Nebenwirkungen von Markus Pristovsek


Er war spät dran. Um halb fünf hatten sie sich am Bahnhof verabredet -- das wäre in fünf Minuten, und so radelte er recht flott. An dem Waldstück, wo die Straße eine scharfe Rechtsbiegung machte, stand plötzlich jemand auf dem Radweg, der links von den Rückseite der Leitplanke der Straße und Laternenpfählen sowie rechts von einer Buschreihe begrenzt wurde. Er bremste scharf, doch auf dem feuchten Herbstlaub rutschte sofort das Vorderrad weg und er kam zu Fall und schlitterte gegen einen Stützpfeiler der Leitplanke.

Als erstes fluchte er laut. Dann stand er wacklig auf, bereit den Idioten, der daran Schuld hatte, zur Sau zu machen. Doch es war weit und breit niemand zu sehen. Nur seine Kopfschmerzen waren wieder da. Seine Tabletten waren leider in einer Außentasche gewesen und stark gequetscht worden. Nur zwei Tabletten hatte er noch. Routiniert schlucke er eine; ohne Wasser schmeckten sie einfach nur salzig.

Eine halbe Minute später besah er sich den Schaden; ein paar Dreckflecken auf der Hose, ein Loch in der Socke am Knöchel (und dort auch ein paar Abschürfungen), nichts Ernstes. Das Fahrrad hatte es schon schlimmer erwischt: Das Vorderrad war verzogen, so stark, dass es sich nicht mehr drehen ließ. Noch ein Fluch, der natürlich nichts änderte. Es sollte ja nur ein verlängertes Wochenende werden, also trug er das Rad ein Stück in den Wald hinein und schloss es dort an einem Baum an.

Am Bahnhof war er dennoch zu spät. Aber sie hatten eine Nachricht in Form eines Zettels neben den Fahrplan geklebt; und schließlich kannte er ja die Jugendherberge in Neuenfels. Der nächste Zug ging allerdings erst in anderthalb Stunden; mit etwas Glück jedoch könnte er es trotzdem noch heute Abend nach Neuenfels schaffen.

Aber heute schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. Der Zug war kaum eine halbe Stunde unterwegs, als sie auf offener Strecke hielten. Draußen tobte ein Schneeregensturm. Der Schaffner, den er fragte, konnte ihm immerhin sagen, dass vor ihnen auf der Strecke ein Baum auf die Oberleitung gefallen war. Dass es aber bestimmt eine Stunde dauern würde, wie der Schaffner vermutete, machte ihm keinen Mut. Immerhin war es hier drinnen warm und hell, während draußen der Sturm den Schneeregen gegen die Fenster trieb.

Lustlos aß er ein kleines Abendbrot, während die Zeit dahinschlich. Er döste etwas, als die Tür des Abteils aufgezogen wurde. Jemand stand in der Tür, eine junge Frau, vielleicht zwanzig, auf keinen Fall aber älter als er selbst.

«Hallo Michael», sagte sie.

Sie kannte ihn? Irgendwie kam sie ihm auch bekannt vor, andererseits kannte er keine, die sich die Haare weiß-rot färben würde. Und noch etwas anderes war an ihr war merkwürdig, doch je stärker er nachdachte, umso stärker wurden wieder seine Kopfschmerzen. Er schüttelte leicht den Kopf, doch das verstärkte sie nur.

«Hallo, es tut mir Leid, ich erkenne dich nicht. Gib mir einen Hinweis, hm?», fragte er und massierte sich die Schläfen. So entging ihm ihr Antwort. Wieder kamen die Schmerzen.

«Es tut mir leid, ich muss kurz eine Tablette nehmen», entschuldigte er sich. Doch als er wieder aufsah, war sie verschwunden und die Tür geschlossen, dabei hatte er bestimmt keinen Blackout gehabt. Er sah auf die Uhr, aber es war höchstens eine halbe Minute vergangen.

Natürlich war er neugierig, wer sie nun eigentlich war. Unter dem Vorwand, sich bei ihr zu entschuldigen, trat er auf den Gang. Also öffnete er die Tür und sah auf den Gang: Niemand. Also ging er zum Klo, dann zum anderen. Doch der Wagen war fast leer, die Unbekannte war nicht mehr zu sehen.

Kurze Zeit später ging es endlich weiter.

Doch es war zu spät; um halb zehn war der letzte Zug nach Kaltenbrunn/Neuenfels abgefahren. Der nächste ging um sechs Uhr morgen früh, in sechseinhalb Stunden. Also suchte er sich ein nicht allzu zugiges Plätzchen in der großen Halle des Kopfbahnhofes, wo er die Nacht verbringen musste bis morgens sein Zug gehen würde. Schließlich fand er es an der Treppe zu ersten Etage.

Müde döste er, fest in den Schlafsack gewickelt, vor sich hin. Mit einem Auge betrachtete er den Zug am anderen Ende der Halle, der Lärm drang nur gedämpft herüber. Menschen waren keine zu sehen, nur ein Lokführer hatte sich gelangweilt aus dem Fenster gelehnt.

Neben ihm zischte ein Rohr, aus dem Dampf entwich. Überall in der Halle gab es diese Fahnen, die über den Heizungsanschlüssen und Weichenheizungen lagen. Er versuchte, die sechs Stunden, die er warten musste, zu verschlafen. Doch die Kälte und die Angst, den Zug zu verpassen, ließen ihn keine rechte Ruhe finden.

Jede Minute knackte es in der großen Uhr direkt über ihm und der Minutenzeiger rasselte krachend eine Position weiter. Manchmal schienen Ewigkeiten zwischen den Minuten zu liegen, doch wenn er, von dem Geräusch aufgeschreckt, wieder nach oben sah, waren es vielleicht fünf Minuten. So schlief er sich eher müde.

Wenn er die Ansage eben richtig verstanden hatte, dann wurde jetzt der letzte Zug des heutigen Tages abgefertigt. Um 2h17 würde dann mit dem Oslo-Ekspress der erste Zug des neuen Tages einfahren. Und dann wären es nur noch vier Stunden. Die zwei Türen des letzten Zuges schlossen sich und der Zug dröhnte der Ausfahrt entgegen. Kurz darauf krachte auch der Stundenzeiger. Mitternacht.

Wieder war er von einem Geräusch geweckt worden und lag wach, müde und zitterte vor Kälte. Vor zehn oder mehr Minuten ratterte draußen eine Lok vorbei, das war alles. Er hatte sich in seinen dicken Schlafsack gewickelt. Doch die Kälte verhinderte einen richtigen Schlaf und so dämmerte er dahin.

Dann kamen die Kopfschmerzen wieder. Aus Reflex griff er wieder zu dem Tablettenröhrchen. Doch es war leer, nach dem Unfall waren es nur noch zwei und er hatte vergessen, sich neue zu holen. Er stöhnte und lehnte sich zurück. Da sah er, wie durch die Nebelfahnen jemand vom Gepäckbahnsteig zu ihm kam. Es war wie in diesen billigen Actionfilmen, wenn der Retter durch tiefen Nebel watet und schließlich aus einer Rauchwolke herausstieg. Doch diesmal war es kein Terminator, auch war es live. Und er brauchte eigentlich nur ein paar neue Tabletten und etwas Schlaf.

Er traute seinen Augen nicht. Es war die von vorhin, mit den rotweißen Haaren aus dem Zug. In dem orangenem Licht der Natriumdampflampen der Halle wirkten die Haare zwar fast rotbraun, doch es bestand kein Zweifel, sie war es. Sie trug ein T-Shirt, was grün oder dunkelbraun sein mochte, der Rest war vom Dampf verdeckt. Dann nahm ihm wieder eine Schmerzattacke für einen Moment den Atem.

Als er wieder aufsah, erstarrte er. Wie konnte er nur so blind gewesen sein? Es war überdeutlich, was mit ihr nicht stimmte: Es war kein Mensch, der dort auf ihn zukam. Bis zur Hüfte war sie Mensch. Doch sie lief auf vier Tatzen, dem Körper eines Tigers nicht unähnlich, das Fell in der gleichen Farbe wie ihre Haare. Schließlich war sie bei ihm.

«Nun Michael, erkennst du mich?» Ihre Stimme war ganz normal.

Michael schüttelte gebannt den Kopf. <Was bist du?>, hätte er am liebsten gefragt. «Wer bist du?», flüsterte er anstatt.

«Ich bin Kira», sagte sie. «Ist dir nicht kalt?»

Natürlich war ihm nicht allzu warm. Aber Kira hatte doch nur ein T-Shirt an.

Sie wartete erst gar nicht auf seinen Antwort, sondern legte sich dicht neben ihm, ihren Oberkörper aufgerichtet. Zitternd nahm er eine Hand aus dem Schlafsack und fuhr über die Raubkatzenkörper. Er fühlte warmes, flauschiges Fell. Er schüttelte sich, doch dann kam wieder eine Schmerzattacke.

Sie sah ihn besorgt an: «Was hast du?», fragte sie.

«Kopfschmerzen!», presste er hervor. Verdammt, warum hatte er nicht vorher an die Tabletten gedacht. Aber es musste doch auch hier eine Nachtapotheke geben. Sollte er dieser Halbraubkatze trauen? Bei dem Gedanken musste er lachen. «Kira, kannst du auf meine Sachen aufpassen? Ich bin gleich zurück.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf, wäre fast wieder hingefallen. Nach einem Moment war die Welt wieder stabil. Unsicheren Schrittes ging er zur Bahnhofsapotheke, entzifferte dort die Liste der Nachtapotheken und dann den Stadtplan. Nur eine Querstraße weiter war die zuständige Nachtapotheke. Er sah noch einmal zu Kira, sie immer noch bei den Sachen saß/lag und stemmte dann die Tür auf. Immerhin regnete es jetzt nicht, es hatte aufgeklart und war kalt geworden.

Er lief flott wegen der Kälte, die dunklen Straßen fürchtete er nicht. Die Apotheke war gleich an der Ecke. Sie hatten auch sein Medikament. Doch das sei rezeptpflichtig, schließlich fiel das Präparat unter das Betäubungsmittelgesetz. Als ob er das nicht gewusst hätte! Er zeigt dem Apotheker das leere Röhrchen und war schon drauf und dran, ihm seine ganze Krankengeschichte einschließlich der medizinischen Termini um die Ohren zu hauen, als ihn eine weitere Attacke traf. Diese überzeugte den Apotheker. Mehr als dreißig Mark kostete es auch noch, fast seine ganze Bargeldreserve. Also ging er noch zum Geldautomaten.

Dann endlich war er wieder in der Halle, vom Kopfschmerz befreit und auch von den Morphinen beflügelt. Jetzt war er zu allen Schandtaten bereit. Er pfiff sogar und sprang fröhlich über einen Hundehaufen.

«Hallo Kira, na was ... » Er brach ab, denn die Halle war leer. Seine Sachen waren noch da, aber ansonsten war die Halle leer. Er prüfte schnell den Rucksack, aber es fehlte nichts.

Jetzt, ohne die Schmerzen, funktionierte auch wieder das Gehirn. Er suchte den Boden nach irgendwelchen Spuren ab; der Kater, den er als Kind hatte, hatte immer Haare hinterlassen. Doch hier war nichts. Dann fielen ihm die Tabletten ein. Den Beipackzettel hatte er schon so oft gelesen, dass er daran nun wirklich nicht mehr gedacht hatte. Denn eine der deutlichsten Nebenwirkungen waren doch euphorische Zustände. War das nur eine Halluzination gewesen? Oder eine Entzugserscheinung? Aber von Entzugshalluzinationen hatte er noch nie gehört.

 

Irgendwann war es dann auch 6h13 und der Zug nach Ottendorf mit Halten in Remarken, Karenberg, Viererburg, Jebenwalde, Härtendorf und Kaltenbrunn fuhr ab. In dem gut geheizten Abteil schlief er sofort ein, erst der Schaffner weckte ihn in Kaltenbrunn. Müde trat er aus dem Zug, der schwere Rucksack drückte ihn.

Er machte sich vom Bahnhof auf den Weg ins Morgendunkel. Es war noch windig. Der Sturm hatte die Wolken über Nacht vertrieben, es war deutlich unter Null. Die Dämmerung zeigte sich erst schwach. Der Bahnhofsvorplatz wurde von fahlen mondlichtfarbenen Quecksilberbrennern erleuchtet, die ihr bläuliches Licht in den gefrorenen Pfützen spiegeln ließen.

Der Bahnhof war außerhalb, Kaltenbrunn lag über den Kamm herüber. Doch es war eh nicht sein Ziel und so bog er nach kurzem Weg in das Dunkel ab, einem Waldweg nach Karte folgend. Bald war der Wald zu Ende und es begann, heller zu werden, einen herrlichen Morgen ankündigend.

Die Wiesen waren mit Rauhreif belegt. Und während er den einsamen Bahnhof hinter sich ließ und den Höhenweg die Hügel entlang wanderte, stieg die Sonne höher und begann zu wärmen. Es würde wohl einer der letzten schönen Oktobertage werden.

Fröhlich begann er zu pfeifen, etwas was er überhaupt nicht beherrschte und deshalb nur tat, wenn niemand ihm zuhörte. Das Laufen weckte ihn endgültig auf. Die Natur zeigte sich berauschend in ihren Gegensätzen: in kalten schattigen Waldstücken knirschten die frostigen Blättern unter seinen Füßen; auf sonnigen Wiesen murmelte das alte Gras vom verschwundenen Sommer, wenn der Wind darüberstrich.

Es waren zwölf Kilometer Luftlinie zu seinem ersten Ziel, der Jugendherberge von Neuenfels. Vielleicht hätte er es auch per Anhalter versuchen können oder den dreimal täglich verkehrenden Bus nehmen können, doch er genoss jeden Schritt, das Jahr drängte heraus, es war ein intensives Abschiednehmen von Grün und Wärme.

Zur Zeit führte der Feldweg aus einer grünen Wiese wieder in ein Waldstück. Er holte tief Luft. Die kalte klare Luft tat gut, auch half sie bestimmt gegen die Kopfschmerzen. Verdammt, er hätte gar nicht daran denken sollen, denn prompt kehrten sie zurück. Er setzte den Rucksack ab, um aus der Seitentasche die Tabletten zu holen.

«Michael, warte!»

Er erstarrte. «Kira?» Er drehte sich langsam um. Es war tatsächlich Kira, so wie er sie aus der Bahnhofshalle in Erinnerung hatte, einschließlich des Tigerunterleibes mit den vier Tatzen. Und sie war rot-weiß getigert, Unterleib und Haare. Das T-Shirt war auch dasselbe, ein neutrales grünes T-Shirt, augenscheinlich ihr einziges Kleidungsstück.

Er hatte sich erholt. «Ok, es ist Tag, ich bin munter, ich stehe mitten in Deutschland und neben mir steht -- Also Kira, was bist du?»

«Ach Michael, was soll ich schon sein?»

Er war einen Moment sprachlos. «Los, komm her, lass dich anfassen.»

Sie gehorchte. Vorsichtig streckte er seine Hand aus und berührte ihr weiches rot-weißes Fell. Er strich über den gesamten Rücken bis zum Schwanzansatz. Sie kicherte dabei. Dann kniete er sich hin und hob ihre linke Vordertatze hoch, auch das ließ sie willig über sich ergehen. Die Tatze war feucht und etwas dreckig, wie man es von einer Tatze erwarten würde, die eine längere Strecke gelaufen war.

Er stand wieder auf: «Also, was bist du denn nun?»

«Was soll ich denn sein?», antwortete sie schon wieder. «Was bist du denn?»

Er wurde wütend. «Ich? Nun, ich bin ein Mensch. Zwei Beine, zwei Arme. Wie alle Tiere auf diesem Planeten.» Er verstummte. War das jetzt ein Fall für die Men in Black? Eine weitere Schmerzattacke ließ ihn taumeln, bis er an einem Baum Halt fand.

Er beugte sich wieder zum Rucksack.

Ihre Hand fasste ihn am Handgelenk. «Bitte» Sie sah ihn flehend an. «Bitte, tu es nicht!»

«Verdammt, Kopfschmerzen und Entzugserscheinungen. Wie soll ich das sonst aushalten? Du musst mir schon einen guten Grund geben.»

«Ich», sagte sie. «Bin ich kein Grund? Bitte, keine Tablette.»

Er schüttelte unmerklich den Kopf. «Kein Grund. Wieso» Wieder kam der Schmerz, etwas schwächer aber. Die Attacke schien abzuklingen, schneller als sonst. Vielleicht lag es an der frischen Luft. «Ok, ich will aber eine Erklärung», sagte er.

Kira nickte, hob ihm dann den Rucksack hoch. Er schulterte ihn wieder und ging dann weiter. Kira trotte neben ihm her, sprang geschmeidig über eine Pfütze.

Noch einmal hatte er eine Attacke, aber sie war schon sehr schwach. Er blieb nicht einmal mehr stehen. Er drehte sich zu Kira: sie war immer noch neben ihm. «Ok, Kira, bitte, jetzt möchte ich endlich wissen, was du bist? Und warum bist du hier? Und ... »

«Ja, natürlich», unterbrach sie ihn. «Du hast Recht. Also ich bin dei»

Sie brach ab, wie ein Kassettenrekorder, den man ausschaltet, ganz abrupt. Er drehte sich zu ihr, doch sie war verschwunden. Weiter vorne sah er die Waldarbeiter, war das der Grund?

Die Waldarbeiter errichteten gerade einen Zaun um eine neue Schonung. Da es eh auf neun Uhr zuging, nutzten sie sein Erscheinen und machten eine zweite Frühstückspause. So kam er in den Genuss von heißem Kaffee und einer Boulette im Tausch gegen etwas Schokolade. Sie erklärten ihm einen besseren Weg, denn der, den er ursprünglich gehen wollte, wäre zur Zeit weiter unten am Kriebach eine Schlammwüste. Und für das Wochenende war schönes Wetter angesagt.

Eine gute halbe Stunde später verabschiedete er sich wieder von ihnen.

Die Waldarbeiter waren außer Sicht- und Hörweite. Fröhlich und festen Schrittes wanderte er los, als neben ihm ein Ast knackte. Er fuhr herum. Es war Kira, die auf dem eben noch menschenleeren Weg stand.

«Verdammt, was soll das? Bist du ein Pumuckl?», herrschte er sie an.

Sie sah ihn verdutzt an. «Was?» Dann lachte sie und schüttelte den Kopf. «Nein, ich bin kein Kobold. Gibt es die überhaupt?»

«Wie kannst du das frag» Er hielt inne. «Du bist doch verschwunden, einfach so, eben? Oder?»

«Nein, ich war die ganze Zeit da. Wie soll ich sagen ... » Sie schüttelte wieder den Kopf. «Warte», unterbrach sie ihn, bevor er überhaupt etwas gesagt hatte. «Sagen wir so: Du siehst mich, wenn du du selbst bist.»

Jetzt war er sprachlos. Er er selber? «Das ist doch gequirlte Scheiße!», entfuhr es ihm. «Was soll ich denn sonst sein? Mein Bruder etwa?»

Sie seufzte. «Es ist sehr einfach: Wenn du mit anderen zusammen bist, dann spielst du jenen etwas vor. Du bist dann derjenige, der du sein willst.»

«Ach ja? Und jetzt, jetzt bin ich plötzlich ich selbst?»

«Ich durchschaue dich jetzt.»

Er war skeptisch, dass hieß, er hielt es immer noch für Blödsinn. «Und wieso bist du dann am Bahnhof verschwunden?»

«Noch schlimmer sind die Tabletten, die verändern dich total.»

«Klar, sonst wäre ich schon längst ein sabberndes Wrack.»

«Nein!», sagte sie mit alle Entschiedenheit. «Genau das denkst du, und das ist falsch.»

«Toll, eine, was auch immer du für eine Spezies bist, versucht Psychiater zu spielen, bei einer völlig anderen Spezies. Oder verwechsle ich etwas?» Dann kam wieder eine Attacke und er ging in die Knie.

Als er wieder zu sich kam, hielt sie ihn gestützt. Sie musste recht kräftig sein. «Bitte, ich fürchte, ich habe alles falsch angefangen. Eine letzte Chance, bitte. Weißt du, wir sind keine andere Spezies. Du bist wie ich, wir sind, wie soll ich sagen, komplementär. Willst du nicht mitkommen?»

Er befreite sich aus ihrer Umarmung. «Mitkommen? Wohin? Ach, was soll's. Eine Tablette, und es ist vorbei.»

«Nein!», rief sie und sprang ihn an. Er taumelte und fiel hintenüber auf den Rucksack. Sie stand jetzt über ihn. Doch sie griff nicht weiter an, stattdessen beugte sie sich vor, legte ihre Hand unter seinen Kopf und küsste ihn. Es war merkwürdig, fast automatisch erwiderte er. In der Magengegend begann dieses merkwürdige Kribbeln, so intensiv diesmal, dass es fast wehtat.

Dann richtete sie sich wieder auf. «Verstehst du jetzt?», fragte sie.

Ihm war noch immer schwindlig, wenn auch nicht wie nach einer Attacke. Sie gab ihm eine Hand. Er versuchte aufzustehen, machte jedoch vor Schreck einen Dreimetersprung nach hinten. Mit zitternden Händen fuhr er an sich herunter: Er war jetzt wie Kira, von der Hüfte an Tiger, das Fell ebenfalls rot-weiß getigert. Er spürte es, sogar bis zur Schwanzspitze. Er warf den Rucksack förmlich vom Rücken und riss die Tabletten heraus.

Kira machte einen Satz auf ihn zu und mit einer schnellen Handbewegung hatte Kira die Tabletten. «Die werden dich jetzt töten», rief sie.

«Verdammt, das sagt mein Arzt auch immer.» Zitternd inspizierte er sich. Dann wurde er ruhiger. «Kira, was hast du getan?»

Sie trat vor ihn, nahm ihn in ihre Arme, streichelte seinen Kopf. «Komm, lass uns gehen.»

Mit einer schnellen Handbewegung hatte er die Tablette Kira wieder entwendet und floh jetzt mit kraftvollen Sätzen vor ihr her. Schnell nahm er eine Tablette aus dem Röhrchen, während Kira noch laut schrie. Doch er war schneller.


Zum Glück waren die Waldarbeiter um dreiviertel Zehn fertig. Natürlich war der auf den Boden liegende Körper mit der zerfetzten Hose nicht zu übersehen. Die Spuren rings herum waren auch bei einem Angriff von einem Wolfsrudel. Aber war er unverletzt, nur bewusstlos. In der Hand hatte er ein Tablettenröhrchen. Also nahmen sie ihn mit.

Der Arzt im Krankenhaus war ratlos. Er war gesund, von dem Anfallsleiden abgesehen, und er hatte keine Überdosis gehabt, seine Blutwerte waren Ok. Warum erwachte er dann nicht aus dem Koma?


Zurück zum Inhaltsverzeichnis oder zur Homepage.