute an der Tür zur Bibliothek und spähten durch das Schlüsselloch. Da sie stand auf.

Die Tür wurde aufgerissen. «Du bist fertig?»

Kirstin sah sie irritiert an. «Nee, ich muss mal.» Sie schüttelte den Kopf und ging an ihnen vorbei.

 
Howard war bei Singh, Rhamin, Sandra und Ferris und diskutierten über die Neuanordnung der Röntgenoptik, um mit dem funktionierenden und dem halben Scanner zu arbeiten, denn im Prinzip reichte eine 120° Anordnung für eine eindeutige Ortsbestimmung aus. Sie diskutierten, und kratzen in den aschebedeckten Boden Markierungen für die neuen Scannerstandorte.

Da kam Pirout angelaufen. «Sie ist fertig!», rief er.

«Und?»

«Harris tippt noch die Ergebnisse in den Computer. Aber der IQ hat sich wohl nicht verändert.» Dann drehte er sich wieder um, und rannte zurück.

Howard sah zwischen Pirout und dem Rest hin und her. Da nickte ihm Sandra zu, und er verschwand auch Richtung Bibliothek.

Dort sahen sie alle auf den Bildschirm. «Na, was habe ich gesagt!», rief gerade Kirstin.

Harris nickte. «Du bist du, kein Zweifel.»

«Wie wär's, da feier ich heut abend bei mir. Wer kommt?»

Die anderen sahen sie eher schockiert an. «Feiern? Das!» «Aber heute ist Freitag, da geht's wieder nach Perth bis Montag.» «Nee, mir geht's noch schlecht von gestern.» «Warte, bis Claus da ist.» «Verschieb's doch auf Montag, ich bin heute schon verabredet.» Die Bibliothek leerte sich.

«Ich komme gerne!», hielt Howard dagegen.

«Klar», grinste sie und zog ihn zu sich heran. «Ich bin so froh, dass du da bist.»

«Na, jetzt ist es also amtlich», meinte Sandra.

«Es fehlte noch der Zusatz im Pass», lächelte Howard.

«Kommst du heut abend? Ich möchte kochen, und zumindest Singh, Rhamin und dir möchte ich ganz besonders danken.»

«Nun, ich komme und Singh, denke ich, kann ich auch dazu bringen. Aber Rhamins Großmutter ist krank, deswegen will er sich noch heute auf den Weg nach Kalkutta machen. Ok, wir sind fertig für heute, bis heute Abend, also.»

Dann war Sandra wieder draußen.

 
Es war halb sechs, die Sonne war gerade untergegangen. Draußen war es kalt geworden, aber Sandra, Singh und Howard standen immer noch draußen und sahen in die Reste der Dämmerung. Da rief Kirstin sie herein. Sie hatte schon gedeckt, Suppe und Salat.

Sie setzten sich, Kirstin auf einen Hocker, der Rest auf drei sehr unterschiedliche Stühle. Sie wünschten sich guten Appetit, löffelten schweigend die Suppe.

«Sehr gut», sagte schließlich Singh. «Ich wusste nicht, dass du so gut kochen kannst. Ich danke dir für die Einladung.»

«Ich danke dir auch», fügte Sandra hinzu.

«Wisst ihr, es gibt noch einen zweiten Grund zu feiern. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber mich hat das Projekt, ähm, verändert. Ich meine schon vorher. Naja, ich war immer gut mit Tieren, aber ich habe die Menschen vernachlässigt.» Sie nickte Howard zu. «Ich meine, es war einfach, wir sind hier im Nirgendwo. Aber das ist jetzt vorbei. Deswegen danke ich euch, dass ich die Erfahrung machen konnte.»

«Kirstin, du bist wirklich unglaublich. Ich hätte vermutlich eher an Selbstmord gedacht», sagte Sandra.

«Hätte ich auch. Aber da war Howard. Ich war blind.»

Sie stupste Howard an. «Sag was!» Howard war aber nur rot erstarrt. «Bitte!»

«Ja», stammelte er. «Ihr wisst es, aber ich werde es Montag allen erzählen. Ich habe mich schon länger verliebt, ich habe es nur nie zugegeben. Nicht mal mir selbst. Und dann, dann haben wir dich fast verloren.» Er küsste sie.

«Wir wünschen euch alles gute. Aber hoffentlich kein Kind, jetzt, meine ich.»

«Und egal was die anderen denken: Tut was ihr wollt!», fügte Sandra hinzu.

Der Küchenwecker piepte. «Ok, stellt doch mal die Teller zusammen.» Dann holte sie den Auflauf aus der Röhre und stellte ihn auf den Tisch.

«Sehr lecker sieht das aus.» Singh lächelte. «Ich gebe zu, mir fiel nie auf, dass du auch Vegetarierin bist.»

«Ich meine, ich arbeite mit Tieren, die sind auch Vegetarier. Ich meine, du verstehst?»

Singh nickte.

«Lasst es euch schmecken!»

Gefräßige Stille folgte. Kirstin hielt sich vornehm zurück, dabei war sie ziemlich hungrig.

«Kirstin, ich bewundere immer noch deinen Willen. Das du heute das Projekt so rückhaltlos vertreten hast.» Sandra knetete die Hände.

Kirstin schien nur darauf gewartet zu haben. «Ich möchte euch was erzählen. Ich mein, der andere Grund zu feiern, neben Howard. Also, als ich hier anfing, war es nur irgendein Job. Aber dann hat mich die Arbeit gefesselt, ich habe angefangen, die Känguruhs wirklich zu beobachten, habe angefangen alles über Känguruhs zu lesen. Und es war erstaunlich wenig, und manches fand ich ganz und gar falsch. Als ich das dann an Merax, Professor in Canberra geschrieben hatte, dann hat er mir freundlich geantwortet, und mir meine Fehler dargelegt. Ich habe deshalb schon vor drei Jahren begonnen, ein Fernstudium zur Verhaltensforschung zu machen. Meine Abschlussarbeit hab ich letzten Monat eingereicht.»

«Was?» Howard und Sandra riefen gleichzeitig. «Warum hast du nie was erzählt?»

«Ihr habt hier absolut großartiges für die Menschheit geleistet. Und ich wollte auch meinen Teil dazu beisteuern, auf dem Gebiet, wo ich mich auskenne.» Sie holte tief Luft. «Deswegen, mein Herz gehört immer noch dem Projekt. Bitte, ich habe es ernst gemeint, selbst wenn ich mich in der Wüste unter Känguruhs verstecken muss, wenn eine Begutachtung kommt, das Projekt darf nicht sterben! Das ist mir wirklich wichtig!»

Sandra war beeindruckt: «Du beschämst uns. Ich glaube, du hast mehr Enthusiasmus als wir alle.»

Kirstin wurde rot, und ihr Schwanz zuckte nervös hin und her.

«Kirstin, was kommt als Nächstes? Es lässt dich völlig kalt, dass du halb Känguruh bist. Dann gibst du dem halben Projektteam seelischen Beistand, und jetzt stehst du auch noch kurz vor Diplom. Du bist 'ne Wucht!»

«Ihr, ihr seht zu viel in mir. Und ihr macht euch selber schlecht.» Dann entspannte sie sich. «Jeder sieht also in den anderen ein Vorbild. Das wäre also geklärt, unentschieden.» Sie lächelte. «Wisst ihr, irgendwie bin ich auch neugierig auf die Herausforderung. Schmeckt's?»

«Ja, lecker», antwortete Howard mit vollem Mund.

«Ich kann das Urteil bestätigen», lächelte Singh.

«Ich glaube, da heute der Abend der Enthüllungen ist, werde ich die Geschichte der ersten Begutachtung erzählen. Und Singh, schweig!» Dann begann Sandra zu erzählen, wie sie eigentlich nichts richtig scannen konnten, sondern eigentlich nur ein totes Kaninchen geröstet und den Speicher mit eindrucksvollem Datenmüll gefüllt hatten. Nur weil die Gutachter unbedingt einen Test sehen wollten. Erst dann hatten sie überhaupt das Prinzip verstanden. Und das Beste daran war, dass die Gutachter nach den Überresten des Kaninchen fragten, nur um sich beim Anblick zu übergeben. Wie hatten sie gelacht. Danach konnten sie fast ein Jahr ohne neue Begutachtung arbeiten, und bei nächsten Mal konnten sie dann das zweite, je teleportierte Kaninchen präsentieren.

Dann brachte Kirstin das Eis und Singh fing an zu erzählen, wie er überhaupt dazu kam zu studieren und schließlich hier landete. Oh, es war ein abenteuerlicher Lebensweg, und auch ein trauriger, denn Singh schilderte auch das Elend in seinem Bergdorf genau. Das ist dann bei einem Erdrutsch, ausgelöst durch einen außergewöhnlich intensiven Monsun, vernichtet worden. Singh war der einzige Überlebende gewesen, soweit er das herausfinden konnte. Damals war er aus Indien weggegangen, weil er es dort nicht mehr aushielt. Schließlich hatte er sich als Computerspezialist hier beworben, einfach, um von anderen Leuten soweit weg wie möglich zu sein. «Ich denke, Kirstin, wir hatten vielleicht ähnliche Motive hier anzufangen. Und auch mir hat das Projekt verändert, ich denke, ich habe hier eine Chance, der Menschheit zu helfen.»

Sie waren alle tief von seiner Lebensgeschichte betroffen und schwiegen. Schließlich brach Howard das Schweigen. «Ich wollte schon immer hierher, sobald ich davon gehört hatte. Schon während meiner Abschlussarbeit über Quantenkryptologie war mir klar, dass hier die Zukunft ist. Naja, und wie ich die Finanzierung hierzu zusammengestückelt habe, das wisst ihr ja.» Er schüttelte sich. «Ich hatte eigentlich nie damit gerechnet, dass die Finanzierung klappt. Ich war schon drauf und dran, einfach so hierherzutrampen.» Er lächelte zu Kirstin. «Und ich bin so froh wie nie, dass ich hier bin!» Dann küsste er sie.

«Hmm», machte Singh. «Ich danke dir für das Essen. Sollen wir noch beim Abwasch helfen?»

«Nein» Kirstin war aufgestanden. «Ist nicht nötig. Ich danke euch, dass ich gekommen seid.»

Singh verbeugte sich kurz. «Jederzeit wieder. Komm Sandra.»

«Ja, ich danke dir, Kirstin. Bis dann!» Und sie traten aus der Tür auf den Sandweg. «Weißt du Singh, ich freue mich für die beiden. Aber gleichzeitig mache ich mir Sorgen, dass Timing ist nicht gut.»

«Ach Sandra, Gutes Timing ist selten. Denk nicht zuviel nach.» Er sah in die sternklare Nacht. «Menschen sind Gewohnheitstiere. Bald wird keiner mehr hinsehen, wenn Kirstin durch die Gänge geht.»

«Ich hoffe es Singh, ich hoffe es für sie.»

 
Drinnen waren Kirstin und Howard tatsächlich am Abwasch.

«Sag mal Howard, äh, willst du heute Nacht hier bei mir bleiben?»

«Ich, ich» Er holte tief Luft. «Ja», sagte er schließlich einfach.

«Komm, lass die Teller.» Sie zog ihn aus der Küche, schob ihn küssend ins Schlafzimmer, warf ihn aufs Bett und kniete sie sich über ihn. Sie küssten sich wild, dann warf sie das T-Shirt beiseite, mehr aus Gewohnheit. Auch Howard hatte bald kein T-Shirt mehr an und taute langsam auf. Schnell rollte sich kurz sich vom Bett, um sich ihrer Hose zu entledigen, war aber gleich wieder zurück und küsste seinen Oberkörper ab. Dann öffnete sie seine Jeans.

«Ich weiß nicht», sagte er.

«He, ich bin keine Jungfrau mehr. Zumindest war ich keine.»

«Aber, ich meine, ich»

«Achso. Ich versichere dir, Känguruhs sind nicht so viel anders.» Wieder küssen. «Aber natürlich.»

Puterrot stammelte Howard: «Ich habe es noch» Er rutschte aus der Hose. «Egal, lass es uns tun!»

Und sie taten es.

 
Howard erwachte als Erster. Hundertfünfundzwanzig Kilo lagen immer noch halb auf ihm. «Kirstin» Er kitzelte sie. Keine Reaktion. «Hallo, Kirstin, guten Morgen. Die Sonne lacht schon draußen!» Nur ein Murren kam. «Kirstin, bitte roll dich doch etwas zu Seite!» Doch Kirstin schien immer noch zu schlafen. Da rollte er sich eben seitlich durch, und landete unsanft neben dem Bett.

Wie sah es denn hier aus! Das ganze Bett war halb zusammengebrochen, die hintere Stirnwand war in drei Teile zerbrochen. Die Lehne des Stuhls neben dem Bett, auf den Kirstin ihre Sachen gelegt hatte, war in der Mitte gespalten. Auf dem Bett waren einige Blutspuren. Er schlug die Decke zurück.

Kirstin erwachte davon endlich. «Ich bin tot!», murmelte sie. «Mir ist soo schlecht.»

«Auch dir einen Guten Morgen», trällerte Howard. «Los, zeig mal deine Füße äh Pfoten, was auch immer.» Und sie sahen mitgenommen aus. Er zog einen Holzsplitter heraus; zum Glück ging der Fußreflex von ihm weg. So hatte sie also das Bett zertrümmert. Auch die Schwanzspitze hatte ein paar Splitter abgekommen. Die zuckte aber jedes Mal unkontrolliert in alle Richtungen. Howard fluchte.

Mühsam stützte sie sich auf und blinzelte. «Warum ist das Bett so schief?», murmelte sie.

Howard musste lachen. «Dabei hast du die schlimmsten Trümmer gar nicht gesehen» und zeigte auf die Trümmer. Kirstin schwieg betroffen. Dann fing sie an zu kichern. Nach einiger Zeit konnte auch Howard nicht mehr an sich halten, und sie lagen lachen auf dem Fussboden.

 
Die nächsten Wochen arbeiteten Howard, Rhamin und Singh an der Neuausrichtung der Röntgenscanner. Die optische Ausrichtung war kein Problem, aber den DSP-Stufen die nun nur noch dreifache Symmetrie nahe zu bringen, schien ein fast unüberwindbares Problem. Sie versuchten erst einmal ein Prototypenboard aus den Anfangstagen umzustellen, um den Zeitaufwand abzuschätzen.

Howard justierte gerade einen kleinen Schemel, als der Alarm losging. Sofort rannte er aus dem Zerlegungsbunker und weiter zum Kontrollraum. «He, wollt ihr mich verstrahlen? Was sollte das?»

Rhamin zeigte auf den Monitor. «Ich war's nicht. Und der Laser ist aus, aber der Quantenspeicher baut von selbst Kohärenz auf, als ich begonnen hatte, ihn einzukühlen. Wo ist Singh?»

«Bin schon da. Was ist?» Da sah auch er es auf dem Monitor. «Mehr als Rauschen», murmelte er. «Was zum Teufel ist das?»

«Und wieso schwankt die Gesamtenergie so stark?»

«Wartet!» Singhs Finger huschten über die Tasten. Dreimal vertippte er sich. «Wie unsere Protokolldaten. Schneide mit!»

«Der Quantenspeicher ändert sich immer noch», sagte Rhamin, der den Speicher beobachtete.

«Was ist das?» Howard schüttelt den Kopf. «Da sendet jemand uns einen kompletten Transfer als Quantendaten, oder wie?»

Keiner antwortete, alles starrten sie auf die Anzeigen.

Schließlich nickte Singh. «Ja, jemand sendet Transfers.»

«Außerirdische?» Howard hatte es laut gedacht.

«Und wie? Ich meine, der Quantenspeicher ist doch extragut abgeschirmt. Sonst würden die Quanten ja die Kohärenz verlieren.»

«Ich wüsste lieber, wie überhaupt jemand unser Protokoll kennen kann. Es ist ja nicht veröffentlicht.»

Mehrmals setzte der Datenstrom kurz aus. Schließlich kam er ganz zum Erliegen. «Wir haben 17 % Mit Aussetzern.»

«Und im Quantenspeichern, Rhamin?»

Der schüttelte den Kopf. «Kann ich nicht sagen, denn da wurde ja immer wieder neu überlagert. Nach unserer Zählung irgendwas bei 61000 %

«Nicht lebensfähig, sagt der Computer. Und jetzt?» Singh sah in die Runde.

«Du bist der Älteste», meinte schließlich Howard.

Singh hob die Hand. «Also: Jemand kann den Zustand unseres Quantenspeichers manipulieren.»

Rhamin nickte. «Was lohnt den Aufwand? Und wieso? Vielleicht will man uns eine Nachricht senden.»

«Nein, wir sollen etwas materialisieren. Ne Nachricht kannst du auch morsen.» Howard schüttelte energisch den Kopf. «Aber was ist im Puffer? Was wurde dort wohl hineinschreiben? Was lohnt den Aufwand?»

«Nur ein Mensch!», antwortete Singh. «Ich werde sehen, was ich mit Kirstins Puffer machen kann. Los, kümmert euch um die Wiederherstellung. Harris und Pirout müssten auch irgendwo sein.»

 
Da die Anlage nicht vorbereitet war, dauerte es sehr lang. Der Computer war vor ihnen fertig, aber jetzt, gegen sechs Uhr morgens, war auch die Wiederherstellungskammer neu justiert. Es hatte nicht zuletzt deshalb solange gedauert, weil Sandra und noch drei weitere Mitglieder des Teams am Barrier-Riff tauchen waren. Doch sie hatten die Nachricht erhalten, und würden morgen bei Tagesanbruch losfliegen.

Müde gingen sie zum Kontrollraum, wo Singh die Wiederherstellungssequenz schon gestartet hatte. Es war klar, dass es wieder eine Mischung aus Mensch und Känguruh werden würden, da als Backup für einen Mensch ja nur Kirstin da war.

Die Wiederherstellung lief erfolgreich, behauptete der Computer. Aufgeregt rannte sie wieder zur Kammer und öffneten die Tür. Drinnen lag eine Frau, mit den Beinen eines Känguruhs. Außer dem Kopf gleich sie Kirstin bis aufs Haar.

Sie trugen sie zur Dusche und wuschen die Ursuppe ab. Dann gaben sie ihr Aspirin, denn auch sie hatte Fieber. Rhamin meldete sich freiwillig für die erste Wache.

Howard sah nach Kirstin und schlief im gleichen Moment ein, als er die mittlerweile auf dem Boden liegende Matratze berührte. Es waren nur Sekunden, als er wieder geweckt wurde. Kirstin stand neben dem Bett, schon angezogen. «Howard, komm, Rhamin hat gerade angerufen, unser Gast ist aufgewacht!»

Nach einigen Sekunden rappelte sich Howard auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Es war kurz vor zehn. «Was?»

Kirstin stand schon in der Tür. «Nun komm schon!», rief sie.

Howard schüttelte sich nochmals kurz, wusch sich kalt das Gesicht und folgte dann. Im Flur traf er Kirstin wieder, die auf die Krankenstation wies. Innen lag die Neue noch immer auf der Bahre. Als Kirstin den Raum betrat verstummten die getuschelten Gespräche kurz. Schließlich lag dort lang gestreckt auf der Rollbahre eine irgendwie doch mit ihr Verwandte, bloß anderer Kopf, soweit man das mit der Decke sagen konnte. «Wie geht es ihr?», raunte sie irgendwem zu.

«War vor zehn Minuten kurz wach und hat nach dem genauen Datum gefragt», antwortete Rhamin leise. «Wir fanden, du solltest sie wecken. Ich meine, du weißt am besten, wie man sich als Halbkänguruh fühlt!» Dann trat er beiseite.

Kirstin warf ihm einen wütenden Blick zu, dann drehte sie sich nach Howard um. Der nickte ihr zu, also holte sie tief Luft und trat neben die Fremde.

«Hallo? Hören sie mich?» Vorsichtig berührte sie sachte den Kopf.

Dann schlug die Fremde ohne sonstige Regung die Augen auf. «Einen Moment bitte», sagte sie schleppend. «Ich muss -- einrichten.»

«Wie fühlen sie sich?», fragte Kirstin nun wirklich besorgt.

«Schwer zu sagen. Wo und wann bin ich?»

Diese Gespräch schien sehr seltsam zu werden. «Auf dem Versuchsgelände TP in Australien. Heute ist der 17. Juli 2019.»

«Wer ist Kirstin Krompart?», fragte sie.

«Ich», antwortete Kirstin ziemlich verblüfft.

«Kirstin Krompart, es ist mir eine Ehre, den ersten Menschen zu sehen, der teleportiert wurde.»

Sie alle waren bestürzt. «Woher weißt du das? Und wer bist du? Und wie?», fragten sie alle durcheinander.

«Ich komme aus dem Jahr 2107. Ich bin ein Simulacron, eine konstruierte Persönlichkeit in einem Standardkörper. Die übliche Abkürzung ist Sim, sie können diesen Namen verwenden.»

Sandra unterbrach: «Sim, wie hat man dich hierher geschickt?»

«Euer Quantenspeicher ist ein exakt vermessenes Museumsstück. Somit konnten wir einen exakt darauf abgestimmten Tachyonenstrahl auf diesen fokussieren. Der Wirkungsquerschnitt ist jedoch extrem klein, es reicht gerade aus, um einen Quantenzustand über die Präparation virtuelle Vakuumzustände zu realisieren. Mein Schöpfer haben mich nun auf den Tachyonenstrahl aufmoduliert und exakt auf euren, zum Glück übergroßen, Quantenspeicher abgestimmt.»

«Aber wieso?», entfuhr es Kirstin.

Sim hustete. «Ich soll euch folgende Warnung überbringen: Der Backupspeicher darf nicht in den fertigen Teleporter integriert werden, oder er wird die Menschheit vernichten.»

Tumult brach los. «Was?» Singh brüllte am lautesten.

Als Sim wieder sprach, war sofort wieder Stille. «Eure Erfindung wird sich rasend schnell durchsetzen. Der Teleporter hat schien auch die Unsterblichkeit gebracht zu haben, denn wenn man krank wurde, dann konnte man ja sich in einen jüngeren Idealkörper teleportieren. Aber um Speicher zu sparen, hatte man für den kommerziellen Einsatz ein ROM programmiert, das einen Idealmenschen enthielt. Durch die unzähligen Transfers, die man heute, ich meine in Zukunft durchführte werden hatte», Sim strauchelte. «Hatte, wird, wurde man jedes Mal ein kleines Bisschen dem Idealmenschen ähnlicher. Die Menschheit wurde dadurch steril, Nachwuchs wird heute geklont.»

«Unglaublich», murmelte irgendwer.

«Durch die immer größere Ähnlichkeit der Gene haben sich sehr spezifische Seuchen vermehrt. Diese reisen sogar mit den Teleportern, da sie über sehr weite Abschnitte mit schlafenden Genen im Idealmenschen identisch sind. Die neuen Seuchen haben bis zum Tag meines Transfers ungefähr 85 % der Menschheit vernichtet. Wir versuchen gerade nach dem Vorbild Kirstin Kromparts Teile tierischer DNA einzubauen.»

Stille trat ein. Betroffenes Kopfschütteln.

Doch Sim fuhr mit ihrer wohlmodulierten Stimme gelassen fort: «Schließlich kann ich so sogar ihnen, Kirstin Krompart, eine Warnung übermitteln: Lassen sie sich nicht teleportieren, um wieder Menschenbeine zu bekommen. Diesen Transfer überlebten Sie nur deformiert, soweit wir das aus den Aufzeichnungen rekonstruieren konnten.»

«Was?» Kirstin war entsetzt. «Du, sie meinen, ich muss mit diesen Beinen bis an mein Lebensende ... » Sie führte den Satz nicht aus.

«Dazu kann ich nichts sagen. Aber vielleicht nur solange, bis die Technologie weiter perfektioniert wurde. Damals hatten sie es vermutlich nach ungefähr einem halben Jahr versucht, und der Versuch ist wohl gescheitert. Jedoch wurden nahezu alle Unterlagen vernichtet, offiziell starben sie bei einem Brand. Die Ausgrabung ihres Skeletts nahe der alten Siedlung, ich meine ihres Hauses, heute, hat bei der Rekonstruktion der tatsächlichen Sachverhalte sehr geholfen.»

Kirstin brach fast zusammen. Pirout, der hinter ihr stand, konnte sie mit Mühe aufrecht halten. Kirstin schluchzte laut. Howard kam und nahm sie in die Arme und strich sanft über ihren Kopf.

«Haben sie denn kein Taktgefühl?» Sandra hatte sich inzwischen wieder zu der Sim heruntergebeugt. «Wie fühlen sie sich nun?»

«Nein, ich bin ein Sim. Ich verstehe ihre Frage nach meinen Gefühlen, als Frage nach meinem Status. Der ist unklar. Es war ein verzweifelter Versuch, die Chancen hier lebend anzukommen waren sehr schlecht. Ich vermute, dass ein großer Teil meiner Sequenzen beschädigt sind. Wir haben mit einer fünfprozentigen Wahrscheinlichkeit gerechnet, denn wir musste exakt euren Quantenspeicher treffen, und dieser musste auch eingekühlt sein. Deswegen wurde auch nur ein Sim geschickt.»

«Aber du bist doch ein Mensch! Ich meine, wie kannst du nur so von dir reden!»

«Ich bin kein Mensch, ich bin ein Sim, genau für solche gefährlichen Aktionen geschaffen. Ich war Versuch 37, und hundert wollte man insgesamt unternehmen. Ein Sim ist kein Mensch, mir fehlt Wissen auf sehr vielen Gebieten des Lebens, ich kann nicht laufen, essen, lesen oder schreiben. Diese Dinge waren für meine Mission nicht notwendig.»

Singh stellte sich zu Sandra. «Das stimmt nicht. Sie kann sehr wohl essen, und die Gene sind nicht viel schlimmer beschädigt als die von Kirstin.»

«Sim, oder wie wir dich auch immer nennen wollen, willst du denn nicht weiterleben?», fragte Sandra schockiert.

«Es wäre eine interessante Erfahrung, die ich selbstverständlich wahrnehmen würde. Aber laut Gesetz seid ihr nicht dazu verpflichtet, einem Sim mehr zu helfen, als ihr dies ohne jegliche Einschränkungen für euch selbst tun könntet. Da meine Aufgabe erfüllt ist, könnt ihr frei über mich verfügen. Üblich ist jetzt eine Dekonstruktion.»

«Nein!», rief Sandra, und schüttelte heftig den Kopf. «Dieses Gesetz ist grausam und gilt für uns eh nicht. Wir werden dir helfen zu leben! Schlaf am besten etwas. Willst du ein Schlafmittel?»

«Ich weiß nicht, wie man schläft. Geben sie mir ein Schlafmittel!», sagte sie mit ihrer sanften Stimme, aber ohne Gefühlsregung. Sandra schüttelte den Kopf, dann gab sie ihr zwei Tabletten. Sim erstickte fast daran, doch schließlich waren die Tabletten im Magen und sie hustete nicht mehr.

 
Sim erwachte nicht mehr als dem Schlaf. Sie gaben ihr Zuckerlösung, während auch ihr die Haare ausgingen. Doch am nächsten Abend war sie tot. Sie begruben sie neben Kirstins Haus.


Einen Monat später waren die neuen Kristalle da, und nachdem sie fünf Känguruhs teleportiert hatten stieg Sandra in die Dekonstruktionskammer. Diesmal ging alles glatt, und sechs Stunden später war einen merklich geschaffte aber unveränderte Sandra wieder bei ihnen.

Nun hatte Singh alles zusammen, um aus dem unvollständigen ersten Transfer, dem Backup und Sandra eine neue Kirstin zu basteln.

Nach drei Tagen war das Programm durchgelaufen. Jetzt fehlten nur noch die Daten der ,,aktuellen" Kirstin.

Als sie die Tür der Kammer öffneten, da lag die neue Kirstin. Da die Känguruhbeine sehr lang waren, waren wohl auch ihre Menschenbeine recht lang geraten. Egal, war sie jetzt eben einsfünfundneunzig.

«Aber sie hat ja noch immer einen Beutel!», rief Howard.


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