Sie träumen auch von Markus Pristovsek


Endlich hatte er die brodelnden Massen der Städte hinter sich gelassen. Eigentlich war er schon Stunden von der Stadt entfernt, doch erst jetzt, wo er durch den stillen Forst wanderte, weitab von Straßenlärm und Hektik, da erst begann er sich wieder frei zu fühlen.

Nun es war eine ganz andere Art von Freiheit, nicht die Freiheit zu tun, was man will, sofort; es war mehr die Freiheit, alles zurückzulassen. Sich nicht mehr umzudrehen und der Welt der Zivilisation auf immer Ade zu segen. Die Freiheit, dort zu sein ohne auf jemand Rücksicht zu nehmen. Die Freiheit, man selber zu sein.

Natürlich war ein Gutteil davon Illusion; ohne sein Geld wäre er nicht frei. Doch lieber mit wenig Geld hier frei, als mit viel Geld jeden Tag von neuem seinen egoistischen Handlungen altruistische Tünche zu verleihen und versuchen, niemanden mehr zu schaden als nötig. (Wenn man nur sowenig tun würde!)

Doch nun neigte sich der Tag seinem Ende. Als er auf eine Lichtung trat, stand die Sonne schon tief zwischen den Hügeln am westlichen Horizont. Er beschloss, hier zu bleiben, etwas abseits des Weges, dem er gefolgt war.

Schnell kochte auch die Erbsensuppe aus der Dose. Dazu gab es Tee aus dem Wasser einer Quelle, die zehn Minuten entfernt lag. Nun hatte er Zeit zu sehen, wie das blasse Violett des Zwielichtes langsam tiefblau wurde und sich in den Nachthimmel verwandelte.

Er lehnte am Rand der Lichtung an einem Stein. Behaglich spürte er die Wärme des Tages im Rücken, während ein recht voller, großer Mond langsam im Osten aufstieg und den Himmel erkletterte. Die nächste Stadt war weit und so füllte sich der Himmel mit mehr und mehr Sternen. Diese subtilen unmerklichen Veränderungen in der Natur, die doch alles gründlich umkrempeln: Nie sah man wie ein Stern erschien, aber plötzlich war er da. Für die Natur war der Mensch zu hektisch, hatte er sie deshalb vergessen? Langsam auch begann der Tau zu fallen. Seine Kleider wurden klamm. Schnell zog er sich aus und legte sich in den Schlafsack.

Der neue Tag begann frisch und wolkenlos. Es war bestimmt schon halb sieben, als er endlich aus dem warmen Schlafsack kroch. Doch schon vorher hatte er dösend dem Vogelkonzert gelauscht.

Er rührte etwas Milchpulver für das Müsli an. Dann räumte er die Sachen zusammen, sah kurz auf die Karte und machte sich auf den Weg. Die Sonne stieg langsam höher. Es würde wohl auch heute wieder einen heißen Tag geben.

Gegen Mittag führte der Weg in ein Dorf. In dem dortigen Gasthof, er hieß seltsamerweise „Zum stillen Pilger“, aß er Mittag. Es war außer ihm niemand dort, aber die Touristensaison würde ja auch erst in zwei, drei Wochen beginnen.

Und so saß der Wirt mit am Tisch, redete viel über Gott und die Welt. Selten konnte er mehr als ein paar Worte sagen. Freundlich nickte er, hörte zu: Er hatte schließlich die Freiheit, seine Zeit zu verschenken. So erfuhr er, das nach sieben Kilometern auf seinem Weg die Ruinen eines alten Kloster kämen. Und dorthin seien im Mittelalter des öfteren Mönche gepilgert, was dem mindestens ebenso alten Gasthof seinen Namen verliehen hätte.

Das Essen dazu war einfach, aber gut. Und es war faszinierend, die Geschichten zu verfolgen, das Leid und Glück der letzten zwei Jahre. Wie aus Hochzeiten und Begräbnissen Ereignisse werden, die dem Fall der Mauer oder der Mondlandung in ihrer lokalen Bedeutung und Tragweite um nichts nachkamen. Und eine tragische Liebe, gegen deren Schilderung selbst Romeo und Julia stiefmütterlich waren.

Angefüllt mit Geschichten und Essen verließ er wohlgemut den Gasthof und war bald wieder von der Kühle des Waldes umgeben. Der Weg wurde immer gangbarer, je weiter weg er vom Dorf kam. Nach zwei Kilometern wich das Gestrüpp zurück, und er betrat einen lichten Buchenwald. Hier lief es sich hervorragend. Und so war er auch schon bald an der Klosterruine. Viel stand nicht mehr. Lediglich eine Seitenwand mit hohen, ehemals wohl gotischen Fenstern war zu erkennen.

Er stellte sein Gepäck ab um das Kloster genauer zu erkunden. Dann suchte er nach der Quelle, die nahebei sein sollte. Er fand sie auch. Viel interessanter war die Grube, keine zwanzig Meter entfernt. Sie war frisch, doch konnte er von oben altes Mauerwerk entdecken. Scheinbar war diese Grube von Holz abgedeckt gewesen. Doch das Holz war durchgemodert.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und holte eine Kerze. Dann kletterte er in die Grube. An dem halbeingefallen Eingang vorbei konnte er eine Höhlung erkennen. Er zwängte sich hindurch. Dahinter war ein Gang. Er bestand aus Natursteinen, wahrscheinlich genauso alt, wie das Kloster. Doch wozu sollte so ein Gang dienen?

Noch dazu hörte er nach zehn Metern auf und endete in einer zwei mal zwei Meter kleinen Kammer. Hier hatte ein Feuer gewütet. Es waren verkohlte Reste von einer Truhe und jede Menge Kleinholz vorhanden.

In der Truhe waren wohl einmal Bücher. Jedenfalls waren noch einigen Reste von Blättern zu erkennen, der Rest war Asche oder Erde. Er fing an, die Truhe genauer zu durchsuchen. Doch erst fand er nichts, bis er etwas glitzern sah. In einem vermoderten Holzstück stack etwas. Er brach das Holz durch und aus der Höhlung fiel ein goldener Anhänger heraus. Er war zierlich, nicht größer als das letze Glied des kleinen Fingers. Er stellte mehrere konzentrische Kreise dar, zwischen ihnen war undurchdringliche Schwärze. Es war erstaunlich fein gearbeitet. Durch die Öffnung war eine filigrane Kette gezogen, so dünn dass man sie kaum sah. Stolz legte er sich den Fund um. Dann kroch er wieder dem Tageslicht entgegen.

Die Sonne stand zwar noch nicht sehr tief, aber er wollte heute nicht mehr weiter. Statt dessen würde er sich ein gutes Abendbrot machen. Er kochte Tee und machte sich ein paar Brote mit der Wurst vom Wirt. Sie schmeckten hervorragend. Dann holte er sein Fahrtenbuch heraus und schrieb die Eindrücke des Tages auf. Müde war er immer noch nicht.

Während das Licht des Tages verblasste, um dem Regime des Lichtes des Mondes zu weichen, kletterte er noch ein bisschen in den Ruinen herum. Doch in dem Zwielicht wurden die Gemäuer unheimlich und die Schatten trügerisch, so dass er sich unter einen Mauervorsprung hinlegte. Am Morgen würde ihn dann die Sonne wecken.

 
Am Morgen weckte ihn Nieselregen. Die Klosterruine war verschwunden, einfach weg. Genau wie der Wald. Und seine Provianttasche genauso wie sein Rucksack, der ihm als Kopfkissen gedient hatte. Es waren ihm nur die Sachen im Schlafsack und derselbe geblieben. Nicht einmal Schuhe hatte er mehr. Hellwach sah er sich um.

Er lag inmitten einer vorgeschichtlichen Tempelstätte, eines Kreises von sieben großen senkrecht gestellten Steinen. Neben im war ein weiterer Stein, auf seiner Oberfläche war eine Struktur zu sehen, die aus konzentrischen Kreisen bestand. Genauso geformt, wie das Amulett aus dem Klosterkeller.

Die Stätte lag am Ende eines flachen grünen Tales zwischen sanften grünen Hügeln. Fast jegliche Art von Bäumen fehlte, nur eine Ansammlung von niedrigen Birken gab es, sonst nur Moos und Gras, grüne Hügel, wohin das Auge blickte. Es bestand keinerlei Ähnlichkeit zum seiner Wandergegend.

Er packte sein Bündel und folgte den Bach, der knapp unterhalb der Stätte entsprang.

Hin und wieder stieg er über eine Steinmauer, die einzigen Anzeichen von Zivilisation, wenn man von dem kaum erkennbaren Uferpfad absah, auf dem er ging. Wenn er diese Landschaft auf Fotos gesehen hätte, hätte er auf schottische Highlands getippt. Aber was war nur passiert? Er hoffte, am Ende des Weges eine Antwort zu finden.

Inzwischen hatte es aus den niedrigen Wolken angefangen zu regnen. Auch seine Stimmung war nicht gerade fröhlich, aber der Melancholie dieser Landschaft bei diesem Wetter angepasst. Immerhin war es windstill und nicht kalt.

Als der Bach sich um einen Hügel wandte, hier war er schon zu breit um herüberzuspringen, da sah er ein Dorf. Zehn Häuser vielleicht, niedrige Hütten. Vielmehr konnte er nicht erkennen, es war noch gut vier bis fünf Kilometer entfernt. Je näher er an das Dorf kam, desto ausgesprägter wurde der Pfad, desto mehr Erde, oder eher Matsch kam zum Vorschein. Aber breiter als ein halber Meter wurde er nie. Und in dem Matsch sah er nur Hufspuren, keine Fußabdrücke, keine Wagenspuren und wohl erst recht keine Reifenspuren.

Der Nieselregen war in einen Landregen übergegangen. Monoton pladderte es auf die Kapuze und tropfte an der undichten Naht in seinen Nacken. Das hohe Gras sorgte für eine gute Durchfeuchtung der Hosen und störte beim Laufen. Immerhin gab es keine Disteln, die durch seine Socken gestochen hätten.

Seit dem Aufwachen war er bestimmt schon einen guten halben Tag unterwegs, genau konnte er es nicht sagen, denn er hatte ja keine Uhr mit. Endlich kam er an eine Brücke bei einem kleinen Weiden- und Birkenwäldchen. Auf der anderen Seite war das Dorf.

Der Pfad war der einzige Weg durch das Dorf, noch nicht einmal einen Karrenweg gab es, geschweige denn eine Straße. Die Gebäude waren aus grauem Schiefer aufgeschichtet, hatten keine Fenster, nur leere Türrahmen. Die Dächer waren entweder mit Schindeln oder Reet gedeckt, aber dicht bemoost und teilweise eingesunken. Nirgends sah er den Rauch eines Feuers. Das Dorf machte einen verlassenen Eindruck, wären nicht die vielen Hufspuren gewesen.

Es gab keine Türen, also trat er in das erste Haus ein. Er brauchte einen Moment, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. In dem Raum waren fünf hohe Stehtische, aus Rundhölzern mit Seil verbunden, und kein Stuhl. In der Ecke war eine Feuerstelle, aber so vermoost, dass seit Jahren kein Feuer mehr dort gebrannt haben konnte. Links war eine Art Theke aus Stein und daneben ein Durchgang in einen anderen Raum. Vor dem Durchgang war eine Leiter, die auf einen Boden führte. «Hallo» Seine Worte klagen fremd hier.

Oben bewegte sich wer. Jemand stieg auf die Leiter, Füße voran. Oder besser gesagt, Hufe voran. Als dieser Jemand unten war, drehte er sich um und sie musterten sich gegenseitig. Sein Gegenüber war gut zwei Meter groß. Seine Gestalt war menschlich, nur hatte er die Beine eines Pferdes. Bekleidet war er mit einem Pullover, der bis zur halben Kniehöhe reichte. Er hatte einen Pferdeschwanz und an den Seiten seiner Beine hatte er neben dem normalem Fell eine Art Fellstreifen. Soweit er das im Dunkeln sagen konnte, war die Fellfarbe dreckbraun, etwas dunkler als der Pullover. Das Gesicht war menschlich, verriet ein hohes Alter.

«Ich bin der Wirt. Seid gegrüßt, Gast.» Der Wirt sprach ein sehr veraltetes Latein, doch mit Mühe konnte er ihn verstehen. Mit ebenso viel Mühe antwortete er: «Seid gegrüßt. Ich bin hungrig.»

Wortreich entschuldigte sich der Wirt dafür, kein Essen im Haus zu haben, und kein Feuer im Kamin. Er holte Holz herein und begann einen Feuerstein zu suchen. Da griff er ein, und der Wirt ging, etwas Essbares zu finden. Nachdem er einige Späne aus den Möbeln gewonnen hatte und sein Feuerzeug benutzte, brannte ein Feuer, an dem er wenigstens das restliche Holz trocknen konnte.

Der Wirt, er nannte sich übrigens Grades, hatte zwei Karotten ein paar Kartoffeln und Milch mitgebracht. Dazu etwas Gemüse. Ihm würgte schon jetzt beim Anblick der Zutaten, andererseits hatte er wirklich Hunger.

Während er die Zutaten zubereitete und in dem Kupfertopf langsam das Wasser warm wurde, begannen sie ein Gespräch.

«Wo bin ich eigentlich?»

«Wissen sie, dieser Ort hat keinen Namen, da es außer ihm nichts gibt. Aber es gibt einen Geschichte, nach der es wohl andere Orte geben muss. Vor sehr langer Zeit hat man unsere Altvorderen hierhergebracht. Einen nach dem anderen. Zur Bestrafung, glaube ich. Dann hat uns lange jemand besucht. Doch es ist schon fünf Generationen her, seit der letzte Besuch kam, glaube ich. Ich denke, sie sind auch ein solcher Besucher.»

«Woran haben Sie die Besucher erkannt?»

«Sehen sie mich an. Sehen sie sich an! Sie sind nicht normal.»

«Und als keine Besucher kamen, wieso sind sie nicht einfach losgezogen?»

«Wohin? Es ist weit und breit nichts. Nach einem Tagesmarsch kommt man an ein Ufer. Geht man entlang, dann kommt man nach einger Zeit wieder an dieselbe Stelle. Setzt man über und läuft weiter, dann kommt man wieder auch nicht weiter.»

«Das ist doch unmöglich.»

«Wenn sie es sagen.»

Es fehlten Fett und Salz in der Suppe. Nils sehnte sich nach dem schlechtesten Instant-Dosenfraß. Der wäre wenigstens versalzen und hätte Substanz. Diese Suppe schmeckte wie Wasser mit Sand und welkem geschmacklosen Gemüse, das noch halb roh war. Hier, wo immer er sich jetzt auch befand, hier war noch echtes Mittelalter.

Dann schwiegen sie und tranken die Milch, die zwar scharf schmeckte, aber in ihm trotzdem keine Übelkeit hervorrief. Morgen würde er nach Pfefferminze suchen, um einen Tee zu brauen. Obwohl es eigentlich Nacht sein sollte, war es draußen immer noch so hell, wie zu der Zeit, als er hier ankam. Müde war er.

Der Wirt zeigte ihm das Bett. Es war moosgepolstert aber wohl schon ewig nicht mehr benutzt. Mit seinem Schlafsack war es gemütlich, ohne ihn wollte er lieber nicht daran denken.

Das Wetter hatte ihn müde gemacht, so dass er bald oben seinen Schlafsack ausbreitete. Er war zwar klamm, aber nicht nass, und bald in der eigenen wohligen Wärme gefangen, schlief er ein, trotz der strengen Gerüche rings herum.

 
Ein Vögel trällerte. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Es war ein wunderschöner Tag, aber noch früh am Morgen. Neben ihm ragte die Klosterwand auf. Unter dem Stein vorne lag der Brotbeutel. Er musste einen seltsam-intensiven Traum gehabt haben.

Nach einem guten Frühstück verschwanden die Traumfetzen. Er packte seine Sachen zusammen und zog los. Es war noch ein schöner Sommertag. Er hatte wirklich Glück mit dem Wetter. Fröhlich ging er den Grat oberhalb eines alten Steinbruches entlang.

Der Wald, der die nächsten Hügel bedeckte, war ein richtiger Urwald. In drei Stunden kam er vielleicht fünf Kilometer weit. Doch er hatte ja kein Ziel und wurde für die Mühe reichlich entschädigt, als er einen Wasserlauf fand. Zuerst war er mit sumpfigen Boden und Mücken eine Plage, doch dann plätscherte einen Hang hinunter über Steine.

Er nutzte die Gelegenheit, sich zu waschen und abzukühlen. Die Wasser war frisch und klar, genau das, was er bei dieser Hitze gebraucht hatte. Während er dort badete, sah er Fische im Wasser stehen. Doch er war zu ungeschickt und fing keinen.

Es war drückend schwül geworden und er beschloss, bis zum späten Nachmittag hier zu rasten. Schließlich brach er wieder auf, auf der Suche nach einem Schlafplatz. Nach einem halben Kilometer fand er wieder Spuren der Zivilisation, eine Landstraße. Er überquerte sie und verschwand wieder auf der anderen Seite im Wald. Dieser endete jedoch bald und eine steile, felsige Bergwand tat sich vor seine Füßen auf.

Am Himmel ballten sich drohende Wolken. Er stieg vorsichtig ab, als er eine Höhle fand. Sie war leer und roch nicht, also war sie wohl unbewohnt. Und Regen konnte auch nicht hineinfließen. Noch während er die Höhle erkundete, grollte draußen der erste Donner und bald kamen die Windstösse, die einem Schauer verausgehen.

Kaum war das Teewasser aufgesetzt, da begann das Gewitter mit Macht. Doch hier drinnen war der Fels noch warm und kein Windstoß konnte Regen bis hierher bringen. Von Zeit zu Zeit lohten Blitze über der Ebene auf, scharf gezeichnet. Später kam dann der dumpfe Donner, ungefiltert, ohne Fensterscheibe oder Wand.

Als der Regen sich verzog, war im Licht des Vollmondes der aufziehende Nebel zu sehen, zuerst beim Fluss in der Ebene, aber langsam seine Finger die Wege und Wiesen zum Wald herausstreckend. Dazu kam der unheimlich intensive Geruch von feuchter Erde und mehr. Plötzlich war der Geruch nach Walderdbeeren dabei, sie müssten irgendwo am Rande der Höhle sein.

Dieses waren die Augenblicke, die nur wenige wirklich kennen, die man selten so wirklich erlebt, er verstand nicht, wie man freiwillig darauf verzichten konnte, wie man ohne Natur leben konnte. Angefüllt und lächelnd sank er sacht in tiefen Schlaf.

 
Er war wieder in der Gästekammer. Das Tropfen auf sein Gesicht und der nasse Schlafsack, in den er sich eingewickelt hatte, ließen keinen anderen Schluss zu.

Er sah hinaus. Es nieselte und die Wolkendecke hing zur Abwechslung so tief, dass die Kuppen der Hügel nicht zu sehen waren. Ein Windstoß trieb ihn wieder hinein. Was hätte er für ein ordentliches Frühstück gegeben. Schließlich beschloss er die Gelegenheit zu nutzen, um zum Fluss zu gehen, sich zu waschen und ein dringendes Bedürfnis zu befriedigen.

Es war ein Fehler, barfuß zu laufen. Schon nach ein paar Meter trat er auf etwas dorniges. Er humpelte zurück und suchte Schuhe. Doch wenn man wie der Wirt Hufe hat, gebrauchte man keine. Er wickelte einige Fellfetzen um seine Füße.

Wenn man nichts anhatte, dann störte der Regen nicht, nur war es recht kühl. Dafür war aber das gelbe Flußwasser um so wärmer. Er badete ausgiebig, bis er zitterte vor Kälte. Drinnen im Haus war es leider auch nicht viel wärmer, aber in seinen Sachen kam langsam die Wärme zurück. Aber er roch unangenehm, wie das Land, dumpf-modrig.

Er beschloss, erst einmal in die Richtung zurückzugehen, aus der er gekommen war. Seinen Schlafsack ließ er im Haus. Kaum das er loslief, hörte der Nieselregen auf und die Wolken wurden etwas lichter, ganz als wollte das Wetter ihm seine Entscheidung erleichtern. Hinter der Brücke nahm er einen anderen Weg, mit dem Fernziel einer Schafsherde auf einem der Hügel.

Etwas besserer Stimmung machte er sich auf den Weg. Er kam gut voran und stand nach anderthalb Stunden auf dem Hügel. Gerade eben begann es wieder zu regnen. Nicht weit war die Schafsherde in einer ummauerten Wiese. Am Rande stand eine kleine Steinhütte. Neugierig ging er darauf zu. Doch die Schafe wurden unruhig und kurz bevor er an der Hütte war, trat der Hirte heraus. Nein, es war ein Hirtenmädchen, in einen bis zum Boden reichenden Mantel aus Fellen gehüllt. Sie sah ihn verdutzt an.

«Wer bist du, ich habe dich nie zuvor gesehen?»

«Nils»

«Komm doch herein, du musst nicht nass werden.»

Drinnen war es eng und dunkel, aber wärmer als draußen und trocken. Als hätte der Regen nur ihm zuliebe gewartet, legte er wieder einmal so richtig los und wuchs sich zu einem kräftigen Schauer aus. So saßen sie sich in knapp zwei Meter Abstand im Halbdunkel gegenüber, sie in stinkenden Fellen und er in feuchten Sachen und dampften um die Wette. Dazu tropfte es reichlich durch das Schieferdach.

«Ich bin übrigens Fanny. Du kommst von außerhalb?»

«Äh was? Nein, also ich meine, ich kann es nicht sagen.»

«Du trägst seltsame Sachen; und ich hab dich noch nie gesehen.»

Was sollte er darauf erwidern. Sie schwiegen sich an, während das Trommeln des Regens auf den Schiefer wieder etwas nachließ.

«Willst du was essen? Hier sind ein paar Beeren.»

Nils verschlang sie mit Heißhunger. Es waren vielleicht fünf winzige wässrige Walderdbeeren, doch hier mochten sie eine Spezialität sein.

«Was hast du mit deinem Füßen gemacht? Warum sind sie eingewickelt?»

Da sah er wieder auf ihre Füße. Auch sie hatte Hufe.

«Nun, ich habe keine Hufe. Sieh.»

Er wickelte die Fetzen von den Füßen. Sie sah sie ungläubig an und betastete sie ausgiebig.

«Es ist Vergangenheit, seit ein Besucher wie du kamst. Jerky müsste es in seinem Buch stehen haben. Ich habe es noch nie erlebt.»

«Wie alt bist du denn?»

«Wie kann man alt sein?»

«Na wieviel Jahre?»

«Jahre? Ein seltsames Wort.» Wieder schwiegen sie.

«Erzähl mir bitte, was du von den Besuchern weißt. Grades hat nur wenig gesagt.»

«Wie bist du denn an den geraten?»

«Nun, da ich kein Postamt, Pub oder Laden entdecken konnte, habe ich am größten Haus geklopft.»

«Du benutzt seltsame Worte. Und wenn du von irgendwoher kommst, warum bist du denn da, welchen Zweck hat dein Besuch?»

«Zweck? Nun, welchen Zweck hat ein Traum?»

«Traum?»

«Ich träume das alles, dich, die Gegend. Dieses Amulett schenkt seltsame Träume.»

«Was ist ein Traum?»

Er stutzte einen Moment? «Du schläfst doch? Und ein Traum ist ein Vision während des Schlafes, ein Bild ganz aus der Vorstellung.»

«Ich, eine Bild? Zeige mir das, verändere irgend etwas, mach in die Ecke dort ein grünblaues Feuer.»

«Das ist doch unpassend. Außerdem träumt man keine Farben, das Gehirn hat so schon genug zu tun.»

«Dann verpasse mir ein paar Schafshörner.»

«Das ist genauso unpassend.»

«Dann lügst du.»

Er seufzte. Dann berührte er ihre Schläfen und Sekunden später hatte sie zwei Schafhörner. Er fand es schrecklich. «Zufrieden?»

Ungläubig betastete sie ihren Kopf. Wäre in ihrem Rücken keine Wand gewesen, wäre sie noch weiter zurückgewichen. «Nimm sie weg, nimm sie weg!»

«Schon geschehen. Aber irgendwie hat dieser Traum Gesetze, denn sooft ich mir etwas zu Essen wünschte, es passiert einfach nichts.»

Sie lehnte tief atmend an der Wand und fühlte vorsichtig ihren Kopf ab, sich überzeugend, dass wirklich nichts zurückgeblieben war. Er wollte gerade seine Bemerkung wiederholen, da antwortete sie: «Du bist wie die anderen Besucher auch. Denen hatten wir immer ein Festmahl geboten. Und sie konnten uns mitnehmen. Und es stimmt, sie konnten wirklich vieles verändern.»

«Was meinst du mit mitnehmen?»

«In ihre Welt mitnehmen. Es gibt zwei alte Geschichten.»

«Wie? Erzähle sie doch, wenn du sie weißt.»

«Ich muss bei dir sein, wenn du aufwachst, dann kann ich mit dir reisen.»

«Das ist klar, denn wenn ich nicht träume, dann ist um mich Realität. Aber wie, ist doch das Problem.»

«Dann nimm mich in deine Arme, wenn du schläfst.»

Nils war der Gedanke nicht angenehm, doch da er dies eh träumte, wie er sich ausreichend bewiesen hatte, spielte es keine Rolle. Allerdings war dieser Traum wie der gestrige sehr realistisch; und in diesem Traum roch sie einfach schlecht, nach Schweiß, Urin und leicht nach Erbrochenem, sowie nach Schaf und faulendem Fleisch, letzteres kam wohl durch das Fell. Aber das konnte er ja ändern.

«Ich werde dir schönere Sachen verpassen. Sag einfach, was dir gefällt.»

Zuerst machte er sie sauber und dann kleidete er sie ein. Er entschied sich für Lederhosen, an der Seite aber nur zusammengeschnürt, so dass ihre Mähne durchkommen konnte, dazu ein weißes Hemd, unpassend für die Umgebung. Aber so sie wirklich schön aus, also beließ er es dabei.

«Gib mir mal das Amulett. Ich will dich auch verschönern.»

«Du meinst, das Amulett gibt dir hier auch diese Kraft?»

«Natürlich»

Also gab er ihr das Amulett, ohne recht davon überzeugt zu sein. Aber in einem Traum sollte ja alles möglich sein. Kaum hatte sie es sich umgelegt und die Augen geschlossen, da begann es an seinem ganzen Körper zu kribbeln. Er taumelte zurück. Sein Brustkorb weitete sich, seine Beine wurden länger, sein Fuß wurde kürzer, seine Muskeln wuchsen. Doch ganz schnell hörte es wieder auf.

Er atmete tief durch. Aber er war größer geworden, größer als Fanny. Er sah an sich hinab. Er hatte genauso wie sie jetzt Hufe. Aber er war ungleich kräftiger. Fanny hatte ihm einen mächtigen Brustkorb verpasst. Eingekleidet hatte sie ihn so, wie er sie eingekleidet hatte. Sein Fell aber war weiß. Er fuhr über die Beine, es war tatsächlich sein eigenes weiches weißes Fell. Es tat weh, wenn er daran zog. Er war verwirrt.

«Ich will meine alte Gestalt zurück. Ich habe dich ja auch nicht verändert. Und ich bin nicht glücklich darüber. Du musst unbedingt träumen, dass ich wieder so werde, wie ich war. Bitte.»

«Sofort, wenn du willst. Ich werde es versuchen.»

Sie setzte sich. Plötzlich wurde sein Blick unscharf und alles an seinem Körper begann zu jucken. Das Fell wurde kürzer und es entstand eine Art Fuß aus dem Huf. Doch nur Sekunden später drehte sich alles um, er spürte, wie an seinen Beinen weiter harte Muskeln wuchsen und sein Schweif noch dichter und dichter wurde. «Nein, halt!»

Sie sah ihn an. «Tut mir leid, ich habe versucht, was ich kann. Aber ich fand dich so hässlich vorher, und ich musste immer daran denken, wie schön du sein könntest. Tut mir leid.» Sie blickte zu Boden und begann zu schluchzen. Er nahm sie in seine jetzt starken Arme und küsste sie.

Er nahm sie in seine jetzt starken Arme und küsste sie. «Also gut, verschönere mich, wie es dir gefällt.» Es war ja schließlich nur ein merkwürdiger lebendiger Traum.

Sie schloss kurz die Augen. Er wurde noch einmal fünf Zentimeter größer und seine Schultern wuchsen noch einmal um zehn Zentimeter in die Breite. Seine Arm- und Beinmuskeln hatten noch einmal kräftig zugelegt und die Hufe, auf denen er jetzt stand, hatte die Größe kleiner Teller. Aber er konnte sich ganz normal bewegen, sogar den Schwanz, wenn er sich konzentrierte.

«Ah, du siehst so toll aus. Bitte, und jetzt zeig mir deine Welt, bitte.»

«Von mir aus. Ich weiß zwar nicht, ob das geht. Aber vorher gibst du mir das Amulett, bevor noch mehr passiert.» Und bei sich selber dachte er: Was ist das ja nur ein seltsamer Traum.

Sie gingen hinaus. Draußen nieselte es immer noch. Doch es machte ihnen nichts mehr aus. Endlich mal eine neue Wendung. «Ich habe die Welt zu erst bei dem Steinkreis betreten, also sollten wird dorthin gehen.»

«Gehen wir.»

Vorsichtig machte er seine ersten Schritte auf Hufen. Doch es war bei weitem nicht so schwierig, wie er befürchtet hatte. Es war ein wenig, als ginge man auf Zehenspitzen. Aber schwierig war nicht das Gehen, sondern das Stehenbleiben. Langsam gewöhnte er sich daran. Fanny lief fröhlich voran. Über die Einfriedung der Schafweide sprang sie mit einem Satz. Er versuchte es auch und sprang viel höher und weiter, als er es je für möglich gehalten hätte. Dann rannten sie. Unter ihren Hufen flog die Landschaft dahin und bald waren sie schon an der Kultstätte.

«Weißt du, was das ist?»

«Nein, das war auch schon da, als wir kamen, sagen die Besucher.»

«Komm.»

Der Regen störte sie nun schon lange nicht mehr. Er setzte sich an einen Stein und nahm sie in seine Arme. Doch bald schon küssten und liebten sie sich. Da hörten sie fern etwas krachen und sie fielen fast auf der Stelle in den Schlaf.

 
Der kräftige und unheimlich laute Donnerschlag hatte ihn mit einem Mal wach gemacht. Nur wenige Augenblicke später fiel Fanny auf ihn und bohrte ihr Knie unglücklich in seine Bauchgegend. Obwohl sie nicht schwer war, hatte sie ihn so unglücklich getroffen, dass er nach Luft rang. Inzwischen krachte der nächste Donner, genauso laut wie der Erste. Das Gewitter musste direkt über ihnen sein. Zum Glück hatte er die Nacht nicht auf dem Grat verbracht.

Ein Blitz beleuchtete wieder Fanny, wie sie sich die Ohren zuhielt. «Was ist das für ein schrecklicher Lärm?»

«Das ist ein Gewitter. Habt ihr keine Gewitter?»

Es war eine rhetorische Frage. Sie hatte sich wieder ängstlich an ihn geklammert. Gemeisam warteten sie auf das Ende des Unwetters. Er kochte etwas Tee, während die Donner wieder leiser wurden. Als der Tee fertig war, wurde der Himmel im Osten bereits heller. Aber noch immer rauschte der Regen.

Sie wollte den Tee, so heiß wie er war, trinken und verbrannte sich die Zunge und fluchte. Doch nachdem er etwas abgekühlt war, trank sie ihn. Jetzt, wo langsam wieder das Tageslicht kam, sah er, wie dreckig sie waren.

«Fanny, auch du solltest dich waschen, dann gebe ich dir ein paar Sachen.»

«Waschen?»

«Ja man, du gehst in den Regen und seifst dich ab, hier, das ist Seife.»

«Aber du kommst mit und zeigst mir genau, wie Seife funktioniert.»

Sie gingen hinaus. Etwa zehn Meter neben dem Höhleneingang stürzte Wasser durch eine Felsrinne drei Meter über ihnen herab. Es war eine natürliche Dusche. Leider auch eine recht kalte, obwohl die Luft noch immer recht warm war. Vorsichtig gingen sie auf dem glatten Fels.

Sie zitterte vor Kälte, als sie wieder in die Höhle kam. Der Regen hatte gerade aufgehört und es war hell geworden. Er trocknete sie ab und suchte dann Sachen für sie heraus. Dann legten sie sich wieder in den Schlafsack. Müde schliefen sie jetzt. Das Amulett hatte er sicherheitshalber vorher abgelegt und im Rucksack verstaut.

 
Er erwachte erst, als schon hell war. Bald würde es aufreißen und die Sonne herauskommen. Er lag wieder in der richtigen Höhle. Er hatte diesmal nicht geträumt, zumindest konnte er sich an nichts erinnern. Und Fanny war nicht da. Also war er endlich aufgewacht. Er rollte sich aus dem Schlafsack und erstarrte.

Da, wo gestern abend noch seine Füße waren, war nun ein Paar Hufe. Und seitlich an seinen Beinen war wie bei Fanny Fell. Und er griff sich an den Hintern, er hatte einen Pferdeschwanz, alles schneeweiß. Erschreckt fasziniert starrte er diese fremdartigen Körperteile an, berührte sie, zwickte hinein. Sie waren zweifelos echt. Vorsichtig versuchte er aufzustehen. Es war nicht so schwierig, wie er befürchtet hatte, fast schon ein gewohntes Gefühl.

Beim Anziehen bemerkte er, dass seine Schultern breiter geworden sein mussten, seine vorher extraweiten T-Shirts passten obenrum gerade. Unten schlabberten sie wie gewohnt herum. Seine Hosen waren alle zu kurz, aber da lag noch die Lederhose, aus dem Traum.

Dann machte er Müsli. Da kam Fanny herein, nackig, und genau so, wie er sich ihrer erinnerte.

«Ich habe mir nochmal das Amulett genommen und wollte zu Hause vorbeisehen. Aber es hatte nicht funktioniert.»

«Das kann ich nicht gerade behaupten. Du hast mich schön verunstaltet. So richtig träumen kannst du wohl doch nicht?»

«Ich weiß nicht genau, wie das ist.», gab sie zu.

«Komm, du musst dir etwas anziehen.»

Während ihre Sachen von der Traumwelt trockneten, probierten sie einiges aus seinem Rucksack, denn das Amulett schien hier nicht zu funktionieren.

Seine längste Jeans passte ihr gerade, dazu bekam auch sie ein T-Shirt. Und dann sie aßen Frühstück. Erst jetzt wurde ihm gewahr, dass er nun bestimmt nicht mehr schlief und dennoch Fanny da war, mit ihren Hufen, den Zotteln und dem Pferdeschwanz, alles unter dem T-Shirt und der Jeans verborgen. Eine Traumgestalt saß neben ihm! Und er war ebenfalls eine Traumgestalt, leider. Andersherum wäre es schöner gewesen.

Die Wolken zerissen und die Sonne kam heraus und schien in ihre Höhle. Fanny klammerte sich an ihn. «Was ist das am Himmel? Es ist so grell und warm!»

«Hast du nie die Sonne gesehen? Das ist es, was den Unterschied von Tag und Nacht macht.»

«War das Gewitter eben Nacht?»

«Nein, Nacht ist wenn es dunkel wird. Alle zwölf Stunden geht die Sonne unter und zwölf Stunden später geht sie wieder auf. Das ist die Zeit des Schlafes.»

Fanny sah ihn fasziniert an. «Es ist alles so anders. Hier haben also unsere Altvorderen gelebt.»

«Aber sie sahen bestimmt normal aus, nicht wie wir jetzt.»

«Du bist doch der Besucher. Du meinst, hier sind alle wie du warst? Ich verstehe. Es ist fremdartig. Du musst mir so viel erzählen, wie die Welt hier ist.»

«Gerne. Ich werde unsere Geschichte versuchen zu erzählen. Frage, wenn immer dir etwas unklar ist.» Und er begann. Er erzählte und erzählte und sie fragte und fragte. Mittag war schon lange vorbei und es dämmerte schon, als er am heutigen Tag angelangt war, mit sehr vielen Auslassungen. Es war mehr ein Fragespiel, denn eine zusammenhängende Geschichte.

Er war heiser und müde. Nebenbei kochte er für sie Abendbrot. Fanny hatte erzählt, dass sie normalerweise alles roh aßen, selbst Blätter und Gras. Aber das Essen schien ihnen trotzdem zu bekommen.

Schweigend staunend beobachtete sie den Sonnenuntergang. Als die Sonne verschwunden war, meinte sie: «Jetzt weiß ich erst, dass man uns bestraft hatte. Aber es muss doch etwas schief gelaufen sie, dass man uns vergessen hat.»

«Die Zeiten ändern sich.»

«Aber du bist bei uns gewesen.»

«Im Traum. Und du bist zurückgekehrt. Insofern bist du meine Schöpfung, aber du denkst, dass du schon früher gelebt hast. Ich glaube das Amulett hat damit was zu tun.»

«Kommt mit! Legen wir uns zusammen in deinen äh»

«Schlafsack. Wie du willst. Bist du auch so müde?»

«Nein, aber vielleicht kann ich schlafen, wann ich will. Vorher habe ich das nie getan.»

Er breitete Isomatte und Schlafsack aus. Sie kuschelte sich von hinten an ihn.

 
Er wurde sacht von einem Kuss geweckt. Wenn er geträumt hatte, dann konnte er sich nicht erinnern.

«Oh, Fanny»

Sie stand schon angezogen vor ihm, mit der Lederhose und der weißen Bluse.

«Ich habe merkwürdig geschlafen. Und ich habe Erinnerungen, die keine sind.»

«Du hast geträumt, also gut geschlafen.»

Er gähnte, dann stand er auf und machte Müsli. Heute mussten sie aufbrechen, denn seine Vorräte waren alle. Er versuchte, ob sein Huf zur Tarnung in einen Wanderstiefel passte. Aber die Hufe waren viel zu breit.

Er packte alles zusammen. Es war klar, dass sie den Urlaub so nicht fortsetzen könnten, er zumindest nicht, also würden sie zu ihm in die Stadt fahren. So machten sie sich an den Abstieg. Er hatte leichte Probleme. Zum einen war es angenehm, dass er das Gewicht des Rucksackes nun kaum mehr spürte; aber ein Pferdehuf ist nun mal nicht für Klettertouren gemacht und er vermisste seine rutschfeste Profilsohle.

Als sie an eine fünf Meter breite Kluft kamen, da sprang sie einfach herüber. Er zögerte erst, dann warf er den Rucksack hinüber und probierte es auch. Es war toll, er konnte es kaum anders beschreiben.

Sie beeilten sich, denn es war schon später Nachmittag, als sie am Fuße der Wand standen. Er richtete ihren Weg so ein, dass sie bis zum nächsten Bahnhof durch keinen Ort mehr mussten. Sie kamen gut voran und als es dunkel wurde, waren sie am Bahnhof. Sorgsam achtete er darauf, dass ihre Hufe immer durch den Rucksack oder Schlafsack, den Fanny trug, und einer Wand oder einer Bank verdeckt wurden.

Sie hatten Glück und mussten nicht lange warten, ein Zug kam bald. Sie hatten jetzt zwei Stunden Fahrt vor sich, bis sie das erste Mal umsteigen mussten. Sie suchten sich ein leeres Abteil machten die Vorhänge zu. Das heißt, eigentlich tat er das alles und Fanny sah bei allem staunend zu.

«Es ist wie ein Wunder für mich, du musst uns für Barbaren gehalten haben.»

«Ehrlich gesagt, ich hatte auf Mittelalter getippt.»

Der Schaffner riss die Tür auf. «Fahrkarten» Er lochte sie und ging. Scheinbar hatte er nichts gemerkt. Sie waren erleichtert und streckten sich aus. Da wurde wieder die Tür geöffnet. Reflexartig nahm er seine Hufe von den Sitzen. Da sah er, dass in der Tür ebenfalls eine Frau mit Hufen stand. Er war sprachlos.

«Hallo ihr, ganz schön leichtsinnig. Ich bin Sarah.»

«Ich bin Fanny und dies ist Nils.»

«Wie lang seit ihr den hier?»

Nils hatte seine Sprache wiedergefunden: «Seit Bad Bernenburg, vor zehn Minuten»

«Ich meine mehr, auf dieser Ebene?»

«Ebene?»

«Na in dieser Welt.»

«Seit gestern abend und immer, seit meinem Geburtstag vor knapp fünfundzwanzig Jahren.»

«Dann lebst du hier? Es ist immer seltsam, wenn man bedenkt, dass alle Leute in einem Traum hier wirklich leben.»

«Wem sagst du das! Fanny habe auch erst im Traum kennengelernt und sie ist hierhergekommen. Moment, dass heißt, du schläfst jetzt gerade?»

«Was denn sonst?»

Fanny mischte sich wieder ein: «Wenn du aufwachst, dann würden wir bei dir sein?»

«Ja. Aber wo kommt ihr her?»

«Ich hatte ein Amulett gefunden, was mir im Traum Zugang zu ihrer Welt verschaffte. Fanny ist dann mit mir zurückgekehrt. Dann wollte sie ihre Leute besuchen und schlief mit dem Amulett. Sie träumte mich so, wie ich jetzt bin.»

«Es gibt also eine Ebene tiefer. Das muss die alte Verbannung gewesen sein. Seltsam, dass das Amulett hier blieb.»

«Ich habe eine Idee. Die Alten kamen zuerst in diese Ebene, sahen aber, dass sie bewohnt war und zogen weiter. Dabei mussten sie immer durch diese Ebene. Eines Tages fanden Mönche sie schlafend. Angesichts deren Macht, und weil sie keine Götter sein durften, waren sie vielleicht Hexenmeister und mussten getötet oder verbannt werden.»

«Das ist eine sehr interressante Theorie. Aber vielleicht gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Kann ich das Amulett haben?»

Er gab ihr das Amulett. Sie betrachtete es lange und hing es sich um den Hals. «Es ist sehr seltsam, dass das hierher kam. Ich werde einiges korrigieren müssen, denke ich. Fanny, du musst zurück oder mit mir mit!»

«Warum hast du ihr das Amulett gegeben? Ich will bei dir bleiben.» Sie klammerte sich an Nils.

«Dann musst du so werden, wie hier alle. Und auch Nils muss so werden. Denn Nils darf ich nicht mitnehmen. Also ihr bleibt hier. Es wird ein wenig kribbeln.»

Und damit spürte Nils wieder das Jucken und Prickeln wie beim letzten Mal. Zuerst wurden aus den Hufen wieder langsam Füße. Fanny hatte wieder den Blick, als er ihr Ziegenhörner verpasste hatte. Doch plötzlich schnellte sie vor und warf Sarah um. Das Kribbeln hörte auf und Sarah verschwand.

Er besah sich das Ergebnis. Sarah war noch nicht weiter, als zu den Füßen gekommen, zotteliges Fell war an den Beinen und der Pferdeschwanz lugte immer noch hervor. Fanny starrte auf ihre Füße, zwickte hinein, lief probeweise. «Sie sind so seltsam weich und verletztlich.»

Freundlicherweise war die Schuhgröße nahe seiner alten und er zog sich wieder Schuhe an. Für Fanny hatte er zwei Paar Socken, dann passte auch ihr sein zweites Paar. Der Pferdeschwanz passte ganz in die Hose.

Sie sahen nie wieder zwei einzelne Hufe.


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