kentaur -Träge fließen die Tage von Markus Pristovsek


Teil 1
Aus der Vergangenheit ...

All ... ... und Erde Gäste Unterwegs Burns

Teil 2
... durch die Gegenwart ...

Kinder & Fohlen Flickers Auszug Nachtzentaur Verschiedene Sire Aufruhr

Teil 3
... ein Aufbruch ...

Frieden Aufbruch
Von den Sternen Geborener
kehrst zu den Sternen du zurück.
altindischer Wede

All...

Es war 2024 als die Wissenschaft eine praktische Anwendung des Hawking-Effektes entdeckte: Die Verwandlung von Masse zu fast 70 % in Energie mit der Hilfe eines winzigen Schwarzen Loches. Leider war das Risiko, die Erde so in ein Schwarzes Loch zu verwandeln und dabei natürlich alles Leben auszulöschen, ziemlich groß, was trotz der Verheißung von Energie im Überfluss eine Anwendung auf der Erde verhinderte: die Weltraumfahrt wurde wiederbelebt, Energiesatelliten errichtet. Es kam gerade noch rechtzeitig, um die Verteilungskriege um die letzten Uran- und Ölreserven zu beenden. Sie wurde nicht gerade ein Paradies, die Erde -- wann war sie das je -- aber wieder einmal durchaus erträglich.

Nachdem die Unruhen abgeflaut waren, konnte man sich wieder sinnloseren Dingen als dem Kampf um die letzten Rohstoffe und Lebensmittel zuwenden -- zumindest in den reicheren Industrieländern. Aber selbst dort sah man der Zukunft nicht zu erwartungsvoll in das Gesicht, und so wurde beschlossen, die nun mögliche Expedition zu fremden Sternen zu wagen, den Samen der Menschheit im All auszusäen (oder wenn, dann dafür grandios unterzugehen, wie andere sagten).

Es waren fünf Schiffe, die letztlich die Erde verließen, gerade die ärmsten Völker zuerst. Den Anfang machte das Schiff der Chinesischen Union, Wun-Ti: Ein riesenhaftes Schiff, 250 Leute waren an Bord. Als nächstes kam das Schiff der Russen Mir dlja Kosmosa -- Friede dem All (Man konnte es auch ,,Die Erde dem All" übersetzen). Vier Leute schickten sie los, während Millionen an Hunger starben. Die Tigerstaaten hatten zusammen mit den Japanern ein beeindruckendes Schiff gebaut. 22 Leute stellten die Besatzung, doch wenn es überhaupt eine der Kolonien schaffen sollten, dann die der Tigersprung. Eine wahre Arche war das Schiff, es kamen viele Tier- und Pflanzenarten mit.

Die Nordamerikaner stellten die Enterprise. Das Schiff sollte nicht nur Kolonien gründen, es sollte auch das All erforschen. Es hatte eine sich selbst erneuernde Umwelt, mit sporadischer Versorgung mit Wasser und Sauerstoff und Stickstoff sollte es fast 1000 Jahre durch das All ziehen und dort, wo es geeignete Bedingungen gab, Kolonien gründen. Damit das Unternehmen Erfolg hätte, war Größe wichtig, und so war die Enterprise für tausend Leute Besatzung ausgelegt.

Als letztes verließ 2041 das Schiff der vereinigten Räte der Länderbünde von Nord-, Mittel- und Osteuropa sowie der britischen Inseln die Erde: Die Dädalus. Man hatte sich nicht über Aufgaben und Größe einigen können. Schließlich einigte sich man auf den kleinstmöglichen Kompromiss: Das Schiff war letztlich kaum größer als ein Shuttle. Fünfzehn Jahre Eigenzeit an Forschung war der Auftrag. Dennoch war eine Frau und ein Mann an Bord.


 
Er war schon Routine, der Flug zu den Sternen. Außerdem war nach der Enterprise die Dädalus wirklich eine Enttäuschung. Ausgerechnet der reichste Verbund hatte nicht mehr als dieses Alibi-Schiff zustande gebracht. Er selber sah es zwar etwas anders, aber schließlich war er der Pilot. Seine Frau Raissa war die Kommandantin.

Von den Liveinterviews hatte man sie vor vielen Wochen abgeschirmt, nur noch sterilisierte Kameras und Netzinterviews waren möglich. Seit einer Woche kam niemand mehr ohne Raumanzug zu ihnen, die nächste Woche würden sie ganz und gar einsam verbringen -- ein Vorgeschmack auf die Reise.

Nicht das er es bedauert hätte, schließlich waren er und Raissa ein Paar. Sie hatten sich während eines Polarwinters in der Arktis kennengelernt. Das hatte für die Psychologen wahrscheinlich den Ausschlag gegeben. Raissa war Geophysikerin, doch ihre Kenntnisse in allgemeiner Relativität waren begrenzt. Jacko hatte gar keine; dafür verstand er sich ausgezeichnet mit Elektronik und würde so manch kaputtes Gerät zusammenflicken können. Doch was wirklich ihre Auswahl bestimmt hatte, die Psychologen hatten es nie verraten. Vielleicht gab es einfach nur zu wenig Freiwillige?

Raissa sprach manchmal verächtlich von den Feiglingen. Vielleicht hatte sie recht, aber Jacko fühlte sich nicht gerade als Held. Doch egal warum, sie würden in einer Woche die Station verlassen. Eine Woche und die Reise zu den drei Systemen Ross 4713, HD 44 117 und tau Ceti (falls möglich) würde beginnen, dorthin wo noch nie ein Mensch war, und, wenn sie sich nicht als verheißungsvoll herausstellen würden, auch nie wieder ein Mensch hingelangen würde.

Die ersten beiden Sterne waren vom Spektraltyp ähnlich der Sonne, K0 und G5 und hatten einen Begleiter von dreifacher beziehungsweise zweifacher Jupitermasse auf einer Umlaufbahn vergleichbar mit der des Jupiters im Sonnensystem. Weitere Planeten wurden dort vermutet.

Nichts war ohne Risiko: Wenn es sich herausstellte, dass sie nirgendwo in einem der Systeme Wasser oder Methaneis oder etwas Ähnliches bekommen würden, dann wäre ihre Reise dort zu Ende. Die Wissenschaftler hatten aber das Risiko dafür zu 1:400 abgeschätzt. Als viel größer (1:120) wurde das Risiko angesehen, bei nahezu Lichtgeschwindigkeit mit einem winzigen Meteoriten von vielleicht einem Gramm zusammenzustoßen, oder dass das winzige Schwarze Loch des Antriebes sich selbst zerstrahlen oder verloren gehen würde (1:100). Andererseits war das Risiko, im zu Ende gehenden Kohlebergbau mit fünfzig zu sterben, bei 1:5. So betrachtet, waren ihre Chancen höher, zumindest 50 zu werden.

Seit neun Wochen lebten sie jetzt auf ihrer eigenen Miniaturraumstation, trainierten für ihren Flug. Zur Zeit hatten sie hier 1,8 und bis auf zweifache Erdbeschleunigung würden sie die Rotation noch steigern. Schwer genug war es bereits jetzt, doch langsam gewöhnten sie sich etwas daran. Ihren ganzen Flug würden sie mit zwei g während der Wachphasen beschleunigen, dann sollten sie sich in die Kompensationstiefschlafbäder begeben. Dort könnten sie dann jeweils zehn Tage verbringen. Nach Plan sollten sie alle fünf Tage wechselseitig wach werden. Wenn sie schliefen würden sie mit fünf g beschleunigen. Durch das alles würde eine bei zwei g sonst sechsjährige Reise nur subjektiv zwei Monate dauern. Auch waren sie in den Wasserbädern wesentlich besser vor der harten Strahlung geschützt, die gerade bei den hohen Geschwindigkeiten bedrohliche Werte annehmen könnte.

 
Endlich waren sie weit genug von der Station entfernt. Raissa saß links von Jacko im Kommandantensessel und hackte auf der Tastatur herum. Er kümmerte sich um die Dokumentation, außerdem bediente er die Scanner; am meisten beschäftigte ihn allerdings der zunehmende Brechreiz.

«Wir zünden in einer Minute.»

Bleich nickte er Raissa zu: «Auf geht's!»

Das Funkgerät meldete sich: «Wünsche euch alles Gute ihm Namen der Erde. Und natürlich auch von allen aus dem All. Möge die Macht mit euch sein!»

«Ich werde eure Urururgroßenkel grüßen können. Letzte Möglichkeit für Botschaften an sie.»

«Immer schön auf Papa hören und die Füße waschen hörst du?»

Sie lachten zusammen. Dann begann der Countdown. Jede Zahl kam nach einer halben Sekunde leise in den Hintergrundgeräuschen von der Kontrollstation zurück. Er verfolgte die Startprozedur auf seinem Pult mit. Eine Anzeige nach der anderen wurde Grün, während der Schub beständig zunahm. Sehr langsam wuchsen die Ziffern auf den Flussreglern. Druckanzeigen liefen hoch. Die zwei Hochdruckpumpen der Hydraulik summten ein wenig, als sie ausgeschaltet wurden. Ansonsten war es merkwürdig still, so still, dass man selbst den Schiffsrumpf knacken hörte, wenn der Schub wieder einmal etwas schwankte. Dem Andruck entsprechend hatte er ein Donnern und Grollen erwartet. Doch die Photonen, die Lichtteilchen, die sie schoben, waren lautlos. Nur das leise Zischen des Wasserstoffes in den Leitungen und aus den Ventilen war vom Antrieb zu hören. Wäre nicht das grellweiße Licht hinter ihnen gewesen, sie hätten immer noch auf der Station sein können.

Als auch nach einer halben Stunde immer noch nichts Unvorhergesehens geschehen war, legten sie ihre Gurte ab. Nach der Aufregung des Startes verlangte es ihm nach einem Mittagessen. Die frischen Vorräte würden bald aufgebraucht sein; solange etwas da war, solange würden sie bestimmt nicht in den Tiefschlaf gehen.

Es waren drei Tage bis ihre Vorräte an frischem Gemüse, Milch und Eiern aufgebraucht waren. Sie standen weit hinter Uranus, ein Funkspruch dauerte schon Stunden bis zu seiner Beantwortung. Raissa ging als erste in Tiefschlaf, zunächst für vier Tage. Morgen würde er folgen, dann für acht Tage. So würden sie jeder knapp zwei Monate erleben, mal gemeinsam, mal getrennt, bis sie ihr erstes Ziel erreichen würden.

Langsam begannen die drei Zeitrechnungen auseinanderzulaufen: Da gab es die subjektiven Tage, von Wachzeit zu Wachzeit. Dazwischen lagen oft drei bis acht echte Tage Schiffszeit Tiefschlaf, die aber nur wie eine Nacht empfunden wurden. Und je schneller sie wurden, desto langsamer würde die Schiffszeit im Vergleich zur Erdzeit vergehen.

 
Heute war der siebzehnte Tag (etwas mehr als hundert Erdtage). So recht würde es keiner zu Hause glauben: Da schlief man nun schon fünf Tage und war dann beim Aufstehen immer noch müde ... Jacko konnte zwar sofort hellwach werden, wenn er denn wollte, aber hier sah er wirklich keine Veranlassung, sich solche Mühe mit dem Aufwachen zu geben. Also ließ er sich Zeit mit dem Aufstehen, den Anzeigen war es ziemlich egal, ob er sie zum ersten Mal nach 120 Stunden zehn Minuten früher oder später ablas.

Rechtzeitig zu seinem Erwachen war die Innentemperatur auf die von ihm gewünschten 300 Kelvin gebracht worden. Nur mit Unterhose und T-Shirt war es so richtig angenehm. Vorsichtig mühte er sich aus dem Tiefschlafbett, kurz Sarg genannt. Nicht allein, dass die Müdigkeit noch in allen Knochen saß; sie beschleunigten auch mit zweifacher Erdbeschleunigung, alles war doppelt so schwer. Es dauerte immer noch eine Weile, bis er sich daran wieder richtig gewöhnt hatte.

Er schlurfte zum Teeautomaten. Mit lauten Knall fiel seine Tasse aus dem Schrank -- nun ja, hatte sie eben eine weitere Beule. Schlimmer war, dass er sich bücken und die Tasse aufheben musste. Er hasste diese kombinierten Klimmzüge/Kniebeugen vor dem Frühstück -- und eigentlich auch danach. Aber er war ja freiwillig dabei. In einer halben Stunde, wenn er erst richtig gefrühstückt hatte, da würde die Welt schon anders aussehen.

Natürlich nie viel anders, schließlich war er auf einem Raumschiff mit drei Abteilen mit zusammen vierzig Quadratmeter Bodenfläche. Das schlimmste war, das weder hier drinnen noch draußen etwas Neues geschah. Es erscheint zwar für den Laien unverständlich, aber es ist wirklich so: Sie waren so weit draußen, dass die Sonne nur ein Stern unter vielen war, ein hellerer immerhin. So ein bisschen hatten sich die Urahnen vielleicht die Unendlichkeit vorgestellt: Es sieht in alle Richtungen ähnlich aus, doch da ist einfach nichts Greifbares um einen herum. Und obwohl sie mit einem absolut wahnwitzigen Tempo durch das All fegten, rührte sich keiner der Lichtpunkte da draußen auch nur um das kleinste bisschen. Außerdem kam man sich plötzlich farbenblind vor, denn die Sterne da draußen waren gegenüber der pechschwarzen und noch viel schwärzeren Nacht des Alls so grell, dass sie allesamt strahlend weiß erschienen.

Da tat das Grün und Gelb der wenigen LED-Anzeigen und die farbigen Monitore richtig gut. Wie üblich war alles im Toleranzbereich. Er startete ein Computerspiel, hackte lustlos auf den Tasten herum, um sich nach kurzer Zeit wieder ein Buch auf dem Monitor zu holen. Noch bekamen sie den Inhalt der diversen Computernetze zugespielt, mit etwas Glück auch noch die nächsten beiden Wachzeiten bevor die Signal zu schwach wurden. Gelangweilt blätterte er seine elektronische Post und die Nachrichten durch.

Mittagessen. Kein Höhepunkt angesichts des Versorgungsapparates. Input gleich Output, IF INPUT Tiefgekühltes, THEN OUTPUT fade. Heute gab es Pizza quattro fromaggio, immerhin. Pizza und Aufläufe eigneten sich für diese Art der Verpflegung seiner Meinung nach am besten.

Nach dem Essen war er schon wieder müde. Machte noch einmal die zweite Ablesung, schrieb eine Mail an Raissa: «Subject: Witz des Tages(17) -- Woran erkennt man, dass es in einem Raumschiff Herbst wird? Die Farbe blättert ab!» Naja, aber Raissa hatte eh keinen Sinn für Witze, ob nun gute oder schlechte.

 
Es war am subjektiv siebenundzwanzigsten Tag nach seiner eigener Zeitrechnung (also nach gut 200 Tagen Schiffszeit und etwas mehr Erdzeit). Er stand auf wie immer, duschte und aß etwas. Dann ging er zum Cockpit und warf einen Blick auf die Monitore. Endlich sah man eine sichtbare Veränderung: Die Sterne hatte sich seit dem letzten Aufwachen bewegt, sie waren zwar, wie es schien, weiterhin unbeweglich, hatten sich aber mehr oder minder kreisförmig um den Zielpunkt angeordnet. Auch die Farben stimmten nicht.

Raissa trat leise hinter ihm ins Cockpit. Er zuckte zusammen, schwieg aber. Beide starrten sie auf das Bild der Außenkamera. Jacko brach schließlich das Schweigen. «Es ist wunderschön!»

«Schöner und eindrucksvoller, als ich es mir je habe vorstellen können. Wir sind unter den Ersten, die es mit eigenen Augen sehen, die Ersten, die davon berichten werden. Die Sterne, die du jetzt noch siehst, sind nach vorne hinaus wirklich Sterne und Galaxien, alles was Radiostrahlung aussendet. Achteraus jedoch, kannst du nur noch Röntgen- und Gammastrahlenquellen sehen, Schwarze Löcher, Neutronensterne, relativistische Elektronen und so. Je schneller wir werden, umso stärker wird der Effekt werden. Man hat das mal Sternenbogen genannt, weil es auf einer Computersimulation wie ein Regenbogen aussah. Aber die Farben, die wir sehen, sind nur von unserem Tempo und der Temperatur der Quellen abhängig, denn die wellenlängenbezogene Intensität einer Quelle hängt entscheidend von ihrer Temperatur und durch den Dopplereffekt von ihrer Relativgeschwindigkeit ab, also der Winkel, unter dem»

«Bitte nicht mehr. Ich will es einfach genießen. Warum gibt es bloß keine Bullaugen?»

«Es wäre tödlich, das sichtbare Licht der Sterne ist jetzt harte Gammastrahlung.»

«Wie traurig und unpoetisch.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ist ein Raumschiff ein poetischer Ort? Hundert Tonnen Stahl und Technik, umgeben von Vakuum.»

«Genau das werden die Leute aus Kolumbus' Schiffen gesagt haben», gab er zurück. «Ein poetischer Ort? Die Hölle war es, schlechtes Essen, alter Zwieback. Ringsherum Wasser, das man nicht trinken kann. Dazu mörderische Hitze und die Gefahr, nie mehr wiederzukehren. Ausgeliefert den Naturgewalten. Die Suche nach dem Fortkommen in den Details, die unmerkliche Bewegung der Sterne von Tag zu Tag.»

«Schreib so was auf. Das macht sich später sicher gut. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie du auf solche Sätze kommst.»

Diesen Tag verbrachte er fast nur vor den Außenmonitoren, ständig passierte etwas, sehr langsam aber unaufhaltsam, so als sehe man Bambus beim Wachstum zu. Er beschloss zum wahren Rhythmus zurückzukehren, doch nach dem Kalender verschlief er dennoch zwei Tage.

Die ersten Sterne waren zu kurzen Bänder geworden, spektralartig verzerrt, erst rot, dann gelb, grün, blau und schließlich violett. Man sah deutlich die langsame Bewegung. Raissa schlief ruhig in ihrem Sarg.

Er hatte hier seine Zeit zu verschenken und tat es reichlich. Er schrieb, weniger wegen der Nachwelt, sondern mehr aus dem Empfinden, nichts von diesem Anblick dürfte verloren gehen. Wieder beschloss er, auf Tiefschlaf zu verzichten. Nur das Dosimeter, der persönliche Strahlungsmesser, zwang ihn wieder in den Sarg, denn überleben wollte er das Ganze schon.

Als er wieder aufstand, waren die Monitore nach vorn heraus violett. Dieses ging nach den Seiten über grün, gelb nach rot und dann in einen ungewohnten aber nicht unerwarteten Sternhimmel über. Nach hinten hin wurden die Sterne immer rarer, genau hinter ihnen war nur ein schwarzer Kreis. Es war, als seien alle Sterne als Ring um das Schiff angeordnet. Langsam wurde der violette Kreis in der Mitte immer dunkeler, der Ring des Regenbogens weitete sich, als ob das Schiff hindurchfliegen wollte. Er musste unwillkürlich an einen Vogel denken, der Rauchringe jagt.

Er entschloss sich nun doch Raissa zu wecken. Während die Maschinen ihren Körper und Geist aus der Trance holten, beobachtete er weiter die Bildschirme. Der Ring weitete sich, wenn überhaupt noch, nur unmerklich. Als er die Mitte sich ganz genau ansah, war es dort nur fast dunkel, es gab einige violette Inseln. An den Seiten konnte er einen sich langsam bewegenden Lichtfleck ausmachen.

Sie betrat schlaftrunken das Cockpit, warf einen Blick auf den vorderen Monitor. «Das muss die blauverschobene Hintergrundstrahlung sein. Jetzt sind zwei Stunden wie ein Jahr.»

«Du wirst ja poetisch auf deine alten Tage.»

«Naja, ich gratuliere dir zu deinen zur Zeit 144. Geburtstag.»

«Auch dich will die Rentenversicherung gerade aus ihrer Kartei zu streichen.»

Sie lächelte höflich. Dann tat Raissa schnell ein paar Schaltungen. «Aber im Ernst, bei dieser Strahlenbelastung sollten wir jetzt wieder in die Särge kriechen. Auch wenn es noch so schön ist, das Leben ist schöner. Zeig mir mal dein Dosimeter.»

«Ich bin für mich selber verantwortlich.» Sie sah ihn mit ihrem Spezialblick zwischen Mutter und eben Raissa an. In solchen Augenblicken schmolz sein Widerstand schnell dahin. «Also gut, ich werde mich in einer Stunde hinlegen.»

Sie sagte nichts, ließ ihren Blick noch ein paar Minuten weiter wirken. Schließlich gelang es ihm, noch ein Essen für sie beide herauszuschlagen.

 
Neun Tage später holte ihn die Automatik wie vorgesehen wieder aus dem Tiefschlaf. Etwas stimmte nicht, ein Alarm ging. Sie beschleunigten nicht mehr, es herrschte Schwerelosigkeit. Sie trieben steuerlos mit fast Lichtgeschwindigkeit durch das All. Er startete eine vollständige Überprüfung des Antriebes, doch bald sah er, dass sie das Schwarze Loch des Antriebes verloren hatten.

Ungeduldig schwebte er über Raissas Sarg und wartete, dass sie wach wurde.

«Wir haben das Loch verloren!», rief er, als der Deckel sich zusammenfaltete. Er musste es noch zweimal wiederholen, dann war auch Raissa wach, hatte den Ernst der Lage erkannt.

«Wie lange ist es her?» Nebenbei humpelte sie mit immer noch eingaschlafenen Beinen zum Cockpit.

«Seit dem Wendemanöver, 197 Stunden. Die Sensoren glaubten eine Instabilität entdeckt zu haben und starteten die Abwurfsequenz. Ich habe jedoch keinen Energieausbruch auf dem Schirm.»

Sie hackte auf der Tastatur herum. «Nein, es muss noch existieren. Schnall dich an, wir werden es finden. Die Hilfstriebwerke sind in fünf Minuten klar.»

«Es kann nicht abgelenkt worden sein?»

«Nur wenig. Am Ende hat es vielleicht vier Tonnen gewogen, die Notraketen aus dem Trennmanöver haben nur 100 Meter pro Sekunde an Geschwindigkeit relativ zum Loch beschleunigt. Wir sind bei weitem die größte Masse hier in der Gegend.»

«Wie sieht es mit Sternen aus? Ist der Kurs für ein solches Manöver frei?»

«Ziemlich. Es gibt eh nur die Auswahl zwischen schnellem und langsamem Tod.»

Er atmete hörbar aus. Gerade in Augenblicken wie diesen, wo er Gefühle erwartete, genau dann wurde sie kühl und allenfalls sarkastisch. Ihr Ausdruck von Überlebensinstinkt, sympathisch fand er es trotzdem nicht.

«Jetzt!»

Der Gegenschub drückte ihn nur ganz sanft in seine Gurte. Kaum eine Minute beschleunigten sie, dann war wieder Schwerelosigkeit.

«Wir haben noch ein Problem.»

«Ja, meine liebe Raissa?»

«Wir schreiben gerade das Jahr 2300. Die Zielsterne haben wir längs passiert und welche so weit draußen Planeten haben, wissen wir nicht einmal.»

Seine Gedanken kreisten zur Zeit um zu viele Dinge. Ganz vorne stand wieder Raumkrankheit. Er vertrug einfach die Schwerelosigkeit nicht. «Und was jetzt?»

«Was wollen wir tun? Wir könnten die Stauschaufel wieder aktivieren und dann ein weites Wendemanöver bei beinahe Lichtgeschwindigkeit machen und zur Erde zurückkehren. Oder wir bremsen bei einem unbekannten Stern.»

Er schluckte. Es schmeckte bitter, was er da aufstieß. «Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht. Du hast den besseren Überblick, denke ich. Ich lege mich wieder in meinen Sarg.»

Sie sah ihn an. Er war sehr bleich. «Ich gebe dir 0,05 Ist sowieso hypothetisch, erst einmal müssen wir das Loch wiederfinden. Gute Nacht.»

Sobald der minimale Schub kam, schnallte er sich los und legte sich in den Sarg. Sie beugte sich über ihn, ein langer Kuss und dann schloss sich der Deckel.

Raissa blieb auch nicht viel länger wach. Die Automatik schaltete sie nicht wieder ein; wenn sie das Loch nicht fanden, wäre ein schneller Tod besser, als zehn Minuten vor dem Aufprall auf einen Stern auch noch geweckt zu werden. Dann flüchte sie wieder vor der Strahlung in den Sarg. Mehr als warten blieb ihnen erst einmal nicht.

 
Schon vier Tage suchten sie das Loch. Jeder Schiffstag entsprach auf der Erde fast fünfundzwanzig Jahren. Sie waren jetzt 24 hinter dem Zeitplan; oder knapp 500 hinter dem Zeitplan oder eben 150 zu weit weg. Auf der Erde waren sie sicher längst für tot erklärt worden, vielleicht hatte man sie jetzt sogar schon vergessen. Aber die unmittelbarere Drohung, bis an das Ende ihrer Tage durch das All zu rasen, ließ solche Überlegungen zu Gedankenspielen für Mußestunden werden. Davon hatten sie wenig.

Sie blieben jetzt abwechselnd wach, jeder zwölf Stunden. Am fünfundzwanzigsten Tag nach dem Verlust, gegen vier Uhr zwanzig entdeckte Raissa eine größere unsichtbare Masse. Es musste das Schwarze Loch des Antriebes sein. Vorsichtig manövrierte sie näher und studierte die Anzeigen: Es hatte etwas Ladung verloren, aber sie würden es dennoch einfangen können.

Sie schwebte über seinem Sarg. «Jacko, wir haben es!»

Jacko war sofort hellwach, etwas um das ihn Raissa beneidete, wie er wusste. «Wie weit?»

«Bereit zum Einfang. Das ist dein Spezialgebiet.»

«Zwei Stunden mehr aus den Notfalllektionen. Na dann werden wir die heiße Kartoffel wieder einsortieren.» Mehr als ein Grinsen konnte er seinem Gesicht bei diesem schwachen Scherz auch nicht entlocken.

 
Er starrte vorsichtig auf die Anzeige des Massendetektors. Doch für so geringe Entfernungen war er nicht gebaut. Dem Detektor für das elektrostatische Feld konnte er ohne Neueichung nicht trauen. Er hatte keine Kontrolle außer dem Magnetfeld. Schweiß stand auf seiner Stirn.

Trotz allem kam es gut herein und blieb halbwegs an der richtigen Stelle stehen. Als sie vorsichtig Schub gaben, da erst hatten sie die endgültige Bestätigung, dass es geklappt hatte. Sie jubelten und sprangen, jetzt wieder mit der gewohnten zweifachen Erdbeschleunigung.

Sie hatten genug vom All, wollten das Risiko, das Loch zu verlieren, nicht noch einmal eingehen. Raissa hatte eine weite Rückkehrkurve programmiert, nie langsamer als halbe Lichtgeschwindigkeit. So mussten sie nicht anhalten und ihre Tanks zu füllen, sondern konnten ihren Treibstoff direkt aus dem All sammeln, gerade soviel wie sie brauchten. Natürlich machten sie mit ihren Geräten alle Messungen, die sie irgend machen konnten. Der nächste Stop aber war die Erde, das stand fest!

Zwei Geburtstage waren zu feiern. Während Jacko 35 und Raissa 31 wurden, da wären sie auf der Erde 621 und 617 gewesen ...

Endlich, wieder auf Heimatkurs, da begannen die Sterne sich wieder zu bewegen. Nach und nach entwickelte sich wieder der Sternenbogen. Diesmal drehten sie das Schiff unter Schub manuell. Sie verloren das Loch nicht, alles funktionierte, wie es sollte.


... und Erde

Tariff sah sich ihr Vereinigungsbild zur Triade an: Drei prächtig gekleidete Zentauren waren zu sehen. Rechts stand Sire Ruron, links Sire Raldron und in der Mitte sie, Sire Rigan selbst. Wie konnte Dummheit nur so schön sein? Denn Ruron und Raldron waren dumm, aber schön, nur sie selber war schöner, so sagten die anderen. So besonders anders sah sie auch nicht aus: Auch sie hatten elegante hellhäutige menschenähnliche Oberkörper, mehr Lunge, mehr Rippen, keine Brüste, weiße Haare, tiefgrüne Augen, dazu schlanke Pferdekörper mit dichtem weißen Fell, dichte weiße Fellbüschel an den Fesseln, eine dichte und lange Mähne auf den Menschenrücken und volle Pferdeschweife.

Fast nur weiße Zentauren, Sire genannt, konnten weiße Zentauren gebären: Also mussten weiße Zentauren sich weiße Partner suchen. Mit 13 war die Zukunft bis in alle Zeit vorgezeichnet. Sie hatte die anderen beiden, Ruron und Raldon, gehasst. Ihr Snobismus und ihr Stolz, der einzig und allein davon herrührte, dass sie weiß waren. Und Ruron war auch noch brutal, während Raldron wenigstens sanftmütig war. Aber sie waren blöd -- vielleicht auch durch jahrelange Inzucht. Blöd aber weiß! Am Tag ihrer Hochzeit wurde sie auch zum Sire ernannt; sie hatte den Ehrennamen Rigan erhalten -- jeder Sire hatte einen Namen, der mit R anfing. Dieser Name lag jetzt zum Glück auch hinter ihr.

Damals war sie noch in der männlichen Phase und erst bekam Ruron und dann Raldron ein Kind von ihm. Als dann die weibliche Phase kam, waren die anderen schwanger, und sie hatte ihre Ruhe. Doch damit waren die Phasen außer Trab geraten, denn als sie nach der Geburt Turons in die männliche Phase kommen sollte, da spürte sie, wie sie, vielleicht wegen der Fohlen, wieder in die weibliche kam.

Doch ein Kind von Ruron -- noch dazu wenn es so blöd wie der Vater zu werden drohte, und wenn es zehnmal ein weißer Zentaur werden würde, das war mehr, als sie ertragen wollte und konnte. Es gab keine körperlich hässlichen weißen Zentauren, aber wenn je ein Zentaur abstoßend sein konnte, waren es diese beiden. Diese Abneigung wurde schließlich zum Hass. Sie gab vor, vorzeitig in die männliche Phase zu wechseln, was erst in fünf Monaten hätte passieren sollen. Ruron und Raldron waren wütend geworden, sie hatten sich gestritten. Die Gelegenheit war zu gut, um nicht zu fliehen.

Später, als Ruron und Raldron nachdachten, falls es nicht ihnen jemand anders erklärt hatte, und sie als der einzige weitere weiße Zentaur jenseits des Meeres außer den beiden schon weit weg war, da haben sie vielleicht erkannt, wie dumm sie wirklich gewesen waren.

Die normalen Zentauren waren zwar entsetzt, als sie, Sire Rigan die Triade verließ. Sire Rigan Ha! Wie hatte sie es nur so lange ausgehalten. Tariff klang viel schöner, viel wilder. Doch die normalen Zentauren hatten es nicht verstanden, wie auch, jeder hätte sofort mit ihr getauscht. Trotz alledem bewunderten die normalen Zentauren sie noch immer. Wenn sie in eine Siedlung kam, weil sie etwas brauchte und auch nur die leiseste Andeutung fallen ließ, erhielt sie es sofort. Allein nur, weil alle einem weißen Zentauren gefallen wollten. Diese Mischung aus Unverständnis und falscher Unterwürfigkeit hatte sie abseits von allen Hufspuren getrieben.

Mit jedem Kilometer mehr entfernte sie sich nicht nur räumlich von der Triade. Zugleich hatte sie sich vom alten Sire Rigan entfernt. Nicht nur, dass die Beinmuskulatur kräftig zugenommen hatte, mehr als bei manchem schnellen Handelszentauren; nicht nur, dass sie arbeiten wollte, sogar jagen ging. Nein, Sire Rigan war für immer gestorben. Da es aber als einer von drei Sire auf dem Kontinent keine echte Anonymität gab, musste sie sich tarnen, am besten durch Verwahrlosung. Am Unterkörper ließ sie sich das Fell vom Tragegurt der Packtaschen bis auf die wunde Haut herunter scheuern. Sie hatte sich grobe Hufeisen schmieden lassen, zu erst war sie -- zu stolz, ja wirklich, heute lachte sie -- sogar auf bloßer Hornhaut losgelaufen. Sie hatte auch noch ihre Armmuskeln mit Klimmzügen trainiert. Ihr Haar und ihre lange weiße Mähne, Sire Rigans ganzer Stolz, sie hatte ihn überwunden und beides unter Tränen abgeschnitten. Auf ihr Fell hatte sie mit Kohle schwarze Sprenkel gemalt, es war jetzt eh recht schmutzig.

Selbst den Gestank weißer Zentauren nach Lavendel übertünchte sie, wenn sie unbedingt in eine Ortschaft musste. Dann räucherte sie sich ein, und einmal schmierte sie sich solange Exkremente an die Beine, bis er übertüncht war. Davon wurde ihr selber schlecht, und sie ekelte sich vor ihr selbst.

Ein letztes Mal war sie als Sire Rigan in eine Ortschaft gegangen und hatte sich dort zwei Bögen anfertigen lassen. Seitdem waren zwei Wochen vergangen und sie hatte in der Wildnis leben gelernt. Endlich konnte sie tun, wozu ihr Körper wie geschaffen war: Frei und unabhängig leben! Mittlerweile brannten ihre Feuer recht schnell, und das eine oder andere Kaninchen war schon ihr Opfer geworden. Nur das Ausnehmen war eine Arbeit, vor der ihr graute.

 
Heute Abend hatte sie das Meer erreicht. Jetzt saß sie am Strand und war hungrig, doch das Feuer wollte nicht recht brennen. Sie blies in das, noch immer vom Dauerregen der letzten zwei Tage feuchte, Holz. Dabei bekam sie Qualm in die Lunge und musste schrecklich husten. Ein kurzer Windstoß trieb erneut den Qualm zu ihr hin, ihre Lunge brannte. Sie konnte nichts sehen, so schob sie sich vorsichtig rückwärts vom Feuer weg.

«Hallo, wer bist du denn?», hörte sie jemanden rufen. Doch durch den Tränenvorhang vor ihren Augen konnte sie nichts erkennen.

«Ich» konnte sie gerade noch sagen, dann brach sie wieder in Husten aus.

«Hier, wasch dir den Rauch aus.»

Ein feuchtes Etwas wurde in Tariffs Hand gedrückt. Dankbar fuhr sie sich über das Gesicht. Endlich konnte sie sehen, wer sie angesprochen hatte. Es war ein Fohlen, vielleicht sieben. Braunes Fell, nur die Fesseln und die Mähne waren weiß. Es war schlanker als Tariff. Wenn es erwachsen war, würde es sicher ein wunderschöner Zentaur sein. «Ich heiße Tariff(sie)», sagte sie.

«Ich bin Tira», antwortete das Fohlen. «Bist du verletzt? Wenn wir galoppieren, können wir leicht in vier Stunden bei uns im Dorf sein.»

«Nein, danke, nett gemeint. Ich bleibe lieber hier draußen.»

«Und dir geht es wirklich gut? Ich meine, naja, du siehst sehr dreckig und erschöpft aus. Und die wunde Stelle von deinem Packtaschenriemen muss behandelt werden, wenn sie keine Narbe geben soll.» Plötzlich erhellte sich Tiras Miene. Ehrfürchtig fügte das Fohlen hinzu: «Bist du ein Sire?»

«Ja, aber das ist unser Geheimnis. Ich»

Tira, völlig aufgeregt, unterbrach sie: «Bist du etwa gerade gelandet? Zeigst du mir dein Schiff?»

Tariff musste Lachen. «Nein, es ist nur eine alte, dumme Geschichte, dass die weißen Zentauren aus dem All stammen. Es bleibt aber unser Geheimnis, dass ich hier bin. Ja? Und warum bist du eigentlich hier?»

«Wenn mich die Fohlen im Dorf ärgern, dann gehe ich gerne hierher, immer dem Sonnenuntergang entgegenlaufend. Die sind so, weil ich meinen Vater nicht kennen. Er war ein Händler, doch ist er nie von seiner Reise zurückgekommen. Und ich sehe ganz anders aus, als alle anderen im Dorf, ich bin nicht so stark wie sie.» Tira sah auf seine Hufe. «Aber mein Vater soll soo schön gewesen sein.»

Tariff lächelte. «Das sieht man. Du bist schön. Du kannst sicher ein guter Handelszentaur werden.»

«Bei dir klingt es gar nicht wie ein Schimpfwort.»

«Was? Handelszentaur soll ein Schimpfwort sein? Ach Tira, es ist richtig nett, wieder einmal mit jemanden zu reden.» Tira war verwirrt. «Wenn die dich das nächste Mal necken, sage einfach: ,,And you look like poor people's horses." Denn du wirst bestimmt ein schöner reicher Handelszentaur werden.»

«Du kannst Englisch?» Tira war schwer beeindruckt. «Bringt es mir bei, damit ich wirklich Händler werden kann.»

Tariff hatte bisher gar nicht daran gedacht, dass jemand kein Englisch konnte. Nur Ruron und Raldon waren zu dumm gewesen. «Wer ist denn dein Lehrer? Und warum bringt er dir kein Englisch bei?»

«Meine Mutter hat mir schreiben und lesen und Noten und Geige spielen beigebracht, und auch den anderen im Dorf. Sie ist sehr klug. Aber Englisch kann bei uns keiner. Bringst du es mir bei? Dann striegel ich dich auch und werde etwas Wundsalbe für dich holen. Und ich werde dir einen hübschen Zopf in deine Mähne flechten, dann sieht man nicht, dass sie so kurz ist. Bitte, sag ja!»

Tariff musste lächeln. Mal sehen, wie lange der Enthusiasmus halten würde. «Na gut. Aber erzähle niemanden, dass ich hier bin! Das ist unser Geheimnis, ja?»

«Ich werde schweigen, solange du willst.»

«Sehr schön. Nun brennt das Feuer endlich, dann kannst du ja auch gleich noch bis zum Abendessen mit Eichentee und Kaninchen bleiben, Oder?»

Es war eine rhetorische Frage. Natürlich blieb Tira und suchte Feuerholz, während Tariff das Essen vorbereitete. Schließlich saßen sie um das Feuer im Sand unter einem klaren Sternenhimmel. Dazu gab es ein leckeres Essen.

«Tira, du kennst doch die Gegend hier? Gibt es außer eurer Siedlung noch andere Dörfer hier?»

«Nur fünfzig Kilometer weiter im Norden ist eine Menschenstadt. Sonst gibt es in der Ebene nach Süden noch einige Dörfer. Und im Osten an der Passstraße in die Berge gibt es mehrere Dörfer. Du, einmal habe ich einen Bürger hier getroffen. Er hat mir das hier geschenkt.» Tira reichte ihr eine Visitenkarte.

Mirijam Groting & KI, Handelsvertreter, Portland stand darauf. «Ich glaube, der Mensch hat dein Talent schon erkannt. Das war ein Handelsvertreter. Du solltest unbedingt Englisch lernen.»


 
Der Sternenbogen wich wieder zurück und war schließlich ganz verschwunden. Er spielte die Aufnahmen in 1 zu 100 ab. Es sah aus, als entferne sich der Ring mit immer größerer Geschwindigkeit, als würden sie rückwärts durch das All fliegen. Das war Schönheit, die sich direkt aus den Formeln der Relativität ergab. Keine Theorie, die nur elegant war, sondern wirklich schön im Ergebnis. So schön wie ein Regenbogen, die Schönheit aus den Elementen, aus den elementaren Naturgesetzen.

Sie hatten noch zwei Monate zur Erde, als sie Raissas 32. Geburtstag feierten. Von den knapp zwei Jahren hatten sie sieben Monate wach zugebracht. Auf der Erde waren jetzt 1381 und 261 seit ihrem Start vergangen. Allerdings hatte ihre Zeitrechnung für das Erddatum inzwischen eine Unsicherheit von plus/minus zweiunddreißig Tagen.

Jetzt waren sie nahe genug, dass man sie auf der Erde empfangen könnte, also sandten sie eine Botschaft auf so vielen Frequenzen, wie sie nur konnten, in Englisch, Russisch, Japanisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Chinesisch und allen anderen Sprachen, von denen sie ein Wörterbuch hatten. Vielleicht wurde wenigstens eine dieser Sprachen noch verstanden, vielleicht wurde wenigstens eine dieser Frequenzen noch benutzt. Die Botschaft war kurz und klar: «Hier ist das Raumschiff Dädalus des Europäischen Bundes, Start im Jahr 2041. Bitte antworten Sie auf 1,407 Wir kommen in Frieden. Ende.»

Sie erwarteten nicht unbedingt eine Antwort (die auch frühestens in zwei Wochen eintreffen könnte): Ein Phönizier, der plötzlich im 21. Jahrhundert aufgetaucht wäre, hätte auch nur unverständliche Signale in ausgelöschten Sprachen gegeben.

Als sie Pluto passiert hatten und nur noch eine Woche entfernt waren, da kam eine Antwort in klarem, verständlichen Englisch: «Dädalus von Mondbasis. Wir empfangen euch. Ihr seid identifiziert. Willkommen Jacko und Raissa van Klemt. Bitte bestätigen. Ende.»

Sie jubelten. Sofort machten sie sich an die Antwort. Kurz verlangten sie nur: «Mondbasis von Dädalus. Welches Datum? Wie sieht es bei euch aus. Lebt noch wer? Status?»

Die Antwort vierzehn Stunden später war ernüchternd: «Dädalus von Mondbasis. Heute ist der 14.1.3423. Sie sprechen mit einer KI, einer künstlichen Intelligenz. Es gibt Leben auf der Erde, jedoch deutlich weniger Menschen als zu Beginn ihrer Reise. Status Mondbasis folgt:» Es folgte der komplette Status der Mondbasis, sieben Stunden leierte die künstliche Stimme den Zustand herunter, bis hin zu dem Vorrat an Schrauben, ohne auch nur ansatzweise müde zu werden. Sie drehten den Funk leiser, horchten mit einem Ohr jedoch noch hin, ob nicht doch eine wichtigen Information dabei war.

«Den kolossalen Empfang auf der Mondstation wird es nicht geben. Tja, und für unsere Bänder interessiert sich wahrscheinlich auch keiner mehr. Fast so als hätte Magellan seine Erdkarten an die UNO verkaufen wollen.»

«Was willst du mehr?», sagte Jacko. «Das wären unschätzbare historische Werte.» Ein gequältes Lächeln erreichte ihre Lippen. «Wenn es dir hilft,», fuhr er fort, «dann werde ich dich jetzt gleich auf meiner Pritsche empfangen.»

Vorher starteten sie die Überspielung aller Aufzeichnungen an die Mondstation.

 
Noch sieben Stunden und sie würden endlich die Mondbasis erreichen. Doch jetzt endlich konnten sie die Tagseite der Erde erkennen. Es tauchten die vertrauten Umrisse auf. In Amerika ging die gerade Sonne unter, dann in Australien. Dann kam der Asiatische Raum und dann Afrika. Jacko bemerkte es als erster: «Raissa, siehst du es!»

«Was denn? Die grüne Sahara, der Schnee auf dem Atlas?»

«Das ist nicht der Atlas, das ist doch nördlich vom Mittelmeer. Und dann, keine Alpen zu sehen, da ist kein grüner Kontinent mehr nördlich, nur noch Meer und Eis ist dort. Nichts!»

Sie sah es auch. Dort, wo das Mittelmeer war, erhob sich am Nordrand Afrikas ein Gebirge. Dahinter war jedoch nur Wasser, Wasser und Eis bis zum Ural. Sie konnten es zwar nur schlecht erkennen, es war ja gerade Winter. Dennoch stand fest, Europa existierte nicht mehr.

Fast gleichzeitig kamen sie auf dieselbe Idee. Sie riefen wieder die Mondbasis. «Mondbasis von Dädalus. Wo ist Europa?»

«Dädalus von Mondbasis. Es tut mir Leid, wenn ich euch beleidigt habe. Ihr seid die ersten Rückkehrer, die ich empfange. Europa wurde im Jahr 2183 vernichtet, als ein Komet mit mindestens 100.000 Tonnen ungefähr bei Namur aufschlug. Insgesamt starben bei diesem Ereignis und dem folgenden siebzehnjährigen Winter 8,3 Milliarden Menschen. Ende.»

Sie schwiegen bestürzt. Erst Jacko und dann auch Raissa fingen zu weinen an. Es war einfach unvorstellbar. Dennoch, weinen tat gut.

«Dädalus von Mondbasis. Bitte schaltet auf Automatik, ich führe euch in eine Mondumlaufbahn. Docking mit Rückkehrshuttle in zwei Stunden. Ende.»

Statt einer Bestätigung tippte Raissa einfach nur den Code ein. «Wir sollten uns anschnallen», meinte sie trocken.


 
Tariff machte selbst so viele Jahre nach der ,,Flucht" immer noch gerne weite Wanderungen. Eine ganze Zeit lang hatte Tariff Tira als Begleitung. Die wenigen Handelskniffe hatte Tariff das Fohlen gelehrt, bis Tira schließlich dreizehn und damit volljährig wurde, alt genug, um die Prüfung an der Universität von Burns abzulegen. Vor knapp einem Jahr hatte Tariff Tira nach Burns zur Universität geschickt. Dort sollte es die Handelsprüfung machen; und vorher war bestimmt noch das eine oder andere zu lernen.

Gerade war Tariff, nun in der männlichen Phase, von einer Zehntagesreise nach aus dem Süden zurück. Jetzt stand er wieder auf dem Strand, wo er vor gut sieben Jahren angekommen war. Da hatte Tariffs richtiges Leben erst so richtig begonnen. Jedesmal musste sie kurz an die Begegnung mit Tira denken. Verdammt, ohne Tira wäre er vielleicht als Tramp geendet.

Am Nachmittag hatte es aufgeklart, und es wehte nur ein leichter Nordostwind, gerade genug um den Nebel zu vertreiben. Das Meer lag ruhig da. So früh im Jahr waren auch die Vögel still. Schnell wurde es kalt. Doch die eindrucksvolle Dämmerung ließ ihn lange noch nicht los.

Dann kamen einer nach dem anderen die Sterne heraus. Dazu einer der vier Energiesatelliten, die man von hier sehen konnte. Doch da war noch ein neues sehr helles Objekt. Sie hatten wieder ein Shuttle gestartet, vielleicht sogar ein Sternenschiff. Diese dummen egoistischen Menschen, warum nur ...

«Tariff(er)! Ich wusste, dass ich dich hier finde!»

Tariff fuhr herum. Es war Tira. Sie hatte die Handelsuniform an, eine Art violettes Leinenhemd mit V-Ausschnitt, breitem Ledergürtel und kurzer Schärpe. Am Rücken war sie geschnürt, damit die Mähne herausgucken konnten. Die Schärpe trennte so das Haupthaar von der Tiras genauso eindrucksvoller Mähne.

«Tira(sie)!» Sie warfen sich in die Arme. «Seit einem halben Jahr habe ich dich nicht mehr gesehen! Wie ich sehe, hast du bestanden?»

«Äh, Tariff, ich wechsel grade meine Phase. Aber egal. Ach, Tariff, ich verdanke dir soviel. Die Prüfer waren beeindruckt. Es war so leicht. Unterwegs habe ich das da erhandelt.» Tira zog ein Solarpanel aus der Packtasche. «Ich bin dir so viel schuldig.»

«Tira, es ist so schön, dich wiederzusehen. Ich freue mich so, dass du bestanden hast!»

«Weißt du noch? Es ist genau siebeneinhalb Jahre her, seit ich dich hier getroffen habe. Ich habe extra dafür Schokoladenpudding besorgt. Und Marshmellows. Und etwas Earl Grey. Komm, lass uns Feuer machen und feiern.»

Schon bald saßen zwei Zentauren am Feuer und rösteten Marshmellows und tranken Tee.


 
Es war ein normales Shuttle, das sie bestiegen. Da ihr Schiff aus einem Shuttle hergeleitet war, wirkte es sehr vertraut. «Das gute Stück wirkt nicht, als ob wir tausendvierhundert Jahre weg gewesen waren», meinte Raissa trocken. Sie sah sich im Cockpit um. Hier war ein gewisser Forstschritt zu sehen, aber wenn dieses Ding da links ein Steuerknüppel war, dann würden sie sicher auch diese Fähre landen können. Doch es war unnötig, wie sie gleich erfuhren.

«Bitte setzen Sie sich und schnallen Sie sich an. Ich bin eine künstliche Intelligenz und werde Sie sicher heruntergeleiten. Wenn sie Wünsche haben, zögern Sie nicht, sie zu äußern.»

«Äh Computer», begann Jacko.

«Wenn Ihnen das unangenehm ist, so können Sie mich James nennen.» Jeder englische Butler musste von dieser ausdrucklosen zurückhaltenden Stimme träumen.

Jacko holte tief Luft. «James,», begann er, «wo werden wir landen?»

«Es existieren nur zwei mögliche Landeplätze mit geeigneter Infrastruktur: Ye'Hin San in China und ein Salzsee in der Mojavewüste in Nordamerika. Mondstation hat vorgeschlagen, in Nordamerika zu landen, da Sie meinen Informationen nach kein Chinesisch sprechen, habe ich den Kurs auf Nordamerika festgelegt. Falls Ihnen meine Entscheidung nicht behagt, so bitte ich Sie, ihre Wünsche spätestens in einer Stunde mitzuteilen.»

Sie sahen sich kurz an, verstanden sich ohne Worte. «Nordamerika» Nach einer Pause fügte Raissa noch hinzu: «Bitte».

«Wir brauchen vier Stunden. Vielleicht möchten die Herrschaften etwas zu essen?»

«Ohja, ein Steak mit einer Backkartoffel. Als Nachtisch Milchreis.»

«Milchreis ist leider nicht verfügbar. Wenn Sie mit Milchgries mit Kompott vorlieb nehmen, bedienen Sie sich. Jacko, was wünschen Sie?» Noch während er fragte, öffnete sich hinter Raissa die Ausgabe und das gewünschte Essen stand auf einem Tablett.

Die geringe Schwerkraft bekam ihm wie immer nicht. «Vielleicht Ravioli?»

«Guten Appetit.»

Während sie aßen wurde die Erde größer und größer. Das Loch, wo Europa einst war (die paar Inseln und der Rest Schottland und Norwegen zählte nicht), verschwand in der Nachthälfte und Nordamerika kam wieder langsam in ihr Blickfeld. Zunächst gehörte ihre Aufmerksamkeit den Essen, denn es war keinesfalls aus dauergelagerten tiefgefrorenen Zutaten, und es war sehr gut gewürzt. Schweigend aßen sie. Nach einem Halbbahnkurskorrekturmanöver, schlug ihnen James zum Nachtisch rote Grütze vor: Auch sie war vorzüglich.

«James, Ihre Kochkünste sind wirklich beeindruckend.»

«Dieses Kompliment werden Sie bald persönlich an Jennifer weitergeben können. Sie ist Historikerin, ihr Spezialgebiet ist die antike Industrialisierung. Ihr haben Sie sowohl die Auswahl der Speisen wie die ebenso detaillierten Instruktionen zu deren Zubereitung zu verdanken.»

«Werden wir richtig gehoben empfangen?»

«Diese Zusammensetzung scheint keinen Sinn zu ergeben. Versuchen Sie eine bessere Umschreibung.»

«Werden viele Leute dort sein?»

«Viele ist ein nur schlecht zu spezifizierender Begriff. Leute ist sehr unspezifisch. An Bürgern werden vermutlich nur Jennifer, die operierende Intelligenz des Stützpunktes und ich anwesend sein. Es ist jedoch mit 100 Arbeitern zu rechnen.»

Jacko erwachte aus seinem stummen Leiden: «Arbeitern? Wie sieht das hiesige Gesellschaftssystem aus?»

«Es gibt Bürger, bestehend aus Menschen mit Intelligenz und künstlichen Intelligenzen. Alle anderen dienen den Bürgern.»

«Wer sind diese anderen?»

«Niedere Maschinen und Arbeiter. Ich bemerke gerade, dass dieses Wort im 21. Jahrhundert eine andere Bedeutung hatte. Arbeiter bezeichnet ein Wesen mit niederer Intelligenz, oft das Produkt von Genmanipulationen auf eine Aufgabe hin gerichtet. Meist wird ein Arbeiter von einer künstlichen Intelligenz gesteuert. Ich bin jedoch auf die Beantwortung solcher Fragen schlecht vorbereitet und bitte Sie, sämtliche diese Fragen Jennifer zu stellen.»

Raissa gab sich mit der Antwort zufrieden, während sich Jacko wieder in seine Konzentrationsübungen gegen Raumkrankheit vertieft hatte. Mit Freude registrierte er die langsame Gewichtszunahme, als sie den Eintritt in die Atmosphäre begannen.

Auch dieses war immer ein sehr erhabenes Erlebnis, die Sterne verblassen in einem rötlich-orangenen Schleier, der zu einem immer heller werdenden Glimmen wird; es war Sauerstoff, der so gegen ihre Geschwindigkeit protestierte, unterstützt von dem Glühen der Luft. Aus dem leisen Säuseln war ein donnerndes Rauschen geworden. Dennoch wurde der Andruck nie so groß, wie sie es aus dem Raumschiff gewohnt waren.

Lange bevor sie es erwartet hatten, sank der Andruck wieder und der orangene Schleier wurde durchsichtig. Jetzt war der Himmel blau und die Erde beinahe eine Scheibe zu ihren Füßen. 10.000 Meter trennten sie von der Erde, 5000 Meter. Jetzt konnte man die flirrende Fläche des Salzsees in der spärlich bewachsenen Wüste deutlich erkennen. Doch keine größere Ansiedlung war in der Nähe zu sehen.

Jacko war völlig kuriert, als er sich sicher in den Armen der starken Mutter wähnen konnte. «Welches ist die nächste Stadt?»

«Angle, ich kenne leider nicht den alten Namen. Bitte gedulden Sie sich ein wenig, noch fünf Minuten und Sie bekommen alle Fragen beantwortet, so es denn überhaupt möglich ist.»

Das Shuttle glitt ruhig dahin und setzte schließlich sehr sanft auf dem Salzsee auf. Obwohl es Anfang Januar war, flirrte die Luft. Langsam rollten sie in eine halbgeöffnete Kuppel hinein, dem einzigen Gebäude weit und breit.

«Sie können aussteigen. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht. Es fliegt viel zu selten ein Bürger in das All.»

Raissa drehte sich kurz um und sprach zum Cockpit: «Danke, Sie haben es gut gemacht. Wirklich. Äh, wo geht es denn hier raus?»

«Fünf Meter weiter vorne befindet sich der Fahrstuhl. Jetzt links.»

Die Kabine senkte sich aus dem Shuttle direkt auf den Hallenboden. Sobald sie unterhalb des Rumpfes waren, konnten sie ihr Empfangskommitee bewundern. 100 Leute standen dort, einige schwenkten Fahnen des Europäischen Bundes. Eine Kapelle spielte die Hymne des Bundes. Ein Herr mit Frack und Zylinder und eine Frau, ebenfalls mit Frack, standen auf einem Podest, mit golb-blauen Papierstreifen verziert. Oben war ein Transparent: ,,Unseren Sternfahrern". Drei Transparente waren in der Menge zu sehen: ,,Willkommen Jacko", "Willkommen Raissa" und einfach nur ,,Willkommen!".

Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, scholl ihnen Jubel entgegen. Der Mann mit Zylinder trat von dem Podest und kam auf sie zu, während sie durch eine Gasse in der Menge gingen. Papierschlangen wurden geworfen und von irgendwo flatterte Konfetti. Er spürte, wie er errötete und auch Raissa hatte damit nicht gerechnet. Sie stiegen auf das Podest, einige Blitzlichter flackerten.

Der Mann im Frack schüttelte erst Jackos und dann Raissas Hand. «Herzlich Willkommen auf der Erde, im Namen des Stützpunktes und aller Bürger.» Danach gratulierte scheu die Frau.

Der Mann stellte sich nach vorne und breitete die Arme aus. Sofort war Stille. «Heute ist ein großer Tag. Die Menschen, die ausgezogen waren, uns die Sterne zu bringen, sind zurückgekehrt. Sie haben unsägliche Opfer gebracht, und alle ihre Brücken hinter sich abgerissen, nur um diesen alten Traum zu realisieren. Dieser Traum, für den auch dieser Stützpunkt lebt.» Der Jubel war jetzt noch lauter als vorher.

Der Mann wartete ein paar Momente. Dann fuhr er fort: «Unseren Dank können wir kaum richtig ausdrücken. Dennoch werden wir ihnen zumindest als Symbol zwei goldenen Medaillen mit einen Kometenkernsplitter überreichen.»

Unter Jubel öffnete er eine Schatulle, die ihm die Frau reichte. Jacko und Raissa wurden eine Medaille umgehängt. Es war je ein vierzackiger goldener Stern. In der Mitte war ein schwarzer schlackeähnlicher Steintropfen eingeschmolzen. Die Medaillen hingen an einem blauen Band. Nochmals schüttelten beide ihre Hände und die Band spielte einen Tusch.

Und noch einmal schüttelte der Mann ihnen die Hände. «Ich wünsche ihnen alles Gute. Bürger Jennifer wird sich weiter um Sie kümmern.»

Die Frau bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Unter Jubel und den Klängen der Musikkapelle gingen sie zu einen Fahrstuhl. Die Türen schlossen sich und schlagartig wurde es still.

Sie musterten sich einen Moment. Jennifer war höchstens dreißig, fast zwei Meter groß, hatte hellbraune Haut und erstaunlicherweise blondes Haar. Sie erinnerte Jacko ein wenig an Schweden, seine für immer verlorene Heimat. Auch Jennifer sah sie scheu an. Die Stille wurde unerträglich.

Jacko räusperte sich: «Wir möchten Ihnen für diesen großartigen Empfang danken.»

«Das hat fast alles der Stützpunkt organisiert. Wir waren nicht ganz sicher, was wir tun sollten. Es freut mich, dass er euch gefallen hat.» Sie sah zu Boden. «Leider wird es der einzige große Empfang gewesen sein, den ihr bekommen werdet, leider. Weltraumfahrt interessiert kaum einen Bürger.»

«Das heißt alle interessierten Bürger waren dort?»

«Nein. Im 35. Jahrhundert reist fast keiner mehr, hier jedenfalls. Aber alle, die konnten, haben Arbeiter zu dem Empfang geschickt.»

«Ich verstehe nicht ganz. Die haben doch echt gejubelt, oder? Und wieso sind Arbeiter keine Bürger?»

Jennifer ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort: «Der Jubel war schon echt, aber die Dinge sind nicht so einfach. Wissen sie, ein Arbeiter ist ein Mensch, der ohne Gehirn geboren ist. Statt dessen besitzt er eine halbe künstliche Intelligenz und gehört einem Bürger. Eine Vorstellung könnten die beiden Begriffe wie Haustier oder Sklave»

Jacko verlor die Fassung: «Sie sagen also, dass alle Mensch dort draußen willenlose Sklaven waren?»

«Nun, wenn Sie sie fragen, dann wird der Bürger antworten, ganz so, als wäre es der Bürger selbst. Ein Arbeiter ist ein Werkzeug, wie es auch eine Überwachungskamera ist. Bitte!» Sie hob die Hand, worauf Jacko sich noch etwas zurückhielt. «Es ist viel Zeit vergangen. Warten sie mit ihren Urteilen noch etwas. Außerdem können Sie, wenn Sie wollen, mit Masoud sprechen. Ein Arbeiter der KI Masoud», fügte sie hinzu.

Der Fahrstuhl bremste sanft ab, die Türen öffneten sich. Sie waren in einem riesenhaften Gewölbe. Es war eine Bahnhofshalle. Staunend liefen sie weiter. Rogers Saltlake/Edwards Base stand an einem Schild. Ein Magnetzug stand abfahrbereit in der ansonsten leeren Halle.

Jennifer ging zum Zug und setzte sich hinein. Jacko und Raissa liefen noch kurz auf dem hellen, sauberen aber ansonsten völlig leeren Bahnhof herum. Es war nichts zu sehen, kein Fahrplan, keine Landkarte, und so stiegen sie schließlich zu Jennifer in den Zug. Die Türen in dem vorderen Abteil schlossen sich, doch der Zug setzte sich noch nicht in Bewegung. Statt dessen öffneten sich nun die Türen der beiden hinteren Wagen. Kurz darauf kamen aus dem Fahrstuhl einige der Leute, die ihnen in dort oben zugejubelt hatten, und verteilten sich nach einem undurchschaubaren System auf die anderen Wagen. Sie alle sollten ferngesteuerte Menschen, oder eben Arbeiter, sein?

Eine Arbeiterin trat vor ihre Wagontür und wurde eingelassen. Sie wandte sich ihnen zu: «Guten Abend, ich freue mich sehr, dass Sie sicher angekommen sind. Es ist eine große Ehre, den ersten Weltenfahrern seit dem Kometen zu begegnen. Ich bin für Bürger Masoud -- also ich repräsentiere Bürger Masoud, dieser Körper ist nur ein Arbeiter, austauschbar. Bürger Masoud nennt sich die Jennifer unterstützende KI. Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten, habe jedoch vollstes Verständnis, wenn Sie nach den Monaten und Jahren im All erst einmal Ihre Ruhe haben wollen.»

«Mein, Gott.» Jacko lachte kurz. «Verdammt, was glauben Sie, da draußen ist nichts, totale Stille, die einzigen Geräusche macht man selber. Die einzigen Stimmen kennt man in- und auswendig.»

«Außerdem sind wir gespannt auf das, was wir versäumt haben», fügte Raissa hinzu. «Und was es sonst so weltbewegendes gibt.»

«Dazu ist viel Zeit», sagte die Arbeiterin (oder KI oder was?) Masoud. «Ich schlage vor, wir setzen uns jetzt.»

Kaum saßen sie, verkündete ein melodischer Gong die Abfahrt. Jedoch fuhr nur ihr Segment, während die anderen im Bahnhof zurückblieben. «Es ist normal», beruhigte sie Jennifer. «Wir fahren zu meiner Burg am Kap Lookout. Der Zug fährt bis Portland, während die Züge hinter uns nach Angle, ehemals Los Angeles oder zur Mississippimündung fahren. Diese Bahn ist schon sehr, sehr alt. 2091 hat man mit dem Bau angefangen. Wir werden gut zwei Stunden unterwegs sein. Ich werde versuchen, eine chronologische Einführung in die Ereignisse seit ihrem Abflug bis zum heutigen Tag zu geben. Obwohl, Masoud kann sich besser an die ganze Liste erinnern.»

«Bitte, einen Moment. Ich möchte doch gerne wissen, was Sie sind. Masoud?», fragte Jacko. «Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich meine, ich verstehe nicht, äh.»

«Ich habe die Unsicherheit erwartet. Ich bin Masoud. Bürger Masoud ist ein immobile KI, die zusammen mit Bürger Jennifer in der Nähe von Portland wohnt. Da ich in meiner Eigenschaft als KI keinen direkten Zugang zur Welt habe, wurden 2152 die Arbeiter geschaffen; Menschen mit ausschließlich vegetativen Nervensystem. Alle höheren Systeme werden von einem halbautonomen Computer gesteuert, der wiederum ein Bestandteil meiner Systeme ist. Es ist für sie wie für mich so, als wäre die Person vor ihnen die KI selber. Letztlich haben sich biologische Systeme als weit zuverlässiger als Roboter herausgestellt.»

«Aber wenn Sie die KI Masoud sind, wieso nennt man Sie dann Arbeiterin?» Raissa kam damit Jacko zuvor.

«Nun, es gibt mehrere Arbeiter, die ich steuern könnte. Gleichzeitig kann ich höchstens zwei steuern. Es ist üblich, dass eine KI nur einen Arbeiter hat, der sie voll repräsentiert; alle anderen arbeiten einfach und schweigen. Doch ich verweise auf die viele Zeit, die sie haben, sich damit näher vertraut zu machen.»

«Eines noch.» Jacko war noch nicht ganz zufrieden. «Ich meine, jetzt gibt es endlich KIs. Aber wie fühlst sich eine KI?»

«Das ist schwer zu beschreiben. Ich vermute, Sie spielen auf die Unterschiede von KIs und Menschen an. Ich möchte sie dazu an Jennifer verweisen.»

Jennifer hatte die ganze Zeit schweigend zugehört. «Nun, wenn Masoud mich darum bittet: Also, ich finde, die KIs sind sehr menschlich geraten. Ein paar Unterschiede, die aber keinesfalls auf alle KIs zutreffen müssen, habe ich doch festgestellt: KIs nehmen vieles zu wörtlich, vergessen kaum etwas, können fast nicht lügen und sind nicht sehr kreativ. Sie sind ungeheuer sprachgewandt und sehr fleißig. Sie sind die Stütze der Zivilisation. Und vielleicht könnt ihr bitte mit dem anstrengenden und völlig unüblichen Siezen aufhören?»

«KIs sind nicht so fremd, wie wir immer gedacht haben», murmelte Jacko leise für sich. Es klang fast ein wenig enttäuscht.

Sie nannten sich nochmals ihre Vornamen, obgleich sie jeder kannte, und sie schüttelten sich die Hände. Das Gespräch stockte, als der Zug aus dem Tunnel auftauchte und über die brettebene flirrende Wüste raste. Sie blickten hinaus. Nur sehr langsam hatten sie sich von der recht eintönigen Landschaft satt gesehen, obwohl die Geschwindigkeit von 560 Stundenkilometern alles zu verschwommenen Flecken verwischte.

Masoud brach als erster die Stille. «Ich werde euch jetzt ein wenig von den vergangenen Jahren erzählen. Ich werde mit eurem Abflug beginnen. Als erstes bemerkenswertes Ereignis danach ist die Revolte von Tora d'Bele, einem Teil des Zaire im Jahr 2082 zu nennen. Die Regierung hatte über Prämien, durch Zwang und eine Infektion versucht, Menschen per Genmanipulation nützlicher zu machen. Frauen sollten Eier legen und Milch geben, die Männer sollten Pflüge ziehen und ein nachwachsendes Fell bekommen. Beinahe das ganze Volk lehnte sich dagegen auf, auch noch die Nachbarstaaten schlossen sich an. 2083 schließlich war halb Westafrika in der Hand der Rebellen. Afrika sagte sich aus der Welt los, und kam damit der Isolation durch die Welt zuvor. Doch die Viren begannen trotzdem zu wirken. Insgesamt zwei Milliarden Menschen fanden dabei den Tod oder brachten sich um, als die Viren zu wirken begannen. Es ist nie geklärt worden, ob der Rest der Welt aus Angst zusätzlich selektive Killerviren eingesetzt hatte. Genforschung wird danach für vierzehn Jahre unter Weltkontrolle gestellt, Afrika blieb aber ganz den Tieren und den wenigen Restmenschen auf Steinzeitniveau überlassen.

2102 gab es den Durchbruch in der Computerwissenschaft, es gelang der Bau, persönlich würde ich allerdings das Wort Erweckung vorziehen, von KIs, künstlicher Intelligenzen wie mir. Der Zeitraum nach ihrer Abreise allgemein durch eine zweite heftige Entwicklung der Wissenschaften gekennzeichnet. So gab es 2096 die erste höhere Lebensform, deren DNA von Anfang bis Ende künstlich war. Im gleichen Jahr wurde dies legalisiert, da man die Hoffnungslosigkeit einer Kontrolle einsah, schließlich sind nur wenige Sachen für Genforschung nötig. Jeder hat die Rohstoffe.

Immerhin konnte so die Gentechnik den erhofften Beitrag zur Ernährung leisten, für dreißig Jahre zumindest. 2150 spätestens begann jedoch die nächste Krisensituation. Die Bevölkerung hatte sich bei 11 Milliarden eingepegelt; jedoch neigten sich einige dringend benötigte Rohstoffe dem Ende zu, vor allem Nickel und Platin. Auch waren die Fläche der weltweit nutzbaren Ackerböden durch Erosion, Kriege und Umweltverschmutzung unter das notwendige Minimum gesunken, auch das ganze Afrika fehlte schließlich. Man igelte sich ein, es wurde aufgerüstet und erste Kriege begannen.

2183 kam dann der Komet.»

«Warte mal», unterbrach Jacko ihn. «Wenn man Energie genug für ein Sternenschiff produzieren kann, dann sollte doch ein Komet aus der Bahn zu werfen sein. Und wieso hat die Früherkennung nicht funktioniert?»

«Der Komet wurde erst im Frühjahr 2182 entdeckt. Erst innerhalb der Marsbahn brach er spontan in zwei nahezu gleich große Hälften. Die Erde war erst zu diesem Zeitpunkt gefährdet. In aller Eile hatte man ein Ablenkungskommando aufgestellt. Der Komet sollte den Mond treffen, der zu diesem Zeitpunkt günstig stand. Doch drei Tage nach der Installation des Antriebssystems gab es eine Explosion, deren Ursache nie geklärt werden konnte. Alle Menschen und KIs starben dabei und die Ausrüstung wurde vernichtet. Ersatzmannschaften kamen zu spät, der Komet raste schließlich zweihundert Meter über den Mond hinweg, zerbrach dabei in siebzehn größere Teilstücke, die fast alle auf Europa abgelenkt worden waren. Der Komet hatte noch immer hyperbolische Geschwindigkeiten, Europa hatte weniger als drei Stunden Vorwarnzeit.

18 Teilstücke bis zu 10.000 Tonnen schlugen an verschiedenen Stellen Zentraleuropas ein. Zwei Milliarden Menschen starben. Nur die Hochgebirge und Teile der britischen Insel und Nordnorwegens sind noch über dem Meeresspiegel. Das Mittelmeer wurde ein Binnenmeer, das Niltal, Israel und die Arabische Halbinsel überflutet. Der Golfstrom ging jetzt weiter in die Arktis und schmolz größere Teile der Eisflächen. In den folgenden Fluten, strengen Wintern und den drastischen Klimawechseln und durch das daraus folgende Sterben der hochspezifischen gentechnisch angepassten Getreide starben weitere sechs Milliarden. Dazu kamen Erdbeben und ein sogenannter nuklearer Winter. Resteuropa blieb so bis heute vergletschert. Nur das mittelasiatische Festland, Australien und das zentrale Nordamerika haben diese Zeiten halbwegs unversehrt überstanden. Das zentrale Südamerika auch, doch war diese Region auch damals nur relativ dünn bevölkert gewesen. Die nächsten 500 Jahre widmete die Menschheit mehr dem persönlichen Überleben.

Die USA brachen auseinander. Restindien erlebte einen Hungeraufstand, der die gesamte Region erfasste und schließlich bis weit in China herein das Land in kleine und kleinste Besitztümer zerteilte. Als letzte Supermacht verblieb Australien. Doch es blieb eine Insel der Seligen und mischte sich nicht weiter ein. Die ganze Welt bestand aus mehreren tausend Kleinstaaten.

2759 wurde die Union der Nordamerikanischen Bürger gegründet, letztlich um gegen die Mutantensklaven zu kämpfen, auch sie ein Produkt der Rüstungsgenforschung kurz vor dem Kometen. Dieser Krieg wurde nie richtig ernst, zu wenig Freiwillige gab es, zu aussichtslos war es in der Unterzahl gewesen. Aber der Unionsgedanke ging weiter, 2800 war ganz Nord- und Südamerika eine Union. Jetzt einigte man sich. Sie bekamen Afrika, einen verwilderten menschenleeren Kontinent. Gegen 3000 gab es schließlich drei Bürgerblöcke: Amerika, Australien und China, bis auf letzteres mit einem Wohlstand, vergleichbar dem Europas zum Zeitpunkt eures Abfluges.

China eroberte 3131 Indien und die dazwischen liegenden Staaten, die Mongolei hatte sich bereits 2641 angeschlossen. Nördlich davon wohnte praktisch niemand mehr. Diese Eroberung war von der Bevölkerung eher erwünscht, entmachtete sie doch oft die grausamen lokalen Fürsten. Gleich darauf begann China mit dem Bau einer neuen Mauer. Schon 3200 war sie weitgehend fertig.

Nachdem praktisch nur noch drei Parteien die zivilisierte Menschheit vertraten, konnte man sich über eine Weltcharta einigen. Seit dem 1.1.3211 gilt die Weltcharta. Waffen sind abgeschafft, Energiesatelliten werden gemeinsam neu gebaut und die Erschaffung intelligenter Lebensformen mittels Gentechnik wieder einmal verboten. Es gibt eine Charta zum Schutz der Bürger: Menschen und KIs.

3317 wurden Wahlen in Amerika abgeschafft, da es weniger Kandidaten als Posten gab und die Regierungsgewalt ganz einem KI-Konsortium zugeführt. Durch die sinkende Bevölkerung und dem steigenden Lebensstandard sah sich das Konsortium ermöglicht, Geld abzuschaffen. Praktisch jeder materielle Wunsch kann in einiger Zeit erfüllt werden.

Heute ist der 15.1.3423, die Bevölkerung Nordamerikas beträgt 1.473.281 Bürger, davon eine Million KIs. Insgesamt leben auf der Welt 450 Millionen Bürger, davon fünf Million KIs. China hat davon 420 Millionen Bürger, Australien 20 Millionen, davon vier Millionen KIs.

So sind die Lebensstandards weltweit recht verschieden: Chinas Bauern leben wie seit viertausend Jahren unter einem Kaiser. Australien hat einen Lebensstandard vergleichbar mit unserem, auch dort wurde das Geld abgeschafft. Wenn ihr mehr wissen wollt, fragt. Ich wäre jedoch genauso an einer Schilderung euer Lebensverhältnisse zum Zeitpunkt des Abfluges, wie auch an dem Flug selber interessiert.»

Jennifer ergänzte sofort: «Zu Hause würde ich gerne meine Bibliothek mit euren Kenntnissen vergleichen. Es wäre sehr interessant. Aber erzählt lieber von eurem Flug, solange die Erinnerungen noch frisch sind. Masoud wird aufzeichnen.»

Raissa wechselte einen Blick mit Jacko. Er verlor, also würde er erzählen. Es war ihm schon vorher klar.


 
Es war Abend, als Tariff Hufgetrappel hörte. Schon von weitem erkannte sie Tira. Er kam von Norden, auf dem Weg von Portland. Er hatte die Handelsuniform an. Haupthaar und Mähne flogen nur so dahin. «Tariff(sie)!», rief Tira, völlig außer Atem.

Tariff kam ihm entgegen. «Tira(er)!» Sie warfen sich in die Arme. «So schnell zurück?» Nach einem Blick auf die prallen Satteltaschen fügte sie hinzu: «Wie ich sehe, gehen die Geschäfte gut.»

«Ich bin schließlich der einzige Händler hier in der Gegend. Außer dir, natürlich. Hier, ein weiteres Solarpanel für das Dach.»

«Tira, nein, ich habe genug. Nimm es für dich selber. Nichts freut mich mehr, als wenn du Gewinn machst. Komm, ich war gerade dabei, Kaninchen zu braten.»

Sie schnallte Tiras Satteltaschen ab. Dann ging Tariff ins Haus, während Tira sich mit einigen Eimern Wasser abkühlte und gleichzeitig den Schweiß abspülte. Dann ging auch er hinein.

Das Kaninchen war schon fertig. Nur eine zweite Portion Eicheln musste noch etwas kochen, aber Tira fing, von Tariff ermuntert, schon mit dem Essen an.

«Tariff, es schmeckt, wie immer bei dir, hervorragend. Aber weißt du, was ich gehört habe: Ein Raumschiff, ein Sternenschiff ist mit zwei Menschen zurückgekehrt. Ich habe zufällig die Holos gesehen und aufgenommen.»

«Zurückgekommen? Es wurde doch keins erwartet! Es ist keine Propaganda?» Tariff vergaß sofort das Essen und holte ein zerschrammtes Terminal hervor. «Ich hoffe, die alte Kiste geht noch. Ich habe es schon lange nicht mehr benutzt.» Sie klemmte es an die 12 Es startete. Sie schob die Karte herein.

«Ich habe leider nur die Szene gesehen, wo die zwei Menschen aus einem Shuttle steigen», sagte Tira. «Aber wozu wäre diese Propaganda gut? Nicht, dass die KIs nicht seltsame Einfälle hätten.»

«Gleich wissen wir es. Computer: Alle bemannten Sternenschiffe, mit Startjahr, Besatzung und Status, als Listing bitte.»

«6 Schiffe. Listing kommt:

- Wun-Ti (2037) 250 Leute, Kolonieschiff, evt. Erfolg

- Frieden im All (2038-2182) 4 Leute, Forschungsschiff nach alpha Centauri und GC 2159, Erfolg

- Tigersprung (2038) 22 Leute, Kolonieschiff, Kolonie gegründet, verm. Erfolg

- Enterprise (2040) 1000 Leute, Forschungs- und Kolonieschiff, min. 2 Kolonien gegründet, seit 3040 überfällig

- Dädalus (2041) 2 Leute, Forschungsschiff, seit 2107 überfällig

- Frieden im All (verm. 2183) verm. 6 Leute, verm. als Kolonieschiff, evt. Erfolg

- Siberius (3271) 17 Leute, Kolonieschiff, vermutlich 30 pc entfernt

Weitere Daten verfügbar.»

Sie schwiegen einen Moment lang. «Im Prinzip könnte es jedes dieser Schiffe sein.»

«Außer vielleicht dem Neusten», fügte Tira hinzu. «Und es waren nur zwei, die sahen nicht wie Chinesen aus. Ich tippe auf Frieden im All, schließlich haben die es schon einmal geschafft.»

«Egal, unglaublich, Leute, Menschen aus dem All. Das ist wirklich eine Sensation! Ich hab da etwas ganz Spezielles.» Sie war schon halb zur Tür hinaus, drehte sich dann noch einmal kurz um: «Los, kümmere dich um die Eicheln und die Soße, ich bin gleich wieder zurück.»


 
Die Bahnfahrt war eindrucksvoll. Zwar waren sie oft in kurzen Tunnels, doch die Blicke, die sie in der Zwischenzeit erhaschen konnten waren großartig. Die Landschaft war von hohen Bergen und tiefen Tälern geprägt -- doch anders als in Europa waren die Berge hier Vulkane, die sehr hoch waren und zugleich weit auseinander standen. Dann wurde die Landschaft wieder flacher, und der Zug beschleunigte noch etwas.

Die Sonne verschwand schon hinter den fernen Küstenbergen, als der Zug langsamer wurde. Einige Häuser waren einen Moment lang weit weg an einem Flussufer zu erkennen, Rausch stieg aus ihren Schornsteinen, doch dann tauchte die Bahn wieder in die Erde ein. Sie hielten in einer Station, die genauso aussah, wie die des Stützpunktes in der Wüste. Nur stand hier Portland auf dem Stationsschild. Sie stiegen aus und gingen zum Fahrstuhl.

«Es sind noch gut hundert Kilometer. Wir werden einen Flieger nehmen», erklärte Jennifer. «Masoud hat ihn sicher schon bestellt?»

«Zehn Minuten braucht er noch.»

Die Türen fuhren auseinander. Sie standen an einer Betonpiste. Die Häuser, die die Stadt Portland ausmachten (es waren bestimmt nicht mehr als hundert, wenn sie nicht einige übersehen hätten), standen einige Kilometer nördlich. Sie setzten sich auf eine Bank neben dem Fahrstuhl in die Sonne. Knapp zweihundert Meter nach Osten floss der Wilamette River, fast so groß wie der Rhein. Jacko zog es unwiderstehlich zum Wasser: Das Gurgeln des Wassers war eine angenehme Abwechslung.

Auf dem Rückweg sah er dann die Station zum ersten Mal bewusst: Eine grüne Grasebene, durchschnitten von einer schnurgerade Betonpiste. Auf einer Bank, neben einem rechteckigen drei mal drei Meter messenden Klotz -- dem Fahrstuhl eben -- saßen sie: drei Gestalten im letzten Abendlicht; wie eine moderne Theaterkulisse. Er lächelte und flüsterte es dann Raissa in das Ohr: sie begann sogar zu kichern und schließlich, als sich Jennifer und Masoud verblüfft/überrascht und etwas hilflos umdrehten, da kannten sie kein Halten mehr und mussten schallend loslachen.

Erst als die Geräusche eines Ultraleichtflugzeuges die komische Stille dieser Szenerie zerstörte, fingen sie sich wieder. Das Flugzeug landete und kam genau vor der Bank zum Stillstand. Es hatte vier Plätze. Natürlich fehlte ein Pilotensessel, bestimmt war es KI-gesteuert.

Sie waren drinnen und saßen bequem, da starteten sie schon. Sie flogen jedoch nicht auf den Columbia-River zu, sondern nach Südwesten zur Mündung eines Flusses namens Trask. Dort wiederum war ihr Ziel eine Lagune neben einem weit in das Meer ragenden Kap, dem Kap Lookout (=Ausblick). Sie flogen zwar nicht sehr hoch, trotzdem konnten sie kaum Spuren von Siedlungen erkennen. Einmal sahen sie ein Dorf, und ringsherum bestellte Felder. Sie glaubten Rauch aus den Schornsteinen aufsteigen zu sehen, doch in dem Zwielicht mochte es ebensogut Nebel sein.

Schließlich erreichten sie das Meer: Den Pazifik. Die letzten Reste eines wunderschönen Sonnenunterganges konnten sie am westlichen Horizont bewundern. Das Flugzeug ging langsam tiefer. An einem Uferstreifen stand ein einfaches Haus und ein langer Holzsteg: ihr Ziel.

Sie stiegen aus und warteten einen Moment, bis Masoud das Flugzeug an die Stromversorgung angeschlossen hatte, um die Akkus zu laden. Es begann sie zu frösteln in der frischen Luft, waren sie doch nicht anderes als Temperaturen von 290 bis 300 Kelvin im Raumschiff gewöhnt.

Raissa holte aus dem Schuppen zwei Tiere. Von weitem hatten sie sie für Pferde gehalten, doch sie hatten sechs statt vier Beine und waren folglich doppelt so lang. Dafür waren sie wesentlich schlanker, wirkten ein wenig wie Windhunde. Jedes der Tiere hatte einen Sattel zwischen dem ersten und zweiten und dem zweiten und dritten Beinpaar. Fasziniert und unsicher berührten sie die Tiere.

Raissa tätschelte den Kopf. «Sind die echt?»

«Ach so, hätte ich vorher daran gedacht, hätte ich sicher vierbeinige Pferde aufgetrieben. Ich hoffe, das ist kein Problem.»

Jacko schüttelte den Kopf: «Macht nichts. Wir können eh nicht reiten. Ist es weit? Dann würden wir laufen.»

«Nein, dazu ist es zu weit und zu dunkel. Masoud und ich werden vorne sitzen, ihr müßt einfach ruhig sitzen. Es sind echte Tiere nicht ferngesteuert. Aber sie sind so lieb, ihr werdet es schnell gelernt haben, mit ihnen umzugehen. Und sie sind so anhänglich. Komm, steig auf. So.» Sie zeigte Raissa, wie man aufsaß. Jedoch war sie die doppelte Schwerkraft gewöhnt, so dass sie fast auf der anderen Seite wieder heruntergefallen wäre.

Jacko folgte ihrem Beispiel, sprang jedoch aus dem Stand voll Wagemut auf den vorderen Sattel. Masoud, die KI/Arbeiterin saß hinter ihm. Er/sie erklärte ihm halblaut die nötigen Befehle. Was ihn anfangs irritierte, war der Geruch der Tiere. Das Pferd, auf dem sie saßen, roch nach Ananas, das andere nach Kirschen. Es war sehr merkwürdig.

Es war entgegen Jennifers Aussagen nicht sehr weit, vielleicht acht Kilometer; allerdings stieg der Weg steil an, sie mussten vielleicht 300 Meter hoch und wieder 100 herunter. Als sie am ersten Hügel waren, da sahen sie den Wohnsitz. Nicht umsonst hatte Jennifer ihn Burg genannt. Auf dem ganz außen liegenden niedrigeren grasbewachsenen grünen Hügel erhob sich eine sehr schottisch wirkende kleine Burg aus Feldsteinen. Auf allen drei Seiten fiel die Küste steil ab, so dass der höchste Turm fast hundertfünfzig Meter über dem Meer lag. Es war atemberaubend. «Es ist wunderschön.» Mehr war zu sagen nicht nötig.

Sie ritten durch das Tor in den Hof. Fackeln verbreiteten flackerndes Licht. Jemand nahm ihnen die Pferde ab, doch Jacko wollte unbedingt sehen, wo diese untergebracht waren. Die anderen gingen inzwischen voraus.

Sie gingen in eine größere Halle. An einem Ende brannte in einem großen Kamin ein gewaltiges Feuer. An den Wänden brannten Kerzen. Eine Tafel für zwölf Personen füllte den Raum zur Hälfte. An der einen Seite waren die Fenster zum Meer. Dazwischen hingen Wappen und darunter eine oder mehrere Waffen. An der Stirnseite, dem Kamin gegenüber, war ein riesiger Wandteppich aufgehängt. Er war aber erst zur Hälfte fertig.

Raissa war stark beeindruckt. «Ist das alles echt?»

Jennifer lächelte: «Ein größeres Kompliment kannst du mir kaum machen. Es ist alles so orginalgetreu wie möglich gebaut. Aus alten Unterlagen rekonstruiert. Alte Filme und so. Die Originale gingen mit Europa fast alle verloren.»

«Es wirkt wirklich echt.»

«Ist es ja beinahe. Gebaut wie in Schottland, die gleichen Bautechniken, die gleichen Materialien. Mit ein paar netten Verfeinerungen, wie Isolierglas und einer Fußbodenheizung. Im Prinzip aber genauso dauerhaft gebaut, wie die Originale.»

Sie liefen herum. Berührten den Stein, öffneten die Fenster, sahen und hörten das Meer gegen die Klippen branden. Es klapperte hinter ihnen, das Abendbrot wurde gedeckt. Auch Jacko hatte sich eingefunden. Er schwärmte von den Tieren. Zum Abendessen gab es Graubrot mit Wurst und Käse. Wie schön wieder auf der Erde zu sein!

Jennifer führt sie in ihr Quartier im Turm. Es gab eine Dusche und ein Bett. Ausgelegt war der Boden mit Fellen. Sobald sie im Bett auf dem Bett lagen, spürten sie ihre Müdigkeit: Seit 31 Stunden waren sie auf den Beinen. Noch dazu waren die Betten ohne die doppelte Schwerkraft wie im Raumschiff ungewohnt komfortabel. Sie schliefen lange und fest.


Gäste

Es war nachmittag, als sie aufwachten. Sonnenlicht flutete durch das kleine Fenster herein. Sie duschten sich und probierten dann die Kleidung an, sie Jennifer oder ein Arbeiter ihnen, während sie schliefen, gebracht hatte. Jeans und ein Holzfällerhemd, nicht sehr modisch aber praktisch. Erst jetzt fiel ihnen aus, wie muskulös sie im Vergleich zu den anderen geworden waren. Beim Wiegen stellten sie fest, dass Jacko fast 115 und Raissa immer noch 98 wog.

Frisch geduscht und ausgeruht kam erst Raissa und dann auch Jacko in den Saal. Dort wartete die Arbeiter Masouds auf sie. Sie servierten ihnen ein englisch/amerikanisches Frühstück mit Spiegeleiern, Würstchen und Speck, Toast und bitterer Orangenmarmelade, Saft und Tee. Es war herrlich, auch wenn es schon zwei Uhr nachmittags war.

Raissa wollte in die Bibliothek zu Jennifer; außerdem wollte sie sich über die Fortschritte in der Geophysik in den letzte 1300 Jahren informieren.

Jacko hingegen wollte erst einmal ausspannen. Er sah nach den Pferden. Besonders Joe, wie er das Pferd mit der Blässe auf der Stirn und den weißen Fesseln mit dem langen Fell getauft hatte, hatte es ihm angetan. Joe hatte scheinbar auch schon lange keine so intensive Zuneigung erfahren und genoss es sichtlich. Schließlich wollte er wieder reiten, alleine. Der Stallbursche, auch ein Arbeiter von der Schloss-KI Masoud, zeigte ihm, wie man richtig sattelte, erinnerte noch an die nötigen Kommandos und gab ihm einen Computer mit: eine Art Scheckkarte. Die würde ihm zur Not den Weg zur Burg zurück erklären.

Endlich ritt er los. Zuerst langsam doch schließlich hatte er, so glaubte er zumindest ein Gefühl für Joe entwickelt. «Lauf Joe!», rief er und fast als hätte er ihn verstanden, lief Joe los. Dass Joe sechs Beine statt deren vier hatte, schien ihn nicht zu stören. Er galoppierte wie ein Teufel.

Die Burg lag auf dem ersten von drei Hügel, die das Kap Lookout bildeten. Der erste war der niedrigste, vielleicht hundert Meter, er hatte Jennifer nicht danach gefragt. Der zweite war gut die Hälfte höher und mit Wald bewachsen; einem Wald aus hohen schnurgeraden Oregon-Pinien, mit einem Unterholz aus Farnen und Beerendickicht. Der dritte Hügel war fast doppelt so hoch wie der erste Hügel draußen mit der Burg, fast so hoch wie die Berge am Ufer. Seit sie hier waren, hatten sie noch nie die Spitze dieses Hügel oder das Land dahinter sehen können, da bei Nordwest- bis Norostwind die feuchte Seeluft an dem Hügeln des Kaps aufstieg und sofort kondensierte. Auf der Südseite war es dann sonnig und schwül (zumindest im Vergleich zum Raumschiff).

Die Landschaft um die Burg war sehr authentisch, so sich Jacko noch an Schottland erinnern konnte. Zumindest an der Nordseite des Kaps glaubte man wirklich, sich mitten in den nebligen Highlands zu befinden. Auf dem dritten Hügel war der Wald teilweise gerodet worden, dort begannen grüne Wiesen. Sogar niedrige Zaunwälle aus Feldsteinen gab es. Er wollte es wissen und lenkte Joe auf einen der Wälle zu. Joe zögerte keine Sekunde und sprang. Und wie er springen konnte, seine drei Beinpaare waren dazu gerade ideal.

Zwei Schafherden begegnete er unterwegs, mit Schäfer und Hund. Er grüßte freundlich und sie antworteten mit so einem heftigen Dialekt, das es schon fast wie eine Fremdsprache klang. Wieviel Arbeiter hier lebten! Hier war Bürger richtig mit Bourgeoisen übersetzt.

Schließlich meldete sich der Computer in seiner Hosentasche: «Wir sollten umkehren. Es könnte sonst kein Tageslicht auf dem Rückweg herrschen oder ihr Pferd überanstrengt werden. Dieses Risiko sollten wir vermeiden.» Diesen Spruch wiederholte der Computer immer öfter, bis Jacko schließlich nachgab. Dabei war der gute Joe noch keineswegs müde.

Wieder im Stall striegelte er Joe, der es ruhig über sich ergehen ließ, ja genoss, da war sich Jacko sicher. Das andere Pferd, Jasmine schaute (neugierig?) zu.


 
Raissa saß in der Bibliothek. Jennifer war nicht da, aber Masoud half ihr, Informationen über Atmosphärenphysik oder was sie auch immer suchte herauszufinden. Es war recht wenig. «Masoud, ich bin immer wieder überrascht, wie wenig Fortschritt es in den letzten 1400 Jahren gegeben hat.»

«Ich verstehe. Historisch betrachtet waren er mehrere Faktoren. Zum einen war seit dem Kometen lange Zeit Forschung ein Luxus. Das Bewahren der Kenntnisse war schwer genug. Seit dem Staatenbund war Forschung möglich, jedoch war die Gesellschaft schon damals stark individualisiert.»

«Was meinst du damit?»

«Die Gesellschaft ist vereinzelt. Eine Menge Leute leben jeder für sich; genau wie Jennifer und ich hier auf der Burg. Keine Stadt beherbergt mehr als 1000 Bürger.»

«Ich verstehe den Zusammenhang trotzdem nicht!»

«Wenn jemanden etwas interessiert hatte, dann wurde Forschung in diese Richtung angestellt. Wirklich brauchbare Ergebnisse sichern selbstverständlich hohe Anerkennung. Allerdings ist es oft einfacher, eine kühne Theorie zu torpedieren. Es ist doch so, je besser es den Leuten geht, umso träger werden sie. Schon die Römer waren»

Raissa unterbrach ihn. «Ja, aber jetzt, wo es künstlichen Intelligenzen gibt, ich meine, seid ihr nicht neugierig? Ich meine irgendwie ... »

«Leider erwartest du zuviel. Ohne Menschen wären wir fast nichts. Menschen prägen uns, setzen Ziele. Vielleicht ist das Wort erziehen eine brauchbare Metapher. Solange sich also niemand in den Kopf setzt, eine künstliche Intelligenz zur Erforschung der oberen Atmosphäre zu schaffen, solange wird sie eben nicht erforscht. Nur wenige KIs könnten ihre Ziele nach dem Tod des prägenden Bürgers weiterverfolgen oder wollen dies auch nur. Deshalb beneide ich die Raumfahrt-KIs so sehr: Sie warten die Energiesatelliten, deshalb sind sie unverzichtbar. Das ist so ziemlich die angesehenste Tätigkeit, die sich eine KI erträumen kann.»

Eine längere Pause entstand. «Welches Ziel hat dir Jennifer gegeben?»

«Ihr eigenes: Soviel wie möglich der Industrialisierung und der Expansion zu rekonstruieren. Unsere besondere Spezialität sind die letzten fünfhundert Jahre vor dem Aufschlag.»

Raissa blätterte wieder länger in den Indizes und Kurzzusammenfassungen. «Gab es in den letzte 1400 Jahren irgendwelche bemerkenswerten Entdeckungen die Physik betreffend?»

«Seit 2041 gab es sieben weitere erfolgreiche Theorien zur Vereinigung aller vier Grundkräfte. Alle diese Theorien haben einen anderen Lösungsweg, geben jedoch die gleichen Ergebnisse. Alle haben sie, wie auch die zwei schon vorher bekannten Vereinigungstheorien jedoch eine Anzahl freier Parameter.»

«Das ist ja nicht sehr befriedigend. Die Natur soll so wahllos sein?» Raissa wartete auf eine Antwort. «Nun, Masoud, kannst du darauf antworten?»

«Das ist eine sehr spekulative Frage. KIs spekulieren schlecht. Mensch sind viel besser darin. Aber es gab mehrere Versuche, diese Vielfalt an Theorien zu erklären. Die einzige ersthafte Arbeit behandelt besondere Geometrien, allgemein zitiert als: Schamirow. Mathematik der Topologie. Ist aber nicht ganz fehlerfrei und wurde deshalb nach seinem Tod nicht weiterverfolgt. Ich bin mit Physik nicht sehr vertraut, jedoch wurden seine Thesen damals viel diskutiert. Soll ich alle verfügbaren Unterlagen dazu besorgen?»

«Ja, es klingt interessant.» Ein wenig resigniert murmelte sie es mehr für sich selber: «Auch wenn meine Theorievorlesungen 1400 und entscheidende sieben Jahre zurückliegen.»


 
Jacko, Raissa, Jennifer und die aktuelle Personifizierung von Masoud saßen am großen Tisch und aßen Abendbrot. Masoud war als König erschienen, Jennifer als eine Königen. Sie hatten das Spiel mitgemacht und waren als Edelleute gekleidet. Es gab ziemlich echten schottischen Graupeneintopf -- naja. Weniger eine gefräßige denn eher eine betretene Stille herrschte, nur das Holz im Kamin knackte. Schließlich wurde Raissa des Schweigen zu lang. «Masoud hat mir heute erzählt, dass eine KI immer nur ein vorgegebenes Ideal verfolgt.»

«So ganz kann ich das natürlich nicht stehen lassen», erwiderte Masoud. «Wir suchen uns den Menschen aus, dem wir helfen wollen. Insofern wählen wir schon selber ein Ziel.»

Jackos Interesse war geweckt. «Gab es denn schon einmal KIs, die sich die Ziele anderer KIs zu eigen gemacht haben?»

«Ich denke, du meinst etwas anderes. Eine KI, die einer KI folgt, die einem Menschen folgt, ist dasselbe wie zwei KIs, die einem Menschen folgen. Du meinst, hat sich sie eine KI selber Ziele gesetzt, die andere KIs bewogen haben, dieser deswegen zu folgen?», korrigierte Masoud.

«Genau. Gab es nun so etwas?»

Masoud verzog zum ersten Mal das Gesicht. «Ja. Vor 172 Jahren lief eine KI zu diesen Mutanten über, ohne mehr als alle anderen darüber zu wissen. Zwei KIs sind ihr damals gefolgt. Wir reden nur ungern darüber, schließlich sollten gerade KIs zu ihren Schöpfern, den Bürgern, loyal sein. So ist nur bekannt, dass es drei KIs aus dem Gebiet des damaligen Delawares waren, alle stammten aus der Verwaltung. Es ist fast eine KI-Legende, nur ist es wahr, und die Spekulationen darüber sind ebenso phantasievoll wie unnütz. Vielleicht war es Sabotage. Grauenvoll! Wir haben seit damals jeden Funkverkehr von Nichtbürgern unterbunden. Doch die KIs haben einfach aufgehört zu funken. Vielleicht sind sie tot, wer weiß.» Masoud bracht abrupt ab.

Alle schwiegen betreten. Als die Stille unangenehm wurde, sprach Jennifer enthusiastisch vom Tanzen. Sie ließen sich dazu überreden. Leider hatte sie nicht gesagt, dass sie englische und schottische Tänze meinte -- Squaredances, Steptänze und andere. Alle fünf Arbeiter und die drei Menschen reichten gerade aus. Es war anstrengend, aber man konnte sich halbwegs der Führung der Arbeiter anvertrauen und irgendwann machte es sogar etwas Spaß. Nichtsdestotrotz wäre ihn eine Disco lieber gewesen; wenn, ja wenn sie nicht schon vorher gewusst hätten, dass dann fast alle Tänzer Arbeiter sein würden.

Obwohl sie erst sehr spät aufgestanden waren, erreichte die Tanzerei doch ein Ziel: Sie waren müde genug, kurz nach Mitternacht einzuschlafen. Und dazu in diesen bei Normalschwerkraft himmlisch weichen Betten.


 
Tariff wurde von Hufgetrappel geweckt. Es war Tira, er lief hin und her, um warm zu werden. Es war zwar wieder ein wunderschöner Morgen, doch es war kalt, Rauhreif hing an den Ästen am Rand der Lichtung, der Atem bildete große weiße Wolken. Tariff fror trotz der Decke leicht. Je länger sie in der Wildnis lebte, desto dankbarer war sie über ihr dichtes weißes Fell. Tira dagegen hatte sich in zwei Decken gehüllt und noch eine über den Pferdekörper gelegt.

«Ehrlich, Tariff. Ich verstehe nicht, wie du das bloß aushältst. Fast die ganze Nacht habe ich kein Auge schließen können, so habe ich gezittert.»

«Du hättest Bescheid sagen können. Dann hätten wir zusammenrücken können; oder ich hätte dir meine zweite Decke gegeben. Na los, rennen wir bis zur Lichtung mit den gefrorenen Hagebutten. Los!»

Sie rannten los, bis sie die Lichtung erreichten. Tira war knapp erster. Keuchend schimpfte er: «Tariff, das, ist, gemein. Du, rennst, nicht, mit, voller, Kraft.»

Sie lächelte, so es keuchend überhaupt möglich war: «Nein, dann kann, ich meinen, Verstand sonst, nicht benutzen.» Und dann meinte sie noch: «Und wenn, wir schon hier, sind dann können, wir doch gleich, bis zur Hütte gehen, die Decken, wegbringen, und Schoko machen. Diesmal renne, ich richtig, Ehrenwort!»

Das tat sie auch. Sie konnte immer noch Tira abhängen. Sie musste sich zwar heftig anstrengen, doch nach fünf Minuten war er zweihundert Meter zurück. Sie hätte Rennzentaur werden sollen, hätte ihr der Ruhm als weißer Zentaur nicht gereicht. Der schnellste Zentaur ist ein reinrassiger weißer Zentaur: Brr, sie musste sich bei dem Gedanken an den Aufruhr, den es dann erst recht um sie gegeben hätte, bei so einer Vorstellung musste sie sich schütteln.

Es waren noch mehr als fünfzig Kilometer zur Hütte. Das Sprinttempo konnte sie natürlich nicht durchhalten, außerdem war Tira besser im Training, schließlich machte er ja als Handelszentaur jetzt regelmäßig weite Reisen mit Gepäck. Sie wurde langsamer, bis sie ihn wieder hörte. So ging es anderthalb Stunden lang, bis die Hütte auftauchte.

An der Hütte kippte sie sich erst einmal einen Eimer Wasser zur Abkühlung über sich und holte noch einen zweiten hoch, bevor Tira kam. Sie musste ihn stützen. Er sagte irgendwas, doch keuchte er so, dass sie nicht ein Wort verstand. Dankbar genoß er das kalte Wasser. Sie holte noch einen zweiten Eimer hoch.

Immer noch schwer atmend folgte er in die Hütte und warf sich auf die Bettbank. «Tariff, es ist einfach frustrierend, dich zu kennen. Du bist der klügste, schnellste und auch noch schönste Zentaur, den ich überhaupt je gesehen habe. Die Krönung der Zentauren.»

Sie fuhr herum: «Es reicht. Wegen solcher Sprüche bin ich hierher gekommen. Solche Sprüche könnten mich genauso gut wieder dazu bringen wegzugehen.»

«Sei objektiv: Du hast dir alle Auszeichnungen verdient.» Einen Ton wütender fügte er noch hinzu: «Ich dachte, du weißt, dass ich dir nicht einfach so schmeichele. Wenn ich nicht einmal das von dir gelernt hätte, dann würde ich wirklich dumm sein!»

«Es tut mir Leid. Mein Blut hat im Moment mehr die Muskeln als das Gehirn versorgt. Willst du Kakao?» Sie lächelte verschmitzt. «Dann musst du mich melken. Das letzte Mal ist es vier Tage her, einen halben Liter solltest du schon zusammenbekommen. Und Übung kann nie schaden, wenn du mal einen Partner findest, wird er es dir danken.»

Tira lief rot an.

«Damit wir uns nicht missverstehen: Nur melken! Und sanfter, bitte.» Es wäre gelogen, wenn Tariff es nicht auch genossen hätte.

 
Sie hatten lange gefrühstückt, es ging auf den Nachmittag zu. Die Marshmellows am Abend waren zwar nett gewesen; doch lange hatten sie nicht vorgehalten. Jetzt waren sie so richtig satt. Es gab zwei Möglichkeiten: Schlafen oder Laufen. Natürlich entschied Tariff sich für letztere. Tira schlief schon, als sie lostrabte.

Einige Schleierwolken standen am Himmel, vielleicht würde es morgen schlechter werden. Aber wie konnte sie sich beschweren, es war wunderschönes Wetter für diese Jahreszeit. Langsam lief sie durch den kahlen Wald, als sie leise Hufe klappern hörte. Sie lief näher, so schnell sie es wagte.

Dann sah sie es: Es war ein sechsbeiniges Pferd, geritten von einem Menschen. Sie hielt einen Moment den Atem an: Lange hatte sie kein sechsbeiniges Pferd mehr gesehen. Sie hatte vergessen, wie groß und eindrucksvoll sie waren. Sie bewegten sich voller Anmut, trotz der sechs Beine. Tariff bekam schon bei dem Gedanken daran Kopfschmerzen, aber andererseits war ja den Bürgern ebenso unklar, wie Tariff sich nicht in ihren vier Beinen verhedderte. Genauso eindrucksvoll wie das Pferd war dieser Mensch. Er war ziemlich groß, bestimmt zwei Meter und sehr kräftig. Deswegen hatte sie sich zuerst verschätzt, sie für näher gehalten, als sie waren. Es musste ein Arbeiter sein, so wie der aussah.

Sie folgte ihnen vorsichtig. Sie hielten genau auf den Strand zu, wo von vorgestern noch Tiras Handelsgüter lagen. Verdammt! Immerhin lief das Pferd sehr langsam, sie würde vor ihnen dort sein, selbst mit einem kleinen Umweg.

Sie preschte los. So viel wollte sie heute eigentlich nicht mehr galoppieren, keuchend erreichte sie vor dem Pferd mit dem Menschen den Strand. Schnell packte sie die Sachen zusammen und versteckte sie in einem Busch am Waldrand. Dann verwischte sie, so gut es ging, ihre Hufspuren. Noch während sie dabei war, hörte sie das Pferd kommen. Sie lief den Strand entlang nach Süden, im letzten Moment erreichte sie den Trampelpfad und war außer Sicht. Kurz darauf konnte sie rechts abbiegen und war auf einem Hügel, von dem man zwar den Strand überblicken konnte, man selber aber nicht gesehen wurde.

Der Mensch hatte sein Pferd zu mehr Eile angespornt. Doch viel Erfahrung konnte er noch nicht haben, denn das Pferd simulierte hervorragend einen müden Galopp, und der Mensch gab sich damit zufrieden. Sie musste lachen.

Noch bevor Pferd und Mensch ihre Spuren bis zum Ende des Strandes verfolgt hatten, ließ er das Pferd anhalten. Dann stieg er ab und zog sich seine, wie hießen gleich diese Dinger, Tira könnte es sicher sagen, richtig seine shoes zog er aus. Zum ersten Mal sah sie Menschenfüße in echt -- leider war sie zu weit weg für Details.

Der Mensch krempelte seine, äh, trousers hoch und watete dann in der Brandung. Sie fröstelte bei dem Gedanken an das eiskalte Wasser. Plötzlich rannte der Mensch auf seinen zwei Beinen los. Sie war erstaunt, wie schnell ein Mensch sein konnte. Das Pferd trabte erst langsam hinterher, fiel dann jedoch in einen langsamen Galopp, um den Menschen einzuholen. Dann schmiss sich der Mensch in den Sand, rief dem Pferd etwas zu und blieb einfach liegen. Nach einiger Zeit suchte sich das Pferd Futter am Waldrand.

Tariff wartete, doch nichts passierte. Irgendwie war dieser Mensch sehr anders, als es ein Mensch eigentlich sein sollte. Jedenfalls soweit sie das sagen konnte; ihre Kenntnisse von Menschen stammten ja vom Handeln und da spielten sich beide Seite immer etwas vor. Nicht umsonst durften nur die schönsten und klügsten Zentauren handeln. Aber dieser Mensch sah anders aus -- einen so kräftigen Bürger hatte sie noch nie gesehen. Nicht dass dieser schlecht aussah.

Aber der Mensch war bestimmt kein Arbeiter -- die bewegten sich immer sehr ökonomisch und rannten nicht sinnlos den Strand entlang. Andererseits würde auch kein Bürger, der sich so um seine Pferde kümmerte, dass er sie selbst ritt, dies so offensichtlich unprofessionell tun. Und vor allem würde kein Bürger so tief in das Zentaurengebiet gehen. Nicht einmal Händler kamen bis hierher.

Eine ganze Weile blieb der Mensch dort einfach liegen und gab Tariff genug Zeit zum Nachdenken. Dann pfiff er nach dem Pferd und holte etwas zu essen aus den Packtaschen, tätschelte das Pferd, stieg wieder auf und ritt zurück.

Sie wartete eine ganze Zeit, doch alles blieb ruhig. Dann holte sie die Packtaschen aus dem Versteck und lief den Weg zurück. An einer Stelle zweigten Hufspuren in Unterholz ab. Sie folgte ihnen. Nach kurzer Zeit wurde es lichter, ein umgestürzter Baum hatte eine Schneise hineingerissen. Dort, wo der Baum endete, da endete gleichzeitig der Wald. Hier begann offensichtlich Bürgerland. Kein vernünftiger Zentaur würde hier weitergehen; ein vernünftiger Mensch hätte hier ebenfalls stoppen sollen. Sie wusste gar nicht, dass sie so nahe an Bürgerland gelebt hatte. Auf regulären Wegen waren es gut hundert Kilometer bis in das Handelsgebiet.

Es raschelte hinter ihr. Tira hatte die Spuren ebenfalls gesehen und war ihnen gefolgt. Sie sahen auf die im Abendlicht liegenden Wiesen.

«Kennst du den Bürger dieses Landes?», fragte Tariff.

«Nein, wieso?»

«Er ist mit einem Pferd zum Strand geritten, als wüsste er genau, wo er hin will. Vielleicht ist er ja verrückt. Wir sollten aufpassen.»


 
Diesmal wachten sie schon sehr früh auf. Doch bevor sie unten waren, stand schon das Frühstück bereit. Dabei dämmerte es draußen gerade erst.

Zwischen Eiern und Toast erfuhren sie, dass das Wetter umschlagen würde. Morgen oder schon heute Nachmittag würde der Wind drehen, der bisher aus Nordosten wehte. Das hieß zu dieser Jahreszeit meist Nebel und Regen, ein sehr passendes Wetter zu der Burg. Dies veranlasste Jacko aber umso mehr, noch einmal mit Joe hinauszureiten; Raissa hingegen ging gleich in die Bibliothek. Immerhin hatten sie mehr als zwei Jahre zusammen in einer Sardinenbüchse gelebt, da war etwas Urlaub voneinander gut.

Joe erkannte ihn, sobald er den Stall betrat. Freudig wiehernd kam er auf ihn zu. Schon einigermaßen gekonnt, wie Jacko jedenfalls fand, befestigte er hinten Packtaschen mit Regenzeug und Proviant, sogar Seilzeug und was Masoud sonst noch alles hineingepackt hatte. Es waren bestimmt zwanzig Kilo, vermutlich war eine komplette Überlebensausrüstung dabei. Der Sattel saß schon beinahe professionell, fand er.

Es war draußen hell, als er die Burg verließ. Die ganze Gegend war leicht verschleiert. Er ritt, dem Computer zufolge, immer südwärts, sofern es ging. Als er am dritten Hügel hinter der Burg, dort wo Kap in das Festland überging, nach Süden abbog, es war gerade erst später Vormittag, begann der Computer wieder zu plärren: «Sie verlassen den Einflussbereich der Burg. Bitte biegen sie nach Norden oder Osten ab.»

Nun, vor ihm endete tatsächlich diese Wiesenlandschaft. Auch der matschige Trampelpfad endete an einer Kreuzung, wo es nur recht oder links ging. Ein hölzerner Wegweiser zeigte nach ,,River Trask 11 miles", ,,Lookout-Cape-Castle 5 miles" (da kam er ja her) und ,,Cape Meares 11 miles." Doch er wollte eigentlich zum Strand, den er von dem südlichen Turmfenster gesehen hatte. Also wandte er sich nach Osten, immer am Waldrand und dem Hügel entlang.

Jetzt, wo das Land wärmer als die See wurde, begann sich der Nebel aufzulösen. Er konnte weit hinaussehen. Doch es war nichts zu sehen, außer den Wellen, die an die Klippen schlugen, und der Turmspitze. Wo die Wiesen endeten, begann ziemlich dichter Urwald, wie eben auch um die Burg. Waren hier in der Gegend nicht die berühmten Redwood zu finden, die riesigen Bäume? Eigentlich würde er gerne sie einmal sehen, wo er schon hier war. So ließ er Joe langsam am Waldsaum entlang traben.

Doch es gab keinen Weg, den man folgen konnte; nicht einmal einen Pfad, den er Joe entlang führen konnte. In einer warmen Senke rastete er und aß etwas. Joe graste inzwischen auf der Wiese. Es war ein schönes warmes Plätzchen hier. Als er sich in die Büsche schlagen wollte, entdeckte er den umgestürzten Baumstamm. Er hatte eine kleine Schneise in das Unterholz gerissen. Tiefer im Wald war das Unterholz viel lichter.

Joe ließ sich willig führen. Nur der Computer begann wieder die Warnung zu wiederholen, er würde den Einflussbereich der Burg verlassen. Leider konnte er ihn nicht abstellen, zumindest hatte man es ihm nicht gezeigt und er hatte besseres zu tun, als mit einem Computer zu spielen, also verstaute er ihn ganz unten in der Packtasche, so dass er nicht mehr zu hören war.

Schon nach zweihundert Metern war der Wald so licht, dass er wieder aufsitzen konnte. Es war eine ganz andere Welt, dieser Wald. Genauso feucht wie die Wiesen, aber dunkel und schattig, mit einem leicht muffigen Geruch, mit Farnen, Beeren und viel Moos. Die Bäume waren größer als er erwartete, riesenhaft und vermittelten ein Gefühl unglaublichen Alters.

Nachdem er einen halben Kilometer ziellos durch den Wald geirrt war, fand er einen Weg, einen Trampelpfad. Er lief in Ost-West-Richtung. Er erinnerte sich an den Strand und beschloss, sich nach Westen zum Meer hin zu wenden. Es war nicht weit, aber das Meer lag tiefer und so schlängelte sich der Weg dahin. Eine halbe Stunde später hörte er neben dem Wind in den Bäumen die Brandung. Gerade, als er an einen Sandstrand kam, sah er auf der gegenüberliegenden Seite, vielleicht fünf Kilometer entfernt, eine weiße Gestalt, scheinbar auch ein Reiter. Sie verschwand so schnell, als würde sie gejagt. Doch er sah niemanden sonst, der lange Strand war leer, außer Hufspuren waren auch keine Spuren im Sand. Er stieg ab und zog die Schuhe aus. Der Sand war kühl, das Wasser eiskalt -- schließlich war ja Januar. Es tat trotzdem gut, barfuß durch den Sand zu rennen. Joe lief neben ihm her. Schließlich aß Jacko den Rest des Proviants, Joe bekam den Salat.

Es war weit nach Mittag, die Sonne stand schon bedenklich tief und hatte ihre schwache Wärme völlig verloren, als er wieder auf Joe aufsaß. Er ritt den Weg zurück und fand auch die Stelle, wo er durch das Unterholz gekommen war. Als sie wieder auf dem grünen Rasen waren, holte er den Computer wieder heraus. Auch ohne ihn hätte sie jedoch die Burg kaum verfehlt, schließlich war das Kap weit sichtbar und dort gab es nur den Weg zu Burg. Es war nicht weit, neun Meilen war weniger als ein gemütlich halbstündiger Ritt. Joe war wirklich ein tolles Tier.

Die Burg lag in den letzte Strahlen der Abendsonne. Entgegen der Prognose war ein leichter Wind auf die See aufgekommen. Kalt kam er aus den Bergen, und Jacko freute sich auf die Wärme in der Burg. Vorher kümmerte er sich jedoch noch um Joe.

Bei Abendessen erzählte er von seinem Ausflug. Sie alle lauschten durchaus interessiert. Die Warnung des Computer sei vor allem wegen der wilden Tiere gewesen, erfuhr er. Es gab dort wieder Grizzlybären, Wölfe, Bergkatzen und wilde Hunde. Fast alle Wildtiere sind waren wieder heimisch geworden, sofern sie den Kometen überlebt hatten. Einige neue Arten sind hinzugekommen. Damals hatte man viel mit sechsgliedrigen Tieren experimentiert; eine sechsfüßige Eidechse und einen sechsfüßigen Luchs gab es zum Beispiel. Die meisten solcher Tiere hatten die Auslese dort draußen nicht überlebt. Das waren alles Vorversuche für den vierarmigen Menschen, diesen Flop. Doch das war alles vor dem Kometen gewesen.

Schaudernd wechselte Raissa das Thema und erzählte von ihren Recherchen und der sehr interessanten Mathematik von Schamirow. Hatte Jacko denn kein Interesse an dem, was zwischenzeitlich passiert war? Nun, die Elektronik hatte bestimmt solche Fortschritte gemacht, dass er praktisch neu anfangen konnte. Er konterte nur kühl, dass ihm Elektronik nie so viel Spaß gemacht hatte. Klar, er würde sich auch etwas suchen, aber überstürzen musste er doch nichts. Und nach den Jahren im All hungerte es ihm nach Natur. Endlich konnte er entspannt zuhören und musste bei jedem neuen Geräusch nicht überlegen, welches wichtige Teil nun gerade jetzt versagte.

Schließlich begannen sie eine Partie Monopoly. Es war sehr amüsant, Jennifer die Regeln erklären zu müssen. Doch bis Mitternacht gab es noch keinen Sieger und sie vertagten die Partie auf morgen. Erst beim zu Bett gehen fiel ihm auf, das sie gar nicht gesagt hatte, wer der oder die Fremde gewesen sein könnte. Falls es hier überhaupt reguläre Nachbarn gab. Er nahm sich fest vor, morgen zu fragen.


 
Trotz der gestrigen Wolkenbahnen war es wieder ein sonniger Tag geworden. Tira war wieder in das Dorf zurückgekehrt. Tariff freute sich für ihn; jetzt war er der angesehenste Zentaur der ganzen Gegend. Außer natürlich für die Wenigen, die sie kannten.

Den ganzen Vormittag über passte sie das Solarpanel in die Lücke ein, wo Tira einmal eines mit einem Steinwurf zerbrochen hatte. Die ganze Arbeit in der ungewohnten Haltung, die Vorderfüße auf dem Dach, den Pferdekörper fast senkrecht aufgerichtet, strengte sie ziemlich an. Zur Entspannung beschloss sie, zum Strand zu galoppieren.

Kurz vorher wurde sie sicherheitshalber langsamer und schlich, so leise sie konnte, auf den Strand zu. Gerade als sie einen Busch etwas zur Seite bog, drehte sich der Mensch um.

Er hatte sie entdeckte, denn er rief: «Hallo, kommen Sie ruhig her. Wollen sie etwas zu essen haben?»

So schnell sie konnte, lief sie weg. Erst nach einem Kilometer hielt sie inne. Warum rannte sie weg? Schließlich hatte der Mensch sie nur freundlich zum Essen eingeladen. Gefährlich klang es jedenfalls nicht.

Sie ging noch einmal zum Strand, diesmal auf dem Südweg. Doch der Strand war leer, als sie dort war. Nicht ganz leer, denn ein Beutel lag dort. Drinnen waren ein Apfel, etwas Brot und ein Computer. Ungläubig hielt sie den Computer in die Sonne.

«Hallo, Computer, ich bin Tariff.»

«Hallo. Schöne Grüße von der Burg, von Jacko, Joe und dem Rest.»

Sie verstand zwar die Worte, doch der Sinn war ihr unklar. Egal was sie sagte, der Computer antwortete immer mit diesem Satz. Den Computer und den Beutel versteckte auf einem Baum weit weg vom Haus. Vielleicht war es ja ein Trick, sie ausfindig zu machen. Aber dazu einen Computer zu riskieren?


 
Es war ein wunderschöner Morgen, diesig, aber windstill und damit nicht kalt. Eine solche Stille sei sehr ungewöhnlich für diese Jahreszeit, sagten sowohl Jennifer wie Masoud. Beide befürchtete einen Wetterumschwung in nächster Zeit.

Doch Jacko lachte nur: «Wenn ihr zwei Jahre in einer Blechbüchsen verbracht habt, was glaubt ihr, wie sehr ihr die Freiheit genießen würdet? Ihr seid hier frei, wie sonst etwas. Vielleicht sehnt ihr euch nach dem warmen Sommer, doch ich sehne mich nach allem. Und wenn auch die paar Laubbäume kahl sind, es ist wunderschön da draußen.»

Sie schüttelten die Köpfe, und auch Raissa versuchte ihn davon zu überzeugen, mit in die Bibliothek zu kommen. Wenn draußen Dauerregen war, dann würde er gerne in der Bibliothek sitzen und sich die Kunstschätze der vergangenen 1400 Jahre ansehen. Oder was auch immer.

Joe war ganz seiner Meinung. Selbst das andere Pferd, Jasmine, hatte er sie getauft, kam zu seiner Begrüßung. Leider konnte er nur ein Pferd nehmen und dies würde Joe sein. So gut kannte er sich mit Pferden nun auch wieder nicht aus, und Joe glaubte er zu beherrschen.

Ohne langes Zögern machte er sich auf den Weg zu der Stelle, wo der Durchgang in den Wald war. Seit gestern war mindestens noch ein Reiter hiergewesen, es waren deutlich andere Spuren zu sehen, als die von Joes schweren Hufen. Er führte Joe durch das Unterholz und ritt dann direkt zu der Bucht. Hier war es fast windstill und angenehm warm. Er sattelte Joe ab. Diesmal hatte er auch an Futter für Joe gedacht.

Während Joe ausruhte, sah er sich die Pflanzen aus der Nähe an. Manche glaubte er zu erkennen, doch, wie er sich selbst eingestand, hatte er sich nie so recht für Waldpflanzen interessiert. Außerdem war das hier Nordamerika und seine Kenntnisse waren 1400 Jahre alt ... Aber er hatte sich auch wenig aus Pferden gemacht, früher. Vielleicht war es eine Flucht vor der durchinszenierten Wirklichkeit seiner Zeit. Was heißt seiner Zeit? Künstlicher als die Burg ging es doch gar nicht mehr!

Er legte sich auf eine Isomatte in die Sonne und döste ein Wenig. Schade, dass Raissa nicht da war. Zum ersten Mal seit der Ankunft vermisste er ihre Nähe. Joe stieß ihn an. «Was ist denn, Joe?»

Doch Joe war hartnäckig, also drehte er den Kopf und sah wieder die weiße Gestalt, fast völlig im Unterholz versteckt. Es war bestimmt dieselbe, dessen war er sich sicher.

«Hallo, kommen Sie ruhig her. Wollen sie etwas zu essen haben?»

Die Reaktion war jedoch nicht die erwartete, statt aus dem Unterholz zu klettern, verschwand die Gestalt, als hätte er geschossen. Sich entfernendes Hufgetrappel war zu hören.

«Na Joe, bin ich so schrecklich anzusehen?» Doch Joe stieß ihn nur mit seiner Schnauze in die Seite.

Es war zwar erst kurz nach Mittag, aber er wollte wieder zurück zu Raissa. Außerdem begann sich die Sonne zuzuziehen, und so erpicht auf einen Regenschauer war er nun auch nicht. Er sattelte Joe. Für den oder die unbekannte Fremde ließ er etwas zu essen und den Computer mit einer Grußnachricht liegen.

Den Weg zurück fand Joe fast ohne seine Hilfe. Er ließ Joe laufen, wie er wollte. Joe zog es zu dem saftigen Gras der Wiesen um die Burg. Dort fraß er ein bisschen und trottete dann hierhin und dorthin. Also gut, dachte Jacko, nun er will eine starke Hand. Und so jagten sie der Burg entgegen.

Dort versorgte er Joe und duschte sich, um diesen Kirschgeruch von Joe loszuwerden. Die nächste Handlung war ein Besuch in der Bibliothek, wo er Raissa von hinten überraschte und dann einen intensiven Kuss anforderte. Punkt fünf erschient ein Butler, der sich nur verlegen räusperte. Natürlich war es nur die Kopie eines verlegenen Butlers, aber auf die Dauer war es einfach zu mühsam, sich das immer zu vergegenwärtigen. Stocksteif stand er da, bis sie wieder gesellschaftsfähig waren.

«Mylady, Mylord, der Tee ist im blauen Salon serviert.»

Sie mussten beide herzlich lachen. Nur ein winziges Zucken des Mundwinkels war die einzige Reaktion des Butlers.

«James, seien sie so gut, gehen sie voran», brachte Raissa hervor.

Immer noch aufgekratzt folgten sie dem Butler. Sie steigen etwas und betraten einen der vielen Räume der Burg, die sie noch nicht gesehen hatten. Er hatte eine gewölbte Decke in tiefem Himmelblau. Dort waren golden die Sternbilder gemalt. Er erinnerte sich daran, diese Abbildung schon einmal gesehen zu haben. Und irgendetwas war anders, ein Detail.

«Ist dies eine Kopie einer historischen Darstellung?», fragte er.

Jennifer antwortete prompt: «Ja, das Original wurde von de Vecchi und da Reggio auf die Decke des Sala del Mappamondo im Palazzo Farnese gemalt. Es ist auch mit Italien ein Kometenopfer geworden. Das Gemälde ist nach drei erhalten gebliebenen Fotos und einer Abbildung rekonstruiert worden.»

Raissa studierte die dargestellten Figuren. Jacko identifizierte die dargestellten Sternbilder. Hier stimmte etwas nicht, zwei Bilder fehlten. «Was ist aus dem Sternbild Zentaur und Schütze geworden?»

«Die Darstellung ist an die heutigen Sternpositionen angepasst. Außerdem wurde das Sternbild Zentaur durch das Sternbild Pferd ersetzt. Es passt deutlich besser. Und das Sternbild Schütze ist doch da.»

Der Butler betrat wieder den Salon, auf dem Tablett stand eine großer Silberkanne auf einem kunstvoll geformten Stövchen. Daneben war eine Silberschale voll Kekse. «Der Tee, Myladys, Mylords.» Würdevoll stellte er es ab und bot erst Raissa, dann Jacko und schließlich Jennifer und Masoud (also eigentlich sich selbst) Tee an. Masoud hatte ihnen zuliebe seit dem Morgen ihrer Ankunft immer denselben für Gespräche Körper benutzt, er war wieder als feiner englischer Landlord erschienen -- obwohl er sich gleichzeitig als Butler gegenüberstand.

Während sie den Tee tranken, begann draußen Regen an die Scheiben zu klopfen. Ein Feuer im offenen Kamin wurde angezündet und das Monopolyspiel von gestern abend fortgesetzt.

Am nächsten Morgen rauschte der Regen immer noch und ein Sturm rüttelte an den Fensterläden. Sie frühstückten im Bett und waren dann wieder füreinander da. Zum Mittag stiegen sie herunter, den Nachmittag verbrachten sie in der Bibliothek. Raissa studierte weiter an Schamirow, nur von Zeit zu Zeit rief Jacko sie, wenn er wieder etwas Interessantes oder Schönes bei dem Studium der Kunst der letzten 1400 Jahre entdeckt hatte.

Am Abend brachte ihnen Jennifer Bridge bei. Jacko fand es langweilig, Raissa hatte ihr Vergnügen. So verging der Tag und auch ein zweiter. Gegen Abend hatte der Sturm etwas nachgelassen und der Regen war in Schneeschauer übergegangen. Es blieb jedoch nichts liegen, spätestens eine halbe Stunde später war die Herrlichkeit vorbei.

 
Jacko stand ganz oben am Turmfenster. «Weißt du, ich vermisse einen Leuchtturm. Oder eine Laterne, unter meinem ersten Zimmer war immer eine altersschwache energievergeudende Gaslaterne. In hundertfünfzig Jahren hatte sie die Umstellung von Koks auf Erdgas und schließlich auf Wasserstoff miterlebt.»

Raissas Reaktion war schwach. «Hmm.»

«Nicht einmal eine Fackel im Burghof brennt noch.»

«Dann lass doch eine dieser Laternen aufstellen. Hier und heute scheint fast alles möglich.»

«Ach Raissa, manchmal verstehst du mich nicht. Wenn ich dort einen Laterne aufstellen will, würde ich es sagen. Wenn da aber eine steht, dann würde ich auch keine vermissen. Die Laterne stand dort schon lange lange vor mir. So wie diese Burg uns die Illusion geben soll, schon lange hier zu stehen. Doch es ist eine Lüge, die Burg ist viel zu praktisch, zu ideal. Mit jedem Wunsch, der in Erfüllung geht, verschwindet ein Stück aus meinen Gedanken. Wenn alle Wünsche erfüllt sind, bin ich leer, das Ideal braucht das Chaos als Gegenpol, sonst ist alles grau. Genau das befürchte ich für diese Gesellschaft.»

Doch Raissa war schon eingeschlafen.


 
Sie hatte beschlossen, den Menschen, hieß er nun Jacko oder Joe, zu stellen. Nicht am Haus, möglichst weit weg, eher am Strand.

Doch der nächste Tag brachte zwar den erwarteten Regen, aber keinen Besucher. Alle zwei Stunden sah sie am Abzweig nach, der mittlerweile so schon ziemlich ausgetreten war.

Der nächste Tag war wieder trocken, aber es war deutlich unter dem Gefrierpunkt. Bald würde Schnee aufkommen, vielleicht morgen schon. Dann würde es ein paar Wochen kalt bleiben. Nun gut, dann würde sie vermutlich Ruhe haben, wenn der Mensch bei Regen nicht kam, dann würde er bei Schnee wohl erst recht nicht kommen.

Als sie am frühen Nachmittag an der Abzweigung nachsah, da waren wieder neue Spuren. Sie führten zum Meer hin. Schnell lief sie den Weg entlang. Als sie um eine Biegung galoppierte, da traf sie unvermittelt auf sie. Es war ein anderes Pferd doch zweifelsfrei derselbe Mensch.

«Guten Tag, Bürger. Ich» Sie schwieg abrupt. Zum ersten mal sah sie den Menschen aus nächster Nähe. Er sah so anders aus, als sie ihn sich vorgestellt hatte -- nicht brutal, wie es zu seinem Körper gepasst hätte. Nein sein Gesicht war sanftmütig, nein, es war schön. Er stieg vom Pferd ab, eigentlich fiel er mehr.

«Mein Name ist Tariff(sie). Und deiner?», brachte sie mit fester Stimme hervor.


 
Am nächsten Morgen hatten sie Ostnordostwind. Es war kalt, aus den Bergen kam trockene klare Luft. Als Jacko seinen Entschluss, auch heute wieder auszureiten, verkündete, versuchten alle, ihn davon abzubringen. Doch auch Jacko konnte stur sein.

Es war ein wunderbar leichtes, aber warmes Kleidungsstück, das Jennifer ihm gegeben hatte. Es war in etwa so groß wie ein Regenmantel, und es hatte auch eine Kapuze. Doch es war aus einem Material, das sich wie dünnes Tuch anfühlte und auch nicht viel dicker war. Es war regen- und winddicht und warm. Wenn es darunter jedoch über dreißig Grad werden sollte, dann wurde der Stoff wärmedurchlässig, er würde nie schwitzen damit, zumindest hatte Jennifer ihm das versichert.

Als er den Stall betrat, schlug im der Geruch der Tiere entgegen: Jasmine mit dem Ananasgeruch und Joe nach Kirschen. Wieder begann er Joe zu sattelten und wieder wollte Jasmine mitkommen. Schließlich ließ er sich von Jasmine breitschlagen und legte ihr den Sattel um. Joe schien einverstanden, vielleicht hatten die Tiere das sogar so vereinbart. Ihm war das Ausmaß ihrer Intelligenz ziemlich unklar. Auf jeden Fall waren sie deutlich schlauer als die echten Pferde damals, soweit er das sagen konnte.

Die Wege waren aufgeweicht, der Schlamm spritzte hoch. Doch Jasmine schien es nichts auszumachen, im Gegenteil, sie galoppierte so temperamentvoll, als wollte sie ihm zeigen, worauf er mit Joe verzichtet hatte. Einige Zeit ließ er sie galoppieren. Nicht weit vom Waldrand machten sie eine kurze Mittagspause. Willig ließ sie sich durch den Trampelpfad an dem Baumstamm führen. Der Weg hatte neue Hufspuren, doch es waren keine Schuhabdrücke oder ähnliches zu sehen. Er musste unbedingt daran denken, Jennifer zu fragen, ob es hier Wildpferde gab. Schließlich war es ja Nordamerika. Ach ja, und nach dem Nachbarn hatte er ebenfalls nicht gefragt.

Er ritt er zur Bucht, sah dort das Meer und die eindrucksvolle Brandung. Doch es war kalt, und niemand war zu sehen, also ritt er diesmal den Weg in die andere Richtung. Der Weg schlängelte sich durch den Wald. Plötzlich hörte er sich näherndes Hufgetrappel. Er befahl Jasmine, stehen zu bleiben.

Um eine Kurve galoppierte die weiße Gestalt. Fast wären sie zusammengestoßen. Zweimal sah er hin zwinkerte. Vor ihm stand das vermisste Sternzeichen. Es sprach Englisch. «Guten Tag, Bürger. Ich», sagte es und ergänzte dann: «Mein Name ist Tariff(sie). Und deiner?»

Jacko schüttelte den Kopf, kniff sich in den Arm. Das Bild blieb.


 
Der Mensch antwortete nicht. Dabei hatte er doch einmal nach ihr gerufen. Vielleicht war er wirklich verrückt. «Du bist auf meinem Land, du willst mich sprechen. Willst du handeln? Du hast die Nachricht hinterlassen?»

Die Stimme des Mensch war sanft und angenehm, doch die Worte waren eine Unverschämtheit: «Äh, du bist kein Arbeiter?»

Das war eindeutig zu viel, eine so große Beleidigung als Eröffnung. Dieser Mensch war verrückt. Tariff lief rot an. Bevor sie gewalttätig werden konnte, wendete sie sich ab und holte tief Luft.


 
Die Frage war scheinbar sehr undiplomatisch gewesen. Immerhin, es war trotz allem eine Antwort, denn ein Arbeiter hätte einfach geantwortet. Doch jetzt wandte sich der Zentaur ab.

«Warte! Mein Name ist Jacko van Klemt. Bitte lass es mich erklären. Ich bin nicht von hier.»

Der Zentaur strauchelte, drehte sich dann langsam um. Mit bebender Stimme und äußerster Betonung sagte er: «Ein Arbeiter sieht doch wohl nicht so aus? Wo kommst du denn her, dass du das nicht weißt?»

Er hatte ja keine Ahnung, wie ein Arbeiter aussehen sollte. Aber es war jetzt sicher nicht der geeignete Moment für diese Frage. Nun, genauer hinsehen, das tat er eh. Der Anblick änderte sich nicht: Ungefähr bis zum Bauchnabel stand dort ein Mensch, das weißblonde Haar recht kurz geschnitten, bekleidet mit einem naturweißem Pullover mit zugeschnürtem V-Ausschnitt und einer Schärpe, die zugleich als Kapuze diente, dazu ein dunkler Schal. Das war noch nicht ungewöhnlich, jedoch unterhalb der Stelle, wo bei einem Mensch ein Bauchnabel sitzen sollte, begann Fell und die Vorderbeine und der Bauch und die Hinterbeine eines Pferdes. «Du bist ein Zentaur», stellte er das Offensichtliche fest. «Uns wurde nie von Zentauren erzählt.»

Jetzt sah ihn der Zentaur seltsam an, schüttelte den Kopf. «Ich dachte, du willst handeln. Weshalb hast du den wertvollen Computer dagelassen?»

«Wertvoll?» Vor Überraschung hatte er es laut ausgesprochen. «Auf der Burg lagen sechs Computer herum. Aber ich sagte ja schon, ich bin nicht von hier, genauer gesagt, ich stamme eigentlich aus dem Jahr 2041. Wir sind von dem Schiff, das vor kurzem aus dem All zurückgekommen ist.»

Der Zentaur stand da und verzog keine Mine. «Ihr wart zu zweit. Ich habe davon gehört. 2041, das war die Dädalus, das war im Jahr -114. Ich kann es nicht so recht glauben.»

Es folgte eine längere Pause. Sie musterten sich gegenseitig. Jacko brach als erster die Stille: «Bitte sei mir nicht Böse, aber ich verstehe nicht. Wieso warst du so sauer, als ich dich Arbeiter genannt habe? Und warum hast du gesagt, ein Computer sei etwas Wertvolles? Er ist ja keine KI.»

Der Zentaur schüttelte den Kopf. «Du bist wirklich unwissend! Ich lade dich zu mir ein, es ist nicht weit.»

«Ja, gerne. Ich habe heute Nachmittag nichts anderes vor.» Er grinste. «Wie heißt es doch: Lernen, lernen und nochmals lernen. Lenin, ein Revoluzzer des 20. Jahrhundert. Ich bin wirklich froh» Er machte eine kurze Pause. «Besser ich bin freudig überrascht. Er wurde mir hier schon langweilig, ich hatte schon gedacht, man hätte die beste aller Welten errichtet, und dann, nunja, Gartenarbeit, wie Voltaire meinte, nun sie wird hier ja zur Genüge verrichtet. Aber ich quatsche dumm: Ich nehme deine Einladung gerne an.»

Das Gesicht des Zentauren war sehr menschlich, nahm die gleichen Gesichtsausdrücke an. Gerade zeigte es Verwunderung. «Sprichst du immer so komisch?»

Er lachte. «Nein, nur wenn es die Eingebung mit mir zu gut meint.» Immer noch wusste der Zentaur nicht so recht etwas mit seinen Bemerkungen anzufangen. «Wer oder was war Wolltähr?»

«Voltaire», verbesserte er, «war ein Philosoph im 18 Jahrhundert. Auf die Frage, was man in der Besten aller Welten tun sollte, hat er geantwortet, il faut cultiver notre jardin: Man sollte in seinem Garten arbeiten. Aber egal, wahrscheinlich ist das sowieso falsch zitiert, die 1500 Jahre dazwischen haben die Überlieferung sicher nicht verbessert.»

Der Zentaur schüttelte den Kopf. «Traben wir los?» Er drehte sich um und trabte los -- oder wie auch immer die Bezeichnung für diese Gangart war. Jacko ließ Jasmine loslaufen, doch die ganze Zeit sah er den Zentaur an. Der menschliche Oberkörper war leicht vornübergebeugt, das schien die normale Haltung des Zentauren zu sein. Die Schultern und der Kopf des Zentauren schienen dabei über den Boden in konstanter Höhe zu schweben, sie machten die Bewegung des übrigen Körpers nicht mit. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, bis er zur Strafe einen Zweig in das Gesicht bekam. Dann lenkte er Jasmine wieder auf den Trampelpfad zurück.

«Ich habe bisher scheinbar nur einen Teil der Weltgeschichte gehört, den der die Menschen betrifft. Ich würde gerne auch den Rest hören», rief er dem weißen Zentaur hinterher.


 
Tariff lief noch langsamer. Nicht noch einmal wollte sie über ihre Füße stolpern. Sie war viel zu verwirrt, um klare Gedanken zu haben. Wenn sie jetzt an das Laufen denken würde, dann würde sie bestimmt hinfallen. Ohne sich umzudrehen, begann Tariff zu erzählen: «Es begann im Jahr Null unserer Zeitrechnung. Für die Menschen ist es das Jahr 2155. Damals erblickte der erste Zentaurenembryo in einem geheimen Forschungslabor das Licht der Welt. Es war ein Seitenexperiment zur Schaffung vierarmiger Menschen. Doch die kleine Gruppe, es waren drei Forscher, waren sehr ehrgeizig; Evan Mayers war vielleicht sogar genial. Sie schufen insgesamt 14 verschiedene Embryos, Zentauren. Und nicht genug, sie schmuggelten sie heraus.

Das Labor muss irgendwo auf einer Inselgruppe im Südpazifik gelegen haben. Sie brachten die jungen Zentauren auf eine nahe unbewohnte Insel. Dort waren sie, so oft sie konnten, stellten sogar heimlich einen Lehrer für die Zentauren ein.

Als dann 28 der Komet kam, also 2183, da wurde das Institut weggeschwemmt. Die Insel mit den Zentauren lag jedoch auf der abgewandten Seite des Atolls und so hatten sie dort nur zwei Tote zu beklagen. Als zwei Wochen später ein Evakuierungsschiff die Station erreichte, fand es nur 32 Zentauren, eine Menge sechsbeiniger Tiere und drei vierarmige Männer vor.

Mit einem Achselzucken evakuierte man halt alles, was man fand und erreichte wohlbehalten das amerikanische Festland. Doch die Zentauren erhielten nur eingeschränkte Rechte, mussten als eine Art Sklaven auf den Farmen arbeiten. Als die ersten Energiesatelliten sich aus Treibstoffmangel zerstörten, da waren die sechsbeinigen Pferde für die Arbeiten mit Kraft und wir, die Zentauren eben, für die Arbeiten mit Intelligenz noch begehrter. Erst als die Union der Menschen immer weiter zerfiel, wuchs das Ungerechtigkeitsgefühl unter den Zentauren schneller. Schließlich begann 130 im Süden ein sich schnell ausweitender Aufstand. Bei der Forderung nach den eh fast wertlosen Bürgerrechten blieb es nicht. Wir zogen in die mittleren Staaten, riefen ein eigenes Staatsgebiet aus und eroberten praktisch das gesamte Gebiet nördlich des Mississippis und östlich der Rockys. 244 umfasste der Staat 110 Millionen Zentauren und 30 Millionen Menschen, genauso viele, wie auch außerhalb lebten.

Der Hass der Menschen außerhalb wie innerhalb war stark und wuchs noch durch deren Ohnmacht. In diesen Zeiten waren wir es, die Technik und Zivilisation bewahrten. Wir haben dafür gesorgt, dass die wenigen Fabriken weiterlaufen konnten; doch war es letztlich Technik für Menschen. Kein Zentaur passt in die engen Wartungsschächte, keiner kann ein Flugzeug einigermaßen vernünftig steuern, wie es diese alten Fabriken hergestellt hatten. Und so haben die Menschen uns die Technik wieder abgenommen, sie hatten es zusammen mit den KIs sogar geschafft, uns zum Teil ist das fast völlig entvölkerte Afrika zu verdrängen. Aus dem All sperren sie uns bis heute aus, lassen nicht einmal einen Energiesatelliten für uns zu. Nur Gentechnik, Biologie und Medizin war uns geblieben.

Wir haben unsere eigene Technik geschaffen. Leider sind wir jedoch, wenn es um Hochtechnologie geht, immer noch von den Bürgern -- Mensch oder KI -- abhängig. Dafür hängen sie von unseren Lebensmitteln ab. Zwischen Bürgern und Zentauren besteht Handel. Bürger sind Quellen für Hochtechnologie, die sie uns vorenthalten. Deswegen geht auch kaum ein Bürger freiwillig in Zentaurengebiet. Du hattest echtes Glück, dass ich früher gehandelt habe und auch Englisch spreche. Ich finde es erstaunlich, dass du einfach losgeritten bist.»

Der Mensch lächelte. «Nun, ich wusste von nichts. Nur einen weißen Umriss zu sehen, macht neugierig. Wenn man das All bereist, und es nicht aus Angst tut, dann ist man bestimmt ein neugieriger Mensch. Wie heißt du eigentlich, ich habe es vergessen? Mein Name ist Jacko, Jacko van Klemt, und das Pferd heißt Jasmine.»

«Ich heiße Tariff(sie). Zentauren haben nur einen Namen.» Dann fügte sie noch hinzu: «Du bist wirklich nicht wie die anderen Bürger, die ich kennengelernt habe.» Diese Bemerkung blieb Jacko nun wieder rätselhaft.

Sie waren an eine Lichtung am Fuß eines Berges namens Mount Hebo angekommen. An den Rand der Lichtung war die Blockhütte, vielleicht fünf mal sechs Meter groß und vier Meter hoch. Für einen Bürger musste die Hütte ungewöhnlich wirken, die Fenster waren zu hoch angebracht. Die Tür war hoch genug, dass der Bürger auf seinem Pferd hätte hereinreiten können; nur hätte es die halbe Hütte gefüllt. Zum Glück tat er es nicht: Er sattelte das Pferd draußen ab, während Tariff in der Hütte den Ofen anheizte.

Dann stellte sie sich unter den Türstock und sah zu, wie der Bürger sich um sein Pferd kümmerte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt mit soviel Hingabe gepflegt worden war. Schließlich ertrug sie es nicht mehr, das Pferd besser behandelt zu sehen, als sie je wurde: «Der Tee ist fertig. Und das gute Pferd sieht wirklich wunderbar aus. Komm doch herein.»

Der Bürger hielt inne, sah sich kurz um, als gäbe es eine ernsthafte Alternative zu warmen Tee. Sie ging wieder hinein, um den Tee abzugießen. Dabei betrachtete sie ihre Hütte, wie sie einem Bürger vorkommen müßte: Sie war einfach kahl. Zwei Regale neben der Tür, ein Schrank, das Bett, der Tisch, das Küchenbord mit dem Herd und dem Holz daneben. Eine fahle Glühbirne glimmte an der Decke, der Herd gab bei offener Feuertür fast mehr Licht. Einem Handelszentauren oder gar einem weißen Zentauren völlig unwürdig. Egal, erstens war es ein Bürger, und zweitens wollte sie ihn gar nicht beeindrucken, oder? Schließlich wollte sie ja nicht handeln.

Endlich kam auch Bürger Jacko herein. Aber Bürger Jacko, das passte einfach nicht zu ihm. Er war offen und nett und irgendwie auch komisch, ganz wie Tira in den besten Momenten. Sie konnte ihn sich einfach nicht anders als Jacko denken. Er sah sich um, bemerkte stirnrunzelnd den Ofen. Schließlich meinte er: «Wo kann ich am besten die Packtaschen hinlegen?»

Es war wohl eher eine rhetorische Frage. «Pack sie neben die Tür.» Dann fügte sie hinzu: «Fühl' dich wie zu Hause.»

Jacko musterte lange das Bett. Vielleicht kannten die Menschen keine Betten? Oder sie sahen nicht so aus: keine geneigte Bank für den Körper, wo vorne die Lehne für den Kopf war, gepolstert, versteht sich, mit Decken und Fellen belegt. Er kratzte sogar im Lehmboden. Hatte er ernstlich Fliesen erwartet? Sie sah, wie er nach Worten rang. «Sehr urtümlich. Es riecht wunderbar nach Lavendel. Ich wusste gar nicht, dass es hier wächst.»

Tariff lief rot an. Wie peinlich. «Nein, das bin leider ich. Ich hätte mir schon längst wieder das Fell waschen sollen.»

Die Antwort schien nun wieder Bürger Jacko peinlich zu berühren. «Es ist ein schöner Duft, erinnert mich an Südfrankreich. Äh, woher kommt denn der Strom für die Glühlampe? Ich meine, es ist ein wenig ab, und»

Sie war entrüstet: «Ich bin doch kein Waldschrat, nur weil ich Zentaur bin! Ich habe natürlich Solarzellen auf dem Dach. Ich war lange Zeit Handelszentaur.»

«Was ist ein Waldschrat?», fragte Jacko.

«Ich soweit ich weiß, ist es ein kauziges Männchen, dass in den Wäldern lebt. Aber vielleicht benutze ich den falschen Begriff, du solltest Englisch ja besser als ein Zentaur sprechen.»

Jacko unterbrach sie. «Bitte Tariffsie, keine Entschuldigungen mehr, immerhin sind wir aus verschiedenen, äh, Kulturkreisen, da sind Missverständnisse normal. Englisch ist nicht meine Muttersprache.»

Sie runzelte die Stirn. «Äh ja, also Jacko, ich bin Tariff. Sie ist nur die förmliche Attributendung, im Gespräch nenn' mich Tariff.»

«Sie? Ich dachte eher, egal.» Jacko blickte sie an und zuckte hilflos mit den Schultern: «Wovon lebst du eigentlich? Ich meine, du hast doch bestimmt keine Arbeiter, die du ausbeuten kannst.»

Warum musste dieser Jacko immer solche Fremdwörter benutzen. «Nun ich war Handelszentaur, und ich bin ich weiß, wenn du verstehst.»

«Nun, die Worte verstehe ich. Aber du willst mir sicher etwas Bestimmtes damit sagen. Wenn ich das verstehen soll, fürchte ich, musst du mir eine Menge erklären. Andererseits habe ich es nicht eilig. Ich kann alle Zeit der Welt verschenken. Ich würde gerne die Zentauren besser kennenlernen. Wer nicht neugierig ist, ist tot.» Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: «Leider habe ich vergessen, wer das mal gesagt hat.»

In Tariff reiften die Umrisse einer wilden Idee. «Vielleicht kannst du mich begleiten. Ich habe keinen Schüler mehr, ich bin frei. Ich war lange nicht mehr unterwegs.»

«Gerne. Ich weiß zwar nicht, was passieren wird, aber neugierig bin ich. Schlag ein, Tariff.» Er stand mit erhobenem Arm.

Tariff war sehr unsicher, was sie tun sollte. Sie imitierte seine Gesten. Klatschend trafen sich die Hände, dass es zeckte. Ein sehr merkwürdiger Brauch.

«Damit besiegelte man einen Handel», erklärte der Mensch.

Tariff rieb sich unauffällig die Hand. «Es ist im Laufe der Zeit wohl vergessen worden, fürchte ich. Bevor der Tee ganz kalt ist, sollten wir ihn trinken.»

Jacko nahm den Becher mit Tee. Es war Tariffs bester Kräutertee. Er trank den Becher, machte dabei jedoch zuerst ein merkwürdiges Gesicht. «Ein ungewohntes Aroma. Vielleicht ein wenig bitter. Hast du Zucker?»

Tee -- mit Zucker? «Äh, das ist schlecht für die Zähne», improvisierte sie schließlich.

Jacko lächelte. «Genau, was meine Mutter immer gesagt hatte. Du sagtest, du warst Handelszentaur. Hast du dich zur Ruhe gesetzt?»

Sah sie schon so alt aus? Naja, sie hatte nicht mit Besuch gerechnet, vielleicht musste sie wirklich etwas für ihr Äußeres tun. Sie zog die Augenbrauen zusammen. «Nein. Nur habe ich genug für den Winter. Wenn es mir so nicht gefiele, könnte ich jederzeit wieder anfangen. Was machst du eigentlich so?»

«Früher war ich Elektroniker, bevor wir losflogen. Aber das ist so lange her, dass meine Kenntnisse völlig wertlos sind.»

Das Feuer prasselte im Herd und verbreitete wohlige Wärme, während es draußen zu regnen begann. Tariff drehte sich zum Herd und goss sich vorsichtig Tee nach. Sie rang mit sich, ob sie fragen durfte. Wie konnte sie deswegen nur so verlegen sein, es war nur ein Mensch. Schließlich sagte sie verlegen: «Äh, Jacko, du» Sie sah kurz in Jackos Augen und räusperte sich. «Du hast dein Pferd so schön abgerieben und gestriegelt. Ich, nun, hm, hatte lange keinen anderen Zentauren mehr, der das für mich machen konnte. Würdest du, naja, du ... » Eindeutiger konnte sie es nun wirklich nicht formulieren.

«Na sicher, kein Problem.» Jacko wühlte in seiner Tasche. Bevor er anfing, sah er sie noch einmal an. Tariff hatte das Gefühl, dass der Mensch genau wusste, was dabei mitschwang. Dennoch nahm er die für sein Pferd gedachte Kardätsche und Striegel aus der Satteltasche und begann. Sie genoss so still sie konnte. Nach einiger Zeit fragte er: «Ich kenne zwar nicht die Zentauren. Aber so hässlich bist du wirklich nicht. Warum lebst du so einsam, hast du ein Gelöbnis abgelegt?» Schnell fügte er hinzu: «Du brauchst es mir nicht zu erzählen, Entschuldigung.»

Ihr Lächeln verschwand für einen Moment. Sie entschied sich für eine kleine Lüge: «Nein, du kannst es nicht wissen, ich wurde verbannt, zur Strafe. Wir waren zu dritt, eine Triade nennen wir es, hatten aber vier Kinder. Das ist schon sieben Jahre her gewesen, und ich habe genug Zeit gehabt, unseren Fehler einzusehen.»

«Ich verstehe nicht ganz.» Der Mensch machte eine kurze Pause. «Ich meine, gibt es drei Zentaurengeschlechter?»

«Oh. Nein, natürlich nicht, es gibt nur eines. Je nachdem können wir Kinder zeugen oder empfangen. Es wechselt.» Ein Blick auf Jackos Gesicht verriet ihr sein völliges Unwissen. «Du hast wirklich keine Ahnung? Einmal im Jahr können wir für so vier Wochen geben und ein halbes Jahr darauf nehmen. Deswegen bin ich gerade Tariff(sie). Aber das ist nur für die Orientierung der anderen, ich meine, wann immer ich mich so fühle, bin ich Tariff(er), und umgekehrt, auch beim Sex. Aber fruchtbar bin ich eben nur zweimal pro Jahr. Ich weiß, die Menschen sind ein Leben lang festgelegt. Ich kann mir nur schlecht vorstellen, immer nur zu nehmen.» Sie schauderte bei dem Gedanken, immer noch von Ruron nehmen zu müssen.

Jacko hielt inne. «Ihr lebt doch mit den Menschen auf dem selben Planeten! Nun, ich bin tatsächlich so. Männer können immer geben und Frauen einmal im Monat, so ungefähr jedenfalls, nehmen.» Er machte eine Pause. Als sie nichts sagte, fuhr er fort: «Ihr seid wirklich alle Zwitter. Das ist sehr interessant.»

«Entschuldige meine Neugierde, du bist ein männlicher Mensch. Ich würde dich gerne einmal nackt sehen.»

Jetzt setzte Jacko die Kardätsche ganz ab. «Ich denke, das» geht dich nichts an, wollte er hinzufügen. Dann zögerte er einen Moment. «Eigentlich ist deine Frage berechtigt. Ich schlage vor, wir ziehen uns kurz ganz aus. Vermutlich ist Nacktheit bei euch nichts ungewöhnliches, jeder weiß ja schließlich, wie der andere aussieht.»

Tariff zog sich das Hemd aus. Jacko schälte sich aus seiner Kleidung. Schließlich standen sie sich nackt gegenüber und sahen sich an. Der Mensch hatte einen Oberkörper, der nur bedingt dem eines Zentauren ähnelte; sie sah nur wenige der Rippen, dafür mehr Muskeln, zwei Brustwarzen, etwas Haare. Der Teil direkt über den Hüften hatte keinerlei Rippen mehr, er war wahrscheinlich nur durch Muskeln gehalten. In der Mitte saß eine Art Loch.


 
Sie standen sich gegenüber. Wenn Tariff aufrecht stand, war sie einen halben Kopf größer als Jacko. Wie er vorher vermutet hatte, war sie in der entspannten Haltung leicht nach vorne gebeugt, dann waren ihre Augen auf gleicher Höhe.

Nackt sah Tariffs Oberkörper weniger menschenähnlich aus. Die längeren Arme, sie reichten bis zu den Kniegelenk der Vorderbeine, fielen gar nicht so sehr auf. Am deutlichsten waren die fehlenden Brüste, auch hatte sie auf dem Oberkörper keine Haare und keinen Bauchnabel, dafür hatte sie mehr Rippen. Die Rippen reichten bis knapp über dem Ansatz der Vorderbeine, wo auch das Fell begann. Seitlich waren noch die dicken Muskeln für die Vorderbeine. Eine Mähne am Rücken zog sich bis zum Halsansatz hoch. Wenn sie atmete, dann blähte sich der gesamte menschliche Körper auf, die Lunge reichte bis zu zwischen die Vorderbeine. Sie ließ ihn ihr Herz spüren, es saß kurz hinter den Vorderbeinen. Er war überrascht, wie langsam es schlug. Doch Tariff erklärte, dass die Beinmuskeln hauptsächlich das Blut pumpen würden, wenn sie sich anstrengte.

Jetzt begann er den pferdeähnlichen Teil zu begutachten. Sie war genauso schlank wie eines der sechsbeinigen Pferde, aber schließlich waren die Zentauren durch Herkunft eng mit ihnen verwandt. Eigentlich sah sie genau wie die Hinterpartie von Joe aus, nur etwas verkleinert, ihr Pferdekörper war nicht viel dicker als Jacko selber. Gewaltige Muskeln waren unter dem Fell, sie musste ziemlich kräftig sein. An den Fesseln hatte sie längeres Fell, so dass es aussah, als habe sie Fellstiefel an.

Vorsichtig berührten sie sich abwechselnd. Das Fell war nicht lang, aber dicht und erstaunlich weich. Scheinbar war letzteres ein Kompliment gewesen, denn Tariff dankte ihm. Tariff berührte sichtlich fasziniert seine Brustwarzen. Der Zentaur hatte statt ihrer zwischen den Hinterbeinen die Andeutung eines Euters mit zwei Zitzen.

Jacko fror schnell, er zitterte, und so zog zumindest er sich wieder an und stellte sich an den wärmenden Herd. «Es muss für jeden schwer sein, sich in einen anderen hineinzudenken. Aber wenn man dann eine völlig andere Rasse» Er führte den Satz nicht zu Ende, denn plötzlich kam ihm ein Gedanke und er musste anfangen, laut zu lachen: «Da sind wir nun in das All gezogen und haben tatsächlich eine andere intelligente Rasse getroffen; auf der Erde.» Er musste über diese Ironie lachen, so heftig, dass auch Tariff davon angesteckt wurde.

Als er sich erholt hatte, befiel ihn ein dringendes Bedürfnis. «Wo ist den die Toilette?» Doch kaum hatte die Frage ausgesprochen, da biss er sich auch schon auf die Zunge. In dieser Hütte war kein Platz für eine Toilette.

Tariff konnte der Frage scheinbar etwas Sinnvolles abgewinnen. «Ein Stück in Richtung Hügel ist ein mooriger Tümpel. Das ist meine bevorzugte Stelle.»


 
Raissa sah auf. Masoud und Jennifer waren in die Bibliothek gekommen. Sie sah auf die Uhr. Es war wirklich schon spät geworden. Sie stand auf und ging ihnen entgegen. «Hallo, was ist?» Nach einem Moment fügte sie hinzu: «Und wo ist Jacko?»

Masoud und Jennifer blieben stehen. Das war es also. «Ist ihm was passiert?»

«Er hätte längst zurück sein sollen. Sein Computer ist recht weit entfernt. Wir wollten ihn rufen. Vielleicht willst du mit ihm reden.»

«Ich verstehe nicht.»

«Nun, der Computer warnt ihn, wenn er unser Land verlässt. Scheinbar hat er es trotzdem getan. Vielleicht mag er keine Computer, vielleicht solltest du es ihm sagen. Die Verbindung ist aufgebaut. Hier.»

Er reichte ihr einen dieser Scheckkartencomputer. «Computer? Ich möchte Jacko sprechen», sagte sie probehalber.

Der Computer antwortet prompt: «Einen Moment, bitte. Die Verbindung besteht.»

«Hallo, Jacko, hier ist Raissa.»

«Hallo Raissa. Ich wusste ja gar nicht, das man mit den Dingern telefonieren kann, sonst»

Raissa unterbrach ihn. «Geht es dir gut? Es ist zehn Uhr durch, was ist passiert. Hat sich das Pferd ein Bein gebrochen. Sollen wir»

«Halt, hör mir zu. Mir geht es gut. Ich wusste doch, dass ich hier draußen etwas Interessantes finden würde. Die Menschen sind nicht länger die einzige intelligente Rasse auf dem Planeten, hier draußen leben Zentauren. Ich bin zu Gast bei einem netten Zentaur, Tariff(sie) heißt sie. Es sind echte Zwitter, sie müssen ein völlig anderes Sozialsystem haben. Die Alians sind auf der Erde. Komm doch her.»

Sie war versteinert. Was hatte er gesagt: Zentauren, intelligent, anders. Sie schwieg lange. Jacko wiederholte seine Nachricht. Sie sah Jennifer und Masoud an und erstarrte einen Moment. Sie sagten zwar nichts, aber ihre Gesichter waren verzerrt. Raissa hätte nie soviel Hass von ihnen erwartet. Schließlich hatte Raissa sich wieder gefasst. «Jacko, warum kommt ihr beide nicht hierher, du und diese Zentaur»

«Nein!», riefen gleichzeitig Jennifer und Masoud. Raissa war völlig perplex. «Nein, das geht nicht. Kein Zentaur darf einer KI näher als einen Kilometer kommen», sagte Masoud in die Stille hinein.

«Wer sagt das? Masoud? Ihr lebt da draußen allein. Ihr macht doch die Regeln. Aber wir sind die Gäste, wenn ihr nicht wollt, dann nicht. Raissa, ich glaube, auch Tariff würde nicht wollen. Das Verhältnis der Zentauren zu den Menschen scheint nicht ganz ungetrübt, Jennifer kann dir sicher mehr darüber erzählen, sie ist doch die Historikerin. Oder noch besser, komm mit! Tariff will mich herumführen.»

«Sie werden dich umbringen», sagte Jennifer. «Genau wie sie früher die Menschen getötet haben. Höre nicht auf diese missgebildeten Kreaturen.»

«Jennifer und Masoud, ihr kennt diese Welt. Ich bin im Vorteil, ich kenne sie nicht und auch nicht die Vorurteile dieser. Raissa, komm, du wolltest in das All fliegen, dann wirst du doch wohl die Erde mit erkunden wollen!»

«Jacko, ich bin noch nicht bereit zu gehen. Aber wenn du Lust hast, dann wäre ich die Letzte, die dich aufhält. Du hast immer getan, was du wolltest. Aber bedenke, es ist Winter. Willst du nicht etwas warten, bis es wärmer wird?»

«Weißt du, jetzt verstehe ich dich nicht. Nach den Tagen und Jahren in der Keksbüchse mit den unendlichen Weiten des Alls vor den Augen, ist mir die Burg einfach zu klein, so schön sie auch ist. Aber das klingt wie ein Abschied für immer, und das soll es nun wirklich nicht sein. Tschüss, Grüße an alle.»

«Tschüss, mach'}s gut. Melde dich mal!»


 
Jacko stand auf und lief einige hundert Meter in den Wald herein. Dort steckte er den Computer in eine Astritze und lief schnell zurück in die warme Hütte.


Unterwegs

Das Erwachen am Morgen war abrupt, mit einem Mal war er wach. Vielleicht hatte ein Vogel geschrien. Eher aber war es die Kälte, die durch das Lager aus Fellen kroch. Es war drinnen wie draußen noch dunkel. Er betätigte den Lichtschalter. Tariff schlief noch auf dem Zentaurenbett: Die Vorderbeine hingen in der Luft, die Hinterbeine waren leicht nach vorne gestreckt, so dass die Hufspitzen gerade den Boden berührten. Der Pferdekörper lag auf der Bank auf Felle gebettet, während das menschliche Oberteil in eine ziemlich dünne Decke eingewickelt war und vorne an der Lehne lehnte.

Leise zog er sich an. Beim Öffnen der Ofentür quietschte diese leicht. Sofort war auch Tariff wach. Sie schien abrupt wach zu werden, eben schlief sie noch fest und jetzt stand sie einfach auf, als hätte sie nur auf ihn gewartet. «Guten Morgen, schön dass du schon wach bist.» Dann machte sie ein überrascht-entsetztes Gesicht: «Was ist denn bei dir im Gesicht?»

Verblüfft fasste sich Jacko ins Gesicht, ging dann zum reichlich kaputten Spiegel. «Was meinst du?»

«Na dieser schwarze Belag!» Tariff stand ein Stück weg.

«Du meinst» Jacko konnte nicht mehr, und musste laut lachen. «Kein Angst, das sind, hmmpf, nur Bartstoppeln.»

Tariff sah ihn immer noch wie einen Aussätzigen an, allerdings war sie jetzt eher verwundert. «Bar-was?»

Er erklärte es ihr. Sie schüttelte den Kopf, das Konzept des Bartes war den Zentauren völlig fremd. Scheinbar hatten auch die Handelspartner nie einen Bart getragen.

Schließlich fuhr sie mit der Hand durch sein stoppliges Gesicht und nickte. «Natürlich. Bartstoppeln. Nachdem das geklärt ist, können wir ja los.»

«He, was ist mit Frühstück? Willst du nichts essen?», protestierte er.

«Klar, auch wenn es nur zweihundertfünfzig Kilo sind, die versorgt werden wollen. Mach' doch schon mal Feuer, ich gehe mich kurz draußen waschen.» Damit ging sie mit nacktem Oberkörper in die Kälte. Ein Handtuch hing über ihrer Schulter.

Er fröstelte schon bei dem Gedanken. Also wandte er sich dem Feuer zu. Aber, verdammt, wie sollte er es anbekommen? Er sah weder Grillanzünder, Zeitungspapier oder auch nur ein Feuerzeug. Es gab nur Holz in allen Größen und eine Packung Streichhölzer. Vielleicht hatte er etwas übersehen. So war er immer noch nicht weiter, als Tariff nach kurzer Zeit wieder hereinkam. Sie kniete sich mühsam vor den Ofen, spaltete ein paar eh schon dünne Hölzer und baute eine Art Scheiterhaufen. Den füllte sie mit Spänen. Dann nahm sie ein einziges Streichholz und zündete einen Span an. Eine Viertelstunde später prasselte in dem Ofen ein schönes Feuer. Jetzt würde er es wohl wagen können, sich zu waschen.

Draußen dämmerte es erst, und der Himmel war bedeckt. Jasmine kam auf ihn zu und stieß ihn freudig mit dem Kopf an. Er hatte sie nicht angebunden und, ehrlich gesagt, gestern abend völlig vergessen. Er war so froh, dass sie noch da war. So nass, wie sie war, und so kühl, wie die Nacht war, wenn er ein Pferd wäre, er wäre wohl zu Burg zurück gelaufen.

Er hatte noch nie Wasser aus einem Brunnen geholt. Zuerst schwamm der Eimer einfach. Endlich ging er unter. Doch oben kam er wieder fast leer an, so oft war er an die Wände gestoßen. Beim dem Versuch, sich das Gesicht zu waschen, bespritze er sich reichlich. Zu seinem Glück also war nur wenig Wasser im Eimer gewesen. Jasmine versuchte, die Pfütze aufzulecken. Er holte einen zweiten Eimer für Jasmine hoch. «Bring doch bitte einen Eimer Wasser für den Tee mit», rief Tariff aus der Hütte. Gehorsam wuchtete er noch einen dritten Eimer hoch, hing ihn aus und trug ihn in die Hütte. Jasmine folgte seinen Schritten, blieb aber vor der Tür stehen, als wüsste die Stute genau, wo die Grenze war.

Er reichte Tariff den Eimer. «Hier. Ich habe noch einmal nachgedacht. Ich meine, es war ein sehr spontaner Entschluss. Ich habe noch immer Lust. Aber ich denke, ich sollte besser ausgerüstet losgehen, es ist schließlich Winter. Und ich kann nicht zwei Wochen dieselben Klamotten tragen.»

Tariff hörte ruhig zu. «Nun gut, klar.» Sie klang enttäuscht. «Aber ich dachte, du hast all das in den Packtaschen.»

Die Packtaschen! Er hatte auch sie ganz vergessen. Nun, dann würde er sie mal auspacken. Es war eine ganze Menge darin: Ein Schlafsack (warum hatte er nicht schon gestern nachgesehen?), drei Paar Unterwäsche, ein Paar Handschuhe, eine normale und eine warme wasserdichte Hose, zwei Pullover, zwei T-Shirts, diverse Energieriegel und Suppenpulver, Medikamente, Feuerzeug, einen Topf, ein Becher, und vieles mehr, kurz er besaß eine komplette Campingausrüstung. Mühsam packte und stopfte er die Sachen wieder hinein. «Es ist genug», sagt er schließlich. Aber mehr als zwei Wochen würden sie ja wohl kaum unterwegs sein; und wenn doch, dann konnte er sich ja Sachen schicken lassen.

«Sehr schön. Es freut mich, dass du nun wirklich mitkommst.» Tariffs Freude war echt, sie strahlte über das ganze Gesicht.

«Wo reiten, äh, gehen, nein, sagt ihr trotten? Egal, wo soll es denn hingehen?»

«Wer kann das schon vorher so genau sagen?» Tariff packte ihre Packtasche. «Du bestimmst, wohin und wie lange. Du hast selber gesagt, dass du mehr von den Zentauren wissen willst. Doch für heute würde ich vorschlagen, zur ersten Siedlung hier in der Nähe zu traben. Das ist Zikaku, dort könnten wir heute abend eine Nacht unter einem festen Dach verbringen.» Nach einem Moment fügte sie noch hinzu: «Früher wurde die Siedlung Salem genannt, glaube ich. Aber zuvor sollten wir frühstücken.»

 
Kaum trat er wieder vor die Tür, da kam Jasmine angelaufen und gab ihm einen solchen Stups mit der Nase, das er nach hinten fiel. Tariff hatte es gesehen und musste lächeln. «Sie scheint dich zu mögen.»

«Es war sehr nett von ihr, nicht wegzulaufen», sagte Jacko ernst. «Mir graut bei dem Gedanken, zur Burg zu laufen.»

«So langsam läufst du ja auch nicht.»

Er sah sie verblüfft an. «Bitte?»

«Na, auf dem Strand, da bist du doch neben ihr hergelaufen bist.»

«Du warst das!» Jacko schlug sich die Hand auf die Stirn. «Natürlich.» Sie mussten beide lachen. Jasmine stieß ein zweites Mal den Kopf in seinen Bauch.

Tariff sah sie noch einmal an: «Hmm, sie ist nicht mit deiner Fürsorge einverstanden. Du hast vergessen, sie zu melken.»

Jasmine hatte tatsächlich zwischen dem mittleren und dem hinterem Beinpaar ein kleines pralles Euter. «Ich habe keine Ahnung, wie man melkt», gestand er Tariff. Diese holte eine Schüssel, machte es vor und führte dann seine Hand. Endlich gelang es auch ihm -- mehr schlecht als recht. Jasmine stand trotzdem ruhig da.

Er half Tariff, sich ihre Packtaschen bequem und gleichzeitig fest umzubinden. Sämtliche Decken nahmen sie mit, was sie sich nicht umwickelte, wurde auf Jasmine gepackt. Dann endlich ritten sie los. Tariff schlug ein flottes Tempo an, Jasmine folgte ihr willig.

Kurz nach Tariffs Hütte wurde das Tal enger. Manchmal waren nur noch ein paar Meter zwischen hoch aufragenden gelben Felswänden und dem Fluss, dessen Rauschen fast alle anderen Geräusche auslöschte. Die Wolken hingen tief, und die vereinzelten blauen Flecken Himmels wurden rar. Es ging stetig aufwärts. Jacko spürte, wie sich Jasmine anstrengen musste, und auch Tariff atmete heftig.

So ging es zwei oder drei Stunden. Schließlich waren sie in den Wolken. Es wurde hier richtig ungemütlich kalt, denn nun waren sie nicht mehr vor dem Wind geschützt. Ihr Atem kondensierte in dichten weißen Wolken. Tariff war noch warm vom Aufstieg. Doch langsam kühlte auch sie aus. Doch Jacko bat sie, nicht schneller zu laufen -- der Fahrtwind war schon eisig genug.

Tariff seufzte. «Weißt du,», sagte sie, um sich abzulenken. «Was ich dir gestern erzählt habe, ich meine von der Herkunft der Zentauren, das ist nur eine Seite. Die Seite, die die Bürger erzählen.» Seinem Gesicht sah sie seine Verwirrung an. Schnell fuhr sie fort: «Ich meine, es ist die Wahrheit. Aber es gibt natürlich einen Zentaurenmythos.

Stell dir vor, es ist das Jahr des Kometen. Die Erde wird lange schon von einer kleinen Gruppe von Außerirdischen beobachtet, von Zentauren eben. Es sind nur wenige, zwanzig oder so. Als der Komet entdeckt wird, da beschließen die Zentauren, auf der Erde zu landen und ihr Raumschiff zu opfern, um den Kometen aus der Bahn zu stoßen. Es gelang ihnen aber nicht ganz. Also versuchten sie nun, den Menschen zu helfen. Und sie warten auf ein Raumschiff, was sie wieder abholen soll. Doch ihre Heimat ist viele viele Lichtjahre entfernt. Inzwischen haben sich die Zentauren mit Menschen und Pferden gekreuzt und die Wahrheit ist fast völlig vergessen. Doch eines Tages werden die Zentauren wiederkommen, so sagen sie.»

«Es ist eine schöne Geschichte», sagte er nach einiger Zeit. «Sie gefällt mir besser, als die Wahrheit.»

Tariff schnaubte: «Es ist typisch für Unterdrückte, eine Erlösergeschichte zu erfinden. Sie stammt wahrscheinlich aus der Anfangszeit der Sklaverei.»

Er verstand nicht. «Warum hast du sie mir dann erzählt? Auch die Menschen glauben an alles Mögliche. Zentauren als Sternfahrer, das gefällt mir.» Er machte eine kurze Pause, aber Tariff schwieg. «Wärst du nicht lieber auch Nachkomme eines sternfahrenden Volkes, als der Hexenküche eines illegalen Genlabors entsprungen zu sein?»

Jetzt musste auch Tariff lächeln: «Es ist auch nicht schlimmer, als aus dem Urschlamm hervorgekrochen zu sein. Es schafft Demut. Und das Warten auf Erlösung bringt keinen voran.»

«Habt ihr denn keine Religion?»

«Ist diese Geschichte nicht Religion genug? Natürlich ist der Glaube an Erlösung aus dem All recht wenig. Aber die alten Christen hatten auch nicht mehr; im Gegenteil, denn der Glaube, an einen fernen Planeten mit Zentauren, ist etwas sehr Konkretes. Und wenn man den alten Zentauren einen Kodex zuschreibt, dann ist das ähnlich, wie die zehn Gebote im alten Testament. Noch ein paar Riten, fertig ist die Religion. Deswegen hat auch die Raumfahrt eine so große Bedeutung für uns: Sie kann uns der Erlösung näher bringen.» Sie lachte kurz auf. «Wir könnten uns natürlich selbst erlösen, wenn wir es wirklich versuchen würden. Doch bisher hat es noch kein Zentaur gewagt, dies auszusprechen oder gar ein Raumschiff zu bauen. Das könnte sich alles ändern, aber das ist Politik, das geht mich nichts mehr an. Und ich rede nicht über Politik, also Schluss.»

Sie sagte das so resolut, dass sie danach lange schwiegen.

 
Nach einer kalten langen halben Stunde ging es einen steilen Weg in ein anderes Tal hinab. Nun waren sie wieder von Wald umgeben und folgten dem Fluss stromabwärts. Bis zum frühen Nachmittag schlängelten sie sich am Ufer entlang, als sie auf einen ausgetretenen Pfad stießen. Tariffs Stimmung stieg schlagartig. «Von hier ist es nur noch zwei Stunden in der Ebene. Dann gibt es auch etwas Warmes zu essen.» Mit neuem Elan trabte sie voran; Jasmine folgte müde und mit deutlich weniger Enthusiasmus.

Zuerst kam allerdings noch einmal ein kurzer Anstieg. Doch dann lag vor ihnen der Willamette-Fluss -- eines der wenigen Flusssysteme der Welt, die genau nach Norden verliefen. Der Fluss war groß; je näher sie kamen, desto eindrucksvoller wurde er. Nicht viel kleiner als der Rhein, so erschien es Jacko. Und der Weg ging jetzt immer am Ufer entlang, ziemlich eben. Tariff lief schnelle, Jasmine folgte. Immerhin musste er bei diesem Tempo auch mehr tun, um einigermaßen bequem im Sattel zu bleiben.

Irgendwann traten die Bäume zurück. Auf beiden Ufern waren Felder. Der Wind trieb niedrige Wolken voran. Es nieselte. Geruch nach Rauch lag in der Luft. Hinter der nächsten Biegung sahen sie die alte Autobahnbrücke und auf der anderen Seite die Siedlung. Als die Zentauren sie entdeckt hatten, brach im Dorf Hektik aus: Zentaurenfohlen wurden von der Straße geholt, Fenster verschlossen und zwei Zentauren galoppierten, mit Sensen bewaffnet, über die Brücke auf sie zu.

Tariff stoppte abrupt: «Du steigst besser ab und führt Jasmine hinter mir her. Ich werde alles erklären. Du wirst davon nichts verstehen, oder kannst du Esperanto? Es ist ein wenig verwandt.» Er schüttelte den Kopf.

Tariff lief viel zu schnell weiter. Erst im dritten Anlauf war sie so langsam, dass Jacko einigermaßen nebenher laufen konnte. Sie schritt ungerührt den sich nähernden Zentauren entgegen, also folgte er ihr. Zwei Meter entfernt blieben die anderen Zentauren stehen und musterten sie. Tariff blickte starr in die Augen ihres Gegenübers. Jacko versuchte kurz dasselbe, doch sein Blick schweifte ab, und statt dessen musterte er die Zentauren: Sie waren nicht viel kräftiger als Tariff, aber dicker, aufgeblähter. Neben Tariff wirkten sie einfach plump. Auch die Kleidung der anderen, schmutziggraue Wollpullover, war keineswegs elegant. Es sah aus, als würde Adel mit Pöbel zusammentreffen.

Tariff sprach als Erste. Es klang nicht unfreundlich, doch es stürzte die beiden Zentauren in tiefe Verwirrung. Sie sahen sich kurz an, blickten dann lang zu Jacko und schließlich wieder zu Tariff. Doch bevor sie antworteten, war klar, dass Tariff gewonnen hatte. Schließlich drehte sich der eine um und lief zum Dorf zurück, während der andere neben ihnen herschritt.

«Ich habe uns angemeldet», sagte Tariff. «Bestimmt gibt es etwas Leckeres zu essen heute. Komm, richte dich auf, zeige dich stolz. Im Dorf halte dich erst einmal am Eingang auf, bis sie bereit sind, dich zu akzeptieren.»

 
Es waren elf Häuser, alle hatten sie weiß verputzte Wände, teilweise auch Wände aus Feldsteinen und Dächer aus schwarzen Schieferplatten, Gras oder Dachpappe. Alle Häuser waren um einen Platz gruppiert, zwischen den Häusern gab es meist niedrige Holzzäune, wo Hühner gackerten. Aus allen Schornsteinen quoll Rauch.

Der Einzug in das Dorf war eine Mischung aus Eroberung und Vorführung. Es war schwer zu sagen, ob Tariff oder die anderen Zentauren stolzer einherschritten; Tariff sah aber unzweifelhaft besser aus. Wie vereinbart wartete er am Dorfrand und harrte der Dinge, die da kommen würden.

Aus den Häusern kamen inzwischen die Bewohner wieder heraus: Zuerst die Erwachsenen, dann auch die Fohlen und die Greise. Jacko wurde nur verstohlene Blicke zugeworfen, die Attraktion war eindeutig Tariff. Erst als Tariff dicht umringt war, begann sie zu erzählen. Sie wies einmal kurz auf Jacko, der sich daraufhin verbeugte. Tariff zog die Augenbrauen hoch, einige kicherten. Dann fuhr Tariff fort.

Als Tariff ihm keine weiteren Zeichen gab, ließ er seine Blicke in die Menge schweifen. Die Zentauren waren so unterschiedlich, wenige waren so groß wie Tariff. Die Fohlen sahen am lustigsten aus, mit ihren viel zu langen Beinen im Verhältnis zum Rest. Sie waren immer unruhig, doch die Eltern ließen sie nicht aus den Augen. Irgendwann fand er, war es genug. Er wollte nicht wie ein Bauerntölpel Zentauren anstarren, also kümmerte er sich zur Ablenkung um Jasmine. Er kramte in den Packtaschen nach einen Lappen, um Jasmine abzuwischen. Der einzige geeignete Lappen war sein Handtuch. Etwas unschlüssig stand er da.

«Nimm das.» Ein Zentaur war hinter Jacko getreten und hielt ihm eine Hand voll Stroh entgegen. Er (oder sie) war nicht so plump wie die meisten, eher schlank und anmutig wie Tariff. Sein Fell war braun, seine Fesseln waren weiß. Er trug, anders als die anderen im Dorf, ein Leinenhemd mit Schärpe, wie das von Tariff, nur war dieses violett. Darüber hatte er eine blaue Wolljacke. «Ich bin Tira(er). Du verstehst kein Zentaurisch, oder?», sagte der Zentaur auf Englisch.

Jacko schüttelte den Kopf. «Leider nein. Ich bin Jacko van Klemt. Er. Ich habe Tariff erst gestern kennengelernt, vorher wusste ich noch nicht einmal, dass es Zentauren gibt.»

Tira, der andere Zentaur, machte einen seltsamen Gesichtsausdruck. «Dann war es wohl Liebe auf den ersten Blick.» Als Jacko ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu. «Tariff hat dich ihren Partner genannt.»

Verdammt, verstand er so schlecht Englisch? Immer diese Missverständnisse. «Ihre Begleitung bin ich und umgekehrt. Oder heißt es mehr?»

Tira sah ihn wieder so merkwürdig an. «Du bist ein Mensch, ein Mann. Tariff hat dich ihren Partner genannt. Das heißt eigentlich, sie will ein Kind von dir.»

«Aber, was, von mir» Jacko stammelte einen Moment vor sich hin. «Aber sie ist doch ein Zentaur, ich meine, wie kann sie, äh»

Tira legte eine Hand auf seine Schulter. «Das ist kein Hindernis, weißt du. Ein Zentaur kann auch von Menschen nehmen und an Pferde geben.» Er sah ihn an. «Du hast keine Ahnung von Zentauren, keine Ahnung, was Tariff sagen würde.»

Es klang zwar wie eine Feststellung, dennoch nickte Jacko langsam.

«Ich hätte es nicht von ihr erwartet. Weißt du, Tariff ist ein reinrassiger Abkömmling der ersten Generation, ein Sire. Kennst du der Geschichte der ersten Zentauren und ihres Raumschiffes?» Als er nickte fuhr Tira fort: «Nun, die Zentauren an Bord waren alle weiß, so heißt es. Und meist müssen beide Eltern weiß sein, damit das Kind ein weißer Zentaur ist. Auf Wunsch dürfen sie sogar mehr als ein Kind bekommen, kennst du überhaupt die Regeln?» Tira sah Jacko nur kurz an: «Nun, eine davon lautet, nur ein Kind pro Zentaur. Deswegen leben die Sire zusammen, so sind ihre Kinder ebenfalls Sire. Tariff gefiel es nicht, sie hasste die beiden anderen weißen, oder zumindest einen davon. Sie floh hierher, wollte mit sich mit keinem Zentauren mehr einlassen. Sie ist noch nicht alt: Sieh sie an, ist sie nicht der schönste Zentaur, der je das Licht der Welt erblickt hat?»

Jacko sah zu Tariff herüber, wie sie umringt von den anderen Zentauren stand. Er versuchte, Tariff mit Zentaurenaugen zu sehen. Doch es gelang ihm nicht. Sie war elegant und anmutig, ohne Frage. Doch auch Tira war ähnlich elegant. Er sagte es ihm auch: «Tira, du siehst doch auch schön aus.»

Tira lächelte leicht: «Es ist nett gesagt. Aber du siehst doch, ich bin braun und habe ein paar weiße Flecken, ich bin doch nicht weiß! Außerdem, ich meine, sieh dir ihren perfekten Körper an. Du weißt jetzt, was Tariff da getan hat: Der Traum jedes Zentauren kommt in das Dorf in Begleitung eines Menschen, der ihr Partner ist. Weißt du, ich kenne Tariff besser als jeder andere Zentaur, ich war ihr Schüler.» Tira machte eine Pause und sah ihm tief in die Augen. «Vielleicht war es wirklich ein Trick, so sieht man dich jetzt mit Respekt an. Aber keine Angst: Ich werde dich wie einen Zentaur behandeln. Das Gespräch ist unser Geheimnis; außer mir kann niemand hier genug Englisch.»

«Wieso sprichst du es dann so gut?» Jacko war neugierig geworden.

«Ich sagte doch, ich war ihr Schüler. Sie hat mich zum Handelszentaur gemacht. Violett ist die Handelsuniform. Jetzt hab ich wohl einige Fragen gut.» Tira lächelte kurz für sich. «Du sprichst ein seltsames Englisch. Wo kommst du denn her?»

«Aus Europa.»

Tira dachte einen Moment nach. «Europa ist eine Siedlung beim Mississippi und ein Mond von Jupiter. Beide sind recht weit entfernt. Außerdem ein Kontinent in ferner Vergangenheit.» Er machte eine kurze Pause. «Dessen Raumschiff vermutlich seit kurzem zurück ist?», vollendete er.

Jacko stand mit offenen Mund da. «Richtig, ich bin erstaunt, wie gut ihr informiert seid. Ich wurde 2011 in Winterswijk, Benelux geboren. Wir sind mit einem Raumschiff ins All geflogen und erst 1400 Jahre später zurückgekommen. Ich bin älter als der Komet, älter als die Zentauren.»

«Du machst Witze. Du bist nicht 1400 Jahre alt. Das gibt es nicht, auch damals gab es das nicht. Oder bist du gar eine KI?»

«Hast du schon einmal etwas von der Relativitätstheorie gehört? Je schneller man sich bewegt, desto langsamer vergeht bei einem selber die Zeit. Bewegt man sich fast so schnell wie das Licht, dann bleibt die Zeit fast stehen. Das ist uns passiert.»

«Ich weiß, dass ein Raumschiff gelandet ist. Die Bilder sind dir auch ähnlich. Aber dass du 1400 Jahre alt bist, wie soll ich das glauben? Kannst du das beweisen?»

«Nicht so einfach.» Jacko dachte einen Moment nach. «Frag doch mal ein Lexikon, da steht bestimmt was über Relativitätstheorie. Dass ich aus Europa komme, kann ich beweisen, ich meine, du kannst mich gerne über das alte Europa vor 2041 befragen. Ich werde alles beantworten, so gut ich kann. Und damals gab es noch keine KIs. Und ich kann Schwedisch.»

Tira machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ich weiß kaum etwas über die Antike, bestimmt weiß ich weniger als die meisten Bürger

Tira sprach das Wort mit soviel Verachtung aus, dass es Jacko fröstelte. Da hatte er eine Eingebung: «Ich kenne außerdem keine KI, die für ein Pferd einen Namen sich ausdenkt. Und mein Pferd habe ich Jasmine getauft.» Genau genommen kannte er mit Masoud nur eine einzige KI.

Jetzt lachte Tira. «Weißt du, du bist richtig nett. Ich meine, ich kann zwar immer noch nicht glauben, dass du 1400 Jahre alt bist, doch es ist mir egal. Aber über das All würde ich gerne etwas erfahren. Tariff hat es allen erzählt, du wärst Raumfahrer, also wirst du zumindest eine Geschichte erzählen müssen.»

 
Gar nicht so viel später war auch Tariff mit ihrer Geschichte fertig. Die Gelegenheit ihrer Ankunft wurde zu einen kleinen Fest genutzt. Ein Schaf wurde geschlachtet -- das war nichts für ihn.

Jetzt, wo Tariff seine Herkunft als Raumfahrer erzählt hatte, wurde er mit noch mehr Respekt behandelt. Zuerst hatten die Fohlen ihre Abneigung und Scheu überwunden; während die Erwachsenen und die Greise ihn misstrauisch beobachtete, kamen die Jungen auf ihn zu. Er sollte bei einem Spiel mitspielen, wie Tariff übersetzte. Man warf jemanden einen Stock zu, dessen Nummer gerufen wurde. Der in der Mitte musste dann den Stock abfangen. So hatte er gleich seine erste Lektion in Zentaurisch, auch wenn es nur die Zahlen von eins bis neun waren.

Die Fohlen waren niedlich; sie waren zwischen fünf und elf. Die meisten hatten dunkelbraunes Fell, eines war schwarz und zwei waren grau. Sie waren zwar klein, hatten aber teilweise schon mächtig Muskeln angesetzt, so dass sie ziemlich hoch springen konnten. Gerade das Opfer in der Mitte flog oft richtig dem Stock entgegen. Wenn er auch nicht so gut springen konnte, so war er dafür größer und wendiger, was die Chancen einigermaßen ausglich.

Bald war es zu dunkel zum Fangen, so zerstreuten sie sich wieder. Tariff war irgendwo verschwunden. Jacko folgte einfach einem der jungen Zentauren in ein Haus. Als er durch die offene Tür eintrat, drehten sich die sechs weiteren Bewohner zu ihm um. In dem schwachen bläulichen Schein einer Leuchtstoffröhre musterten sie sich gegenseitig. Es war ein alter Zentaur, drei Erwachsene und zwei Kinder. Jacko grüßte mit «Hallo», auf Zentaurisch; mehr konnte er nicht, und die Zentauren verstanden kein Englisch. Da er nicht zu sehr stören wollte, verbeugte er sich kurz und ging wieder hinaus.

Draußen stand Tira: «Komm, es gibt hier kein Haus des Reisenden. Aber der alte Tlatem hat gerne Gäste. Ich wohne zur Zeit auch dort. Er wohnt im dritten Haus von rechts. Dort.»

Jacko holte seine Sachen und sie gingen hinein. Innen gab es nur vier Räume: Zwei große Zimmer, ein Klo (ein längliches Loch im Boden, wo Wasser durchplätscherte) und einen kurzen Flur, gerade einen Zentaur lang, mit Vorhängen an beiden Ende und einem langen Hufabtreter. So konnte trotz Kälte das Haus immer offen sein. Mehr noch beeindruckte Jacko die Inneneinrichtung. Der Boden bestand aus Dielen, es gab zwei Wollteppiche. Die Wände in dem größeren der beiden Wohnräume waren weiß verputzt. Es standen zwei schwarze Zentaurenbetten dort. An der anderen Seite war eine ebenfalls in schwarz gehaltenen Küchenzeile mit holzgefeuertem Herd zu sehen. Einige abstrakte Gemälde zierten die Wand. Ebenfalls gab es ein großes schwarzes Bücherbord, in dem sich auch ein Art Stereoanlage befand. Lediglich die Beleuchtung des Raumes hätte stärker sein können.

Der andere Raum, wo Jacko und Tariff schlafen würden, war rustikal eingerichtet, nicht primitiv, nein, bewusst rustikal. Im Rückblick war Tariff Hütte primitiv gewesen.


 
Tariff stand draußen am Flussufer und sah in die Berge. Sie wollte ihre Ruhe haben, nach dem Rummel um sie und Jacko. Vom Dorfplatz hörte sie die Rufe der Fohlen und manchmal auch den ziemlich unverständlichen von Jacko.

«Tariff!» Tariff drehte sich um. Tira kam auf sie zu. Er war wütend.

«Tira, was ist? Ich genieße endlich wieder die Ruhe. Ich vergesse immer wieder schnell, was das jedesmal für einen Trubel gibt.»

«Was erwartest du denn? Eine Sire mit einem Mensch als Partner!» Er holte tief Luft. «Ist es wirklich die Wahrheit?», fragte Tira auf Englisch.

Sie legte Tira die Hand auf die Schultern. «Beruhige dich doch erst einmal. Ich habe schließlich nicht mit ihm geschlafen.»

«Noch nicht, meinst du wohl?» Tira war verbittert. «Du verrätst alle Zentauren. Gerade du kannst dir das nicht leisten, bitte.» Tira begann zu weinen.

Tariff nahm ihn in ihre Arme. «Ach Tira, du warst nie in der großen Politik. Ich bin geflohen, gerade weil ich mein Leben leben wollte, ohne diese Sprüche zu hören. Es sind dumme Sprüche dazu. Gerade weil unter meinen Vorfahren Menschen und Pferde waren, ja es stimmt.» Tira sah sie ungläubig an. «Natürlich, die letzten, absolut reinrassigen Zentauren sind vermutlich Ruron und Raldron. Beide sind durch jahrhundertelange Inzucht völlig degeneriert. Auf die soll ich stolz sein? Es dürften die langsamsten, unsportlichsten und dümmsten Zentauren sein, die ich kenne. Aber sie sind reinrassig und weiß.»

Tira nickte. «Aber warum mit einem Menschen? Warum nicht ein wunderschöner, kluger und intelligenter Zentaur. Die gibt es durchaus, du hättest nur dein Eremitendasein aufgeben müssen.»

«Ich habe nie gesagt, dass ich wirklich ein Kind von ihm will. Aber selbst wenn, wer nicht tolerant ist, kann auch keine Toleranz erwarten. Wo soll es hingehen, wenn jeder Mensch ein Tier für uns ist? Wir sind dabei, unnötig alte Feindschaft zu pflegen. Ach Tira, ich verstehe dich ja. Aber ich habe dir schon immer gesagt, dass ich dich dafür zu gut kenne.»


 
Am Abend brannte mitten im Dorf ein großes Feuer, Teile des zuvor geschlachteten Schafes wurden dort gegrillt. Gleichzeitig gab es drei große Töpfe mit Suppen und einigen Jacko unbekannten Wintergemüsen, vielleicht Neuzüchtungen. Nicht alles fand seinen Geschmack, die Eichelsuppe mit ganzen Blättern war für Menschen ebenso ungenießbar wie wohl auch unverdaulich. Dafür war die Käsesuppe aus Schafs- und Zentaurenkäse sehr gut. Vier Zentauren musizierten zum Essen auf Instrumenten, die stark mit Geige, Flöte, Harfe und Bodrum verwandt waren. Die Hälfte der Stücke waren recht flott, wenn auch mit ziemlich seltsamen Rhythmen; die andere Hälfte war eher meditativ. Zum Tanzen eignete sich keines der Stücke, aber selbst Jacko musste bei dem Gedanken an einen herumwirbelden Zentaur eher an ein Rodeo denn an einen Tanz denken.

Schließlich war er satt. Die Zentauren hatten nur darauf gewartet. «Erzähle uns doch vom Weltall», übersetzte Tariff ihre Bitte. Er tat es gerne. Es war Ersatz für den Ruhm, den er eigentlich erwartet, aber von den Menschen nicht bekommen hatte. Schade das Raissa nicht mitgekommen war, sie genoss es noch mehr.

Tariff und Tira übersetzten abwechselnd. Vermutlich vereinfachten sie einiges, nicht damit die Mythen nicht entehrt wurden, aber das Publikum waren Bauern, und nicht einmal Tira kannte ja die Relativitätstheorie. Ausführlich ging er darauf ein, ob sie das verstanden oder ihm auch nur glaubten oder nicht, es war ihm egal. Sie waren trotzdem gute Zuhörer. Er erzählte bis weit nach Mitternacht, die Zentauren waren begeistert und wollten alles wissen. Schließlich war Jacko zu müde, und so verschoben sie den Rest auf den nächsten Morgen.

Die Nacht versuchte Jacko, auf dem Zentaurenbett gegenüber von Tariff zu schlafen. Doch es war zu schmal und zu schief, zweimal wachte er auf, weil er heruntergefallen war. Also baute er sich auf dem Boden ein Lager aus Decken und Fellen.

Als er aufwachte, da war es draußen schon hell. Tariffs Bett war leer. Er reckte sich, machte ein paar Kniebeugungen und Dehnungsübungen, wie er sie immer im Raumschiff gemacht hatten, als er von dem Fenster Lachen hörte. Einige der Fohlen standen vorm Fenster. Schnell sprintete er hinaus und rannte ihnen ein Stück hinterher. Er hatte natürlich keine Chance, sie einzuholen. Da es draußen aber nieselte und ziemlich kalt war, erst recht mit nacktem Oberkörper, lief er nur eine Runde um das Haus und kehrte schnell in die Wärme zurück.

Der Herd war warm, so konnte er die Milch aufwärmen, die dort für ihn stand. Dazu hatten sie ihm einen halben Laib Brot, Butter, etwas Honig und Marmelade, Käse und Quark hingestellt. Leider war wohl das Brot mit gemahlenen Eicheln gebacken, es hatte jedenfalls diesen bitter-sauren Geschmack. Aber die warme Milch mit Honig entschädigte ihn dafür.

Als er wieder vor die Tür trat, nahm ihn eines der Fohlen bei der Hand und zog ihn mit sich. Ihr Ziel war das größte Haus. Dort waren Tariff, Tira und fast das ganze Dorf. Es war recht eng, doch die vielen Zentauren wärmten den Raum. Es roch zwar nach Zentauren, doch da diese scheinbar je nach Farbe nach bestimmten Früchten rochen, war der Raum von einem Orangen- und Kiwiduft erfüllt. Man wollte natürlich den Rest vom Weltraumflug hören. Und da am Abend nicht alle bis zum Schluss ausgehalten hatten, musste er einen Gutteil wiederholen. Zwischendrin gab es immer mal wieder einen Korb mit Broten, der durchgereicht wurde.

Als endlich alle alles gehört hatte, war es draußen schon wieder dunkel. Das Wetter machte auch nicht gerade munter und der gestrige Tag war lang gewesen, und so gingen sie früh zu Bett. Weder er noch Tariff oder Tira konnten viel mehr als krächzen nach diesem Stimmbändermarathon.


 
Tariff sah auf den schlafenden Menschen. Er lächelte im Schlaf. Träumte er von seiner Partnerin? Sie packte noch ihre Sachen zusammen, bevor sie ihn sanft herumdrehte: «Jacko, ein wunderschöner Morgen. Es hat zwar etwas geschneit, doch die Sonne ist herausgekommen. Mach dich fertig, die Tage sind immer so kurz.»

Er blinzelte in die Helligkeit, die durch das offene Fenster hereinschien. Es war eiskalt, der Atem bildete dichte Wolken vor dem Mund. Er rannte einmal um das Haus herum, um warm zu werden. Jeder der Zentauren, die ihn so sahen, blieben mit kopfschüttelnd stehen. Auch Tariff hatte das bei einem Mensch erst einmal gesehen -- von Jacko am Strand. Endlich war Jacko warm. Er holte Jasmine und lud ihr die Packtaschen und den Sattel auf.

Während Jacko draußen packte, bereitete Tariff im Haus das Frühstück und den Proviant für unterwegs vor. Tira trat hinter sie: «Tariff, ich werde mitkommen.»

«Ich glaube, dass ist eine dumme Idee. Du wirst hier gebraucht. Du weißt, was für Anfeindungen ich mich durch ihm aussetzen könnte! Ich dachte, wir gehen erst einmal nach Burns.»

«Gerade deshalb. Ich werde endlich etwas für dich tun können. Ich kenne Burns, ich habe dort vor einem halben Jahr erst meine Prüfung gemacht. Und es ist Winter: Was soll ich groß verkaufen? Ich werde mitkommen.»

«Jacko soll entscheiden, einverstanden?»

«Einverstanden»

Jacko war einverstanden, so packten sie die letzten Vorräte in die Taschen und zogen los. 450 kalte Kilometer lagen vor ihnen.

Kurz hinter dem Dorf begann ein Pfad. Jacko ließ sich mit Jasmine ein wenig zurückfallen. Tira verstand den Wink, sie ritt etwas voraus, so dass Jacko und Tariff ungestört reden konnten.

Jacko begann: «Tariff, bevor du mich als deinen Geliebten ausgibst, frage mich doch bitte vorher.»

«Ich hätte ja nicht sagen können, hier ist ein hergelaufener Mensch. Ich kenne ihn kaum, aber seid gut zu ihm. Er ist bestimmt kein Spion.»

«Kein Grund, so sarkastisch zu sein, es war nicht böse gemeint. Die Wahrheit ist meist länger, als ein einziger Satz. Doch sie hätten mir bestimmt nichts getan, wenn du es nicht gesagt hättest.»

«Nein, vermutlich nicht.» Sie starrte trotzig nach vorne. Einige Zeit ritten sie so nebeneinander. «Tira hat es dir gesagt, nicht wahr? Du hättest es schon früh genug erfahren.»

«Sicher. Und du hättest es mir auch sagen können.»

«So? Scheinbar nicht.» Sie drehte sich zu ihm um. Verdammt, Jacko war klug und schön, aber es schien ihm völlig egal zu sein, welche Farbe ihr Fell hatte. Was sollte sie noch sagen? Oder war es nur ihr Trotz?

 
Je höher sie kamen, umso öfter fanden sie noch einige Fetzen Schnee, umso seltener wurden die wenigen Gehöfte und die zugehörigen Felder. Schließlich ging es nur noch durch Wald. Ein recht beachtlicher Flusslauf rauschte von Zeit zu Zeit rechts von ihnen über Stromschnellen, wenn das Tal wieder sehr eng wurde. Während sie langsam ansteigen, bekam Jacko abwechselnd von Tariff und Tira Lektionen in Zentaurisch.

Gegen Mittag rasteten sie. Tira war einem natürlichen Bedürfnis gefolgt und etwas abseits verschwunden. Tariff biss gerade ihn ihren Apfel.

«Tariff, äh, was mich eigentlich schon immer interessiert hat, ich meine. Äh, ihr habt das Schaf gegessen, und manche der Brote waren mit Schinken belegt. Dann aber wieder diese, nunja, grässlichen Eicheln. Das würde ein, äh, normaler Pflanzenfresser nicht verdauen können, ohne Verstopfung. Ich meine, äh, wieviel ist an einem Zentaur Mensch und wieviel Pferd?»

Tariff verschluckte sich fast. «Tu mir einen Gefallen. Bringe nie mehr das Wort Pferd, oder gar Tier, in irgendeinen Zusammenhang mit dem Wort Zentaur. Wir sind keine Tiere!» Sie brüllte es fast.

«Entschuldigung, du weißt, ich habe es nicht so gemeint. Aber du hast die Frage verstanden?»

«Du meinst, so innerer Aufbau. Warte, ich muss überlegen. Also, von Pferden, also unseren Einhufer-Vorfahren, haben wir das Unterskelett einschließlich der Vorderhüfte, die ja eher ein Schultergelenk vom Aufbau ist. Muskeln sind sicher auch vom Einhufer. Der Kopf ist vom Mensch, und der Oberkörper? Ich weiß nicht, da ist jedenfalls nur Lunge drin. Ach ja, ähnlich wie bei Hunden haben wir eine Art Wärmetauscher vor dem Gehirn, damit selbst bei großer Anstrengung das Gehirn kühl bleibt. Den Rest kann ich dir nur beschreiben, da weiß ich es nicht. Direkt hinter der Vorderhüfte ist das Zwerchfell und das Herz. Das ist übrigens kleiner, als alle glauben, weil wir Venenherzen haben. Denn wenn wir uns bewegen, ich meine so schneller Galopp, dann pumpen die Muskel gleichzeitig Blut. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich zitter, wenn wir plötzlich stehen bleiben: Die Muskeln müssen sich bewegen, um weiter Blut zu pumpen. In diesem zweiten unteren Brustkorb liegt dann auch noch ein Zweikammermagen und die restlichen Organe sind dann längs der Wirbelsäule. War es das?»

Jacko nickte. «Ja, danke. Ich habe zwar nicht alles verstanden, mein Englisch.»

«Hm, in Burns werde ich ein Anatomiebuch für dich besorgen.»

«Danke.» Allerdings war sich Jacko nicht ganz sicher, ob er wirklich Zentauren als Schemazeichnung sehen wollte. Schon jetzt malte er sich aus, wie es wohl unter der Haut und dem Fell aussah ...

Da kam Tira wieder zurück und sie setzten ihren Weg fort, denn es war recht kühl.

 
Am Abend kamen sie an einen großen See, der das Tal fast völlig ausfüllte. Die Sonne stand schon tief und beleuchtete die Wolken von unten. Das letzte Gehöft lag hatte noch vor dem letzten Anstieg zum See gelegen. Aber Tira führte sie zu einem Überhang, unter dem sie die Nacht verbringen konnten. Sie machten ein Lagerfeuer, um heißen Tee zu kochen, während vom See der Nebel aufstieg. Bald schon konnten sie nicht viel mehr als fünfzehn Meter weit sehen, sie saßen in ihrer rötlich flackernden Welt, die das vom Nebel reflektierte Feuer erzeugte.

Jacko war froh über den Schlafsack; aber wenn es noch zehn Kelvin kälter werden würde, und alle gefroren wäre, dann war er sich nicht mehr sich, ob der Schlafsack noch ausreichen würde.

Am Morgen war der Nebel eher dichter geworden. Es war noch immer recht dunkel, und natürlich war alles klitschnass. Schweigend zogen sie los, Jacko rannte eine Zeit neben ihnen her, um sich etwas aufzuwärmen.

Sie folgten dem Seeufer entlang nach Osten. Nach zwei Stunden kam Wind auf und vertrieb den Nebel. Etwas Sonne kam zu Vorschein. Auf einer Lichtung am Ufer rasteten sie und genossen das bisschen Wärme. Doch bald kamen wieder Wolken auf und es wurde wieder kalt.

Kurz darauf waren sie am Ostende des Sees. Das Tal wurde wieder eng, und der Fluss war gerade noch ein größerer Gebirgsbach. Sie passierten die ersten geschlossenen Schneeflächen, und der Weg ging immer noch langsam aber stetig bergan. Der Berg, der bei ihrer Mittagsrast im Osten aufragte, war der gut 3500 Meter hohe, schneebedeckte Jefferson Berg. Er stand auf der Kammlinie zwischen der Küstenregion und der Wüste. Hinter dem Kamm fiel das Land ab, die Luft konnte sich wieder erwärmen und trocknete das Land aus -- Wüste eben.

Das Abendziel war die Passhöhe auf 1582 Metern. Dort gab es einen Unterstand, hatte Tira versprochen. Tatsächlich war das verkohlte Viereck deutlich zu erkennen. Doch es war zu dunkel, um weiterzutraben.

In der Nacht wachte Jacko vor Kälte auf. Ein dreiviertel voller Mond stand hell am sternklaren Himmel. Schneefelder reflektierten das bläuliche Licht. Es war bitter kalt, auch die Zentauren waren vor Kälte wach geworden und froren. Schließlich legten sich Jasmine, Tariff und Tira nebeneinander, während er sich über den Pferderücken der drei legte und den Schlafsack darüber ausbreitete. Es war unbequem. Er tröstete sich damit, dass sie heute abend in wieder in der Zivilisation in Bend sein würden.

Daran dachte er noch den ganzen Vormittag. Dieser Gedanke wurde umso verlockender, weil es in der Zwischenzeit zu schneien angefangen hatte. Ein eisiger Rückenwind trieb sie voran. Zu allem Übel wurden die Bäume weniger. Am Nachmittag waren sie dann in den ersten Ausläufern der Wüste, ungebremst wehte der Wind durch sie hindurch.

Endlich, die Sonne war schon untergegangen, trabten sie zwischen den ersten Häusern hindurch. Der Empfang war kurz. Noch vielmehr als in Zikaku/Salem erregte der Mensch Aufsehen, noch viel weniger wussten sie, wie sie reagieren sollten. Der letzte Mensch war vor 220 Jahren hier gesehen worden, und dieser war verrückt gewesen, hatte damals mit einem Gewehr Zentauren gejagt. Jackos zehn Worte gebrochenes Zentaurisch halfen ein wenig, dennoch lag eine Spannung in der Luft. Sie übernachteten in einem Heuschober und zogen am frühen Morgen weiter.


 
Jacko war froh, als Bend hinter einer Biegung verschwunden war. Er hatte die Ablehnung gespürt, gleichzeitig vermischt aber mit Angst oder Respekt oder etwas Ähnlichem. Er hatte nur wenig von den Gesprächen verstanden, doch genug, um sich Sorgen zu machen. Ein Amokläufer war hier gewesen, das hatte auch er verstanden.

Die Strecke nach Burns war weiter als von Salem nach Bend; aber dafür (oder leider) war das Land hier eben, der Wind pfiff ungehindert über die Wüste. Durch die trockene Luft kühlte er nicht ganz so stark, trotzdem war es nach kurzer Zeit sehr unangenehm. Schnee lag höchstens fünf bis zehn Zentimeter hoch.

Die Zentauren hatten sich in Decken gehüllt, auch er saß dick vermummt auf Jasmine. Abwechselnd übte er mit Tariff und Tira die Zentaurensprache, um sich abzulenken. Sie war nicht sehr schwer, doch die Aussprache war ungewohnt und erforderte Übung. So murmelte er die Worte ständig vor sich her.

Wie üblich, kurz nach Sonnenuntergang hatte sie ihr Etappenziel erreicht, das einzige Gehöft auf den nächsten dreißig Kilometern. Sie klopften an die Tür des Hauses. Die Tür ging auf und ein stattlicher schwarzer Zentaur begrüßte sie, hielt inne, als er den Mensch sah, rief in das Haus: «Zwei Zentauren und ein Bürger

Er war erschrocken, viel Abscheu in dem Wort Mensch lag. Als Antwort auf den Ruf des Zentauren hörten sie Hufgetrappel. Hinter dem Zentaur erschienen ein paar weitere. Jacko traute seinen Augen nicht, alle hatten blaues Fell. Auch Tariff und Tira reagierten, jedoch schienen sie mehr entsetzt als überrascht. «Mutanten!», flüsterte Tariff ihm zu.

«Sire, was willst du und der Bürger hier?», fragte der schwarze Zentaur.

«Wir reisen zusammen nach Burns», antwortete Jacko mit dem vorher geübten Satz. Sofort verstummte das Getuschel der anderen, vermutlich hatten sie Angst, er verstünde sie.

Eine lange Pause entstand. «Du hast Mutanten in deinem Haus», begann Tariff. «Warum bist du dann zwei Zentauren mit einem freundlichen Menschen so abweisend?» Sie betonte Mensch; wegen der Zentaurengeschichte, so hatte sie ihm eingeschärft, sollte er sich besser als ,,Mensch Jacko van Klemt(er)" vorstellen. Bürger war gleichbedeutend mit Feind.

«Tretet ein, Sire, und äh» Er machte eine Pause, rang kurz mit sich selber. Er hatte keine Wahl, das sah selbst er. «Auch der Mensch und sein Pferd.»

Zuerst trat Tariff, dann Tira ein. Schließlich führte Jacko Jasmine herein. Er hoffte, dass sie nicht den Boden volläppeln würde. Während Tariff und Tira mit dem Gastgeber sprachen, vielleicht um den Preis für eine Nacht auszuhandeln, er verstand sie eh nicht, während dessen kümmerte sich Jacko um Jasmine, puhlte vorsichtig das Eis aus dem Fell, rieb sie ab, damit sie etwas schneller trocknete, legte ihr eine Decke auf. Melken brachte nicht viel, aber schließlich hatte Jasmine genug zu tun, ihn und die Ausrüstung zu tragen. Während der ganzen Zeit standen die drei blauen Zentauren um ihn herum, zwei ganz nahe, während sich der dritte eher in einer Ecke versteckte. Als er schließlich fertig war, drehte er sich ganz um und sie musterten sich gegenseitig.

Sie waren alle kleiner als normalen Zentauren, fast einen Kopf kleiner als er selber. Alle waren sie ziemlich kräftig gebaut. Obwohl es weniger als zehn Kelvin über dem Gefrierpunkt hier drinnen waren, hatten sie bis auf den in der Ecke nichts an. Ihr zotteliges Fell, die Haare und bei Zweien auch die Haut hatten einen Blauton, das an einen nicht zu tiefen See erinnerte -- nur der dritte hatte goldblondes Haar auf dem Kopf, auch wenn sein Körper mit dem gleichen blauen Fell wie bei den anderen bedeckt war. Es sah sehr merkwürdig aus, wie aus der rosigen Haut das blaue Haar sprießte. Seitlich des Kopfes ragten lange spitze Pferdeohren empor, ganz anders als bei Tariff und Tira, und auch sie in blau. Sie hatten alle pechschwarze, glänzende Hufe. Die anderen musterten ihn ebenso intensiv.

Es war eine peinliche Situation, fand Jacko. Es war intelligenten Wesen unwürdig: «Ich heißen Jacko(er) und Pferd(meines) Jasmine(sie).» Er klopfte dem Pferd auf den Rücken.

Der größte und am nächsten stehende der drei antwortete: «Ich bin Fech(er), das ist Fero(sie) und da ist drüben Felo(sie).»

«Seid ihr Kinder?», fragte Jacko.

Betretenes Schweigen folgte. War es schlecht formuliert, war es falsch? Es wusste nicht weiter, damit war sein Kenntnis der zentaurischen Sprache ausgeschöpft. Die Antworten und die Fragen, die nun kamen, verstand er nicht mehr.

Fech, der größte, versuchte es mit gebrochenem Englisch: «Wir aus Großmikrowellfän. Nicht ok, weil Großmikrowellfän. Mutter nicht ok, Kind nicht ok. Wir» Fech machte wilde Handbewegungen aber mehr Englisch kannte Fech nicht. Doch er glaubte zu verstehen: Mutationen wegen dem/der/des Großmikrowellfän. Was oder wo es auch immer war. Er nickte heftig.

Fero hatte sich wohl ein Herz gefasst und trat auf ihn zu: «Ja? Sehen?»

Jacko wusste nicht, gemeint war. Sie führte seine Hand über ihren Körper. «Sehen, ja?», wiederholte sie. Scheinbar sollten sie sich gegenseitig anfassen. Fero ging ein Stück an ihm vorbei, so dass Jacko Rücken und Unterleib vor sich hatte.

Vorsichtig fuhr Jacko mit seiner Hand über Feros Ohren. Sie zuckten und Fero musste lachen. Dann fuhr er mit der Hand die Mähne herunter. Sie war sehr dick, fast wie ein Wulst. Auch das Fell war dick, viel dicker als bei Tariff oder Tira. Deswegen war es auch nicht glatt sondern wellig, aber sehr warm. Am Hintern lief dann das Rückgrat in einem zweigeteilten blauen Pferdeschweif aus.

Fero drehte sich wieder zu ihm. Jetzt war wohl er selber an der Reihe. Er zog er sich Jacke, Pullover, Hose, Hemd und Schuhe aus. Die Unterhose nicht, dass war eben ein altmodisches menschliches Tabu. Er sah zu Boden, während Fero mit ihren Händen über seine Ohren, seinen Fünftagebart, seinen Rücken und seinen Bauch fuhr. Eine zweite Hand hatte sich zu der ersten gesellt, sie gehörte Fech. Wieder und wieder fuhren sie über seinen Oberkörper, sprachen erst zueinander aufgeregt, dann zum dritten Zentaur, Felo. Schließlich kam sie hervor.

Noch während sie lief, zog sie ihr Hemd aus. Er sah hoch und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen: Von der Hüfte aufwärts war sie perfekt menschlich, mehr noch, sie hatte eine Traumfigur (nach den Maßstäben seiner längst vergangenen Epoche zumindest). Sie hatte einen wirklich gelungenen Oberkörper. Ihre Augen begegneten sich und Jacko sah ihr Gesicht, ein Gesicht, von dem er immer wieder geträumt hatte. Blondes Haar, blaue Augen und perfekte Gesichtszüge. Er vergaß einige Sekunden lang zu atmen. Er musste husten.

Felo hatte nichts bemerkt. Sie führte seine Hand über ihren Körper. «Sehen, ja?», wiederholte sie.

Sie musste wirklich naiv sein. Andererseits, natürlich war ein solcher Körper für einen Zentauren bestimmt eine Strafe. Vorsichtig und beherrscht fuhr er mit der Hand über ihren Oberkörper. Sie genoss es, das sah er sofort an ihrem Gesicht. Felo musste lachen, ein helles freundliches Lachen. Das und die Berührungen von Felo hatten ihn zu sehr erregt, als dass er noch an sich halten konnte: Er zog Felo zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf den Mund, den Felo nach kurzer Zeit zu erwidern begann. Wohlig spürte er Felos Wärme auf seiner nackten fröstelnden Haut. Seine Hände hatten sich auf Felos Rücken verkrallt, während ihre Hände ziellos und zugleich erregend über sein Rückgrat fuhren.

Abrupt löste sich Felo. «Nein, nicht.» Sie sagte zwei Sätze, doch außer den Worten ,,Mensch" und ,,viel" verstand er nichts. Fech versucht gerade eine englische Erklärung, als Tira kam.

«Sie sagen, ein Mutant und ein Mensch sind gefährdet. Jeder allein und zusammen noch stärker.» Tira schickte die anderen etwas beiseite. «Wir sind hier bei blauen Zentauren zu Gast. Als die Menschen vor vielen vielen Jahren wieder die ersten Energiesatelliten in Betrieb nahmen, da lebten im Gebiet der Energieempfänger noch Zentauren. Normalerweise ist Mikrowellenstrahlung ungefährlich; bei uns hat sie die Mutation der blauen Zentauren bewirkt. Ein blauer Zentaur bekommt fast immer blaue Kinder. Also sind Kinder für blaue Zentauren meist tabu und niemand will mit ihnen zu tun haben.»

«So, wie keiner mit Menschen zu tun haben will?»

Tira schwieg einen Moment. «Nein, die Gründe sind andere. Aber heute abend sind wir hier Gäste.»

«Und was ist mit Felo? Sie ist so menschlich?»

«Ja, ein schreckliches Schicksal. Sie haben sie als Kleinkind gefunden, als sie völlig abgemagert dem Tode nahe mit einem Monat durch die Gegend irrte.» Tira sah auf. Die anderen blickten sie an. «Sie scheinen keine Feindschaft zu hegen. Komm, helfen wir beim Abendessen.»

Feindschaft? Jacko schüttelte innerlich den Kopf. Er bezweifelte, dass Felo es so empfunden hatte.

Es gab ein reichliches Abendbrot und Jacko erzählte etwas von der Reise durch das All. Es faszinierte die Zentauren, viele Fragen wurden gestellt. Doch sie gingen früh schlafen, da sie früh aufstehen mussten. Mehr als neunzig Kilometer lagen vor ihnen.


 
Sehr früh wachte Felo zusammen mit den anderen auf, nur Jacko der Mensch schlief noch. Der weiße Zentaur erzählte, dass der Mensch mindestens sechs Stunden Schlaf brauchte. Also sattelten sie für ihn Jasmine und bereiteten das Frühstück vor, bis Jacko endlich erwachte.

Er war für einen Menschen ziemlich stark, und er sah aus, als wäre er ihr Bruder. Sie hatte nie gewusst, dass sie so menschlich aussah. Jetzt konnte sie fast die anderen verstehen. Aber er hatte keine Verachtung für blaue Zentauren im Allgemeinen und nicht einmal für sie im Besonderen gezeigt, im Gegenteil. Dabei reiste er mit einem echten Sire. Der war sogar auch freundlich.

Sie verstand die Welt nicht mehr. Ok, die anderen Zentauren verachteten sie, aber der Mensch hatte sie sogar geküsst. Nun gut, als Mensch war er unter den Zentauren eh geächtet. Aber er war im All, hatte fremde Sterne gesehen, wenn ihm das kein Ansehen verschafft hatte; nein, die Zentauren mussten ihn geradezu verehren, deswegen hatte er wahrscheinlich auch den Sire als Begleitung. Wenn sie nur mit ihm reisen dürfte ...

Der Mensch stand auf und massierte müde seine Beine. Felo kniete sich hin und übernahm es für ihn. Er genoss es. Ihr Entschluss stand fest. Nebenbei packte sie für sich selber.

Sie frühstückten gemeinsam, doch schweigend. Alle sahen Jacko an, jeder hatte einem anderen Gesichtsausdruck ihm gegenüber. Als sie fertig waren, brach Felo das Schweigen: «Ich werde kommen?», fragte sie auf Englisch.

«Tariff fragen!», antwortete der Mensch in ebenso schlechtem Zentaurisch.

Tariff redete kurz mit dem Mensch. Es klang nicht sehr freundlich. Sie stritten kurz. Dann sagte er zu Felo. «Ja, traben.»

Genau darauf hatte sie gehofft. Die Verachtung der anderen war ihr egal. Sie war seit drei Monaten volljährig. Und egal was passieren würde, sie konnte sich nichts schlimmeres vorstellen, als hier unter dem Spott der Nachbarn zu leben. Vielleicht war er sogar so großzügig, ihr ein Kind zu zeugen, vielleicht würde er sie sogar in das All mitnehmen. Aber das waren Wunschträume, zu reisen mit einem echten Sire war schon mehr, als sie sich eigentlich je hatte erhoffen können.

So schnell sie konnten, brachen sie auf. Es war kein sehr freundlicher Abschied, andererseits waren die anderen auch froh, dass sie ging und beneideten sie sogar. Dafür waren die Begleiter von Jacko sichtbar verstimmt. Tariff sah aus, als wäre sie schwer verletzt. Streit lag in der Luft, doch er brach nicht aus.

 
Tariff trabte trotzig, beleidigt oder auch eifersüchtig voran, gefolgt von Felo. Hier draußen trug Felo ihren besten Pullover, doch er war schäbig und etwas zu groß im Vergleich zu den Sachen der anderen. Es war ihre erste weibliche Phase, vorher hatte sie nie diese fehlplatzierten Euter gespürt, doch jetzt rieben sie sich bei jedem Schritt an dem groben Wollpullover. Sie verschränkte die Arme, aber das war unbequem und half leider nur wenig.

Jacko ritt neben ihr auf Jasmine. Auf dem Pferd überragte er sie um fast einen halben Meter. Die erste halbe Stunde hatte er seine Hand auf ihre Schulter gelegt.


 
Die Hütte war schon seit einer Stunde nicht mehr zu sehen. Tira und Jacko ritten gerade ein Stück nebeneinander.

«Jacko, du weißt, dass deine Entscheidung unklug war?»

«Vielleicht. Aber ich kann doch nicht Nein sagen.»

Tira sah ihn fragend an: «Du musst es aber können, denn du wirst Felo enttäuschen. Sie sieht in dir ihre Chance, ein Kind zu bekommen, ins All zu fliegen. Dabei weiß sie nichts von dir, nicht einmal, dass du verheiratet bist.»

«Ich liebe sie, ihr Gesicht, ihre Stimme. Von dem Moment, wo ich sie sah. Verstehst du?»

Tira schüttelte den Kopf. «Natürlich, doch man kann nicht immer das haben, was man will. Sie ist blau, sie ist geächtet, und ziemlich sicher bekommen wir noch Ärger ihretwegen. Nicht genug, einen Menschen dabeizuhaben, dazu noch eine Karikatur eines blauen Zentauren. Zu Zeiten der Sklaverei haben sich die Herren öfters mit ihren Zentauren vergnügt. Das geht nicht gegen dich, aber du verstehst mich doch?»

Er nickte, doch sagte nichts mehr dazu.

Auch Tira seufzte, und machte einen kurzen Zwischengalopp.

Die Stimmung in der Gruppe war noch eisiger als das Wetter. Kalter Ostwind pfiff ihnen entgegen. Tariff legte ein scharfes Tempo vor. Felo mit ihren kürzeren Beinen musste sich anstrengen, um nicht zurückzufallen. Außerdem war sie, anders als die anderen, aus der Übung, dafür aber gut erholt. Jacko ritt neben und hinter Felo her, doch weder hatten sie viel Kraft zum Sprechen übrig, noch konnten sie die Sprache des jeweils anderen.

Am Abend kam es zum Eklat. Die Sonne war bereits untergegangen und es wurde dunkel. Der Wind war stärker geworden und es waren noch mehr als zwanzig Kilometer bis Riley, ihrem Tagesziel. Felo schlug vor, eine nahe alte Mine als Nachtlager aufzusuchen.

Jacko stimmte ein: «Jasmine ist erschöpft. Ich bin durchgefroren. Lasst uns dorthin gehen.»

Felo ließ es sich von Tira übersetzen.

Noch während Tira redete, explodierte Tariff: «Dann bleib' doch, wo du willst, undankbarer Mensch. Und auch diese Mutation. Ich will unter einem zivilisierten Dach schlafen. Nur weil diese Missgeburt sich nicht in die Zivilisation wagen kann, soll ich in einer alten Mine nächtigen? Nein, ohne mich!» Damit galoppierte sie los.

Tira stand hilflos zwischen ihnen und der sich entfernenden Tariff. Schließlich lief er auch los. «Ich hatte dich gewarnt. Ich werde sehen, was ich machen kann. Wir sehen uns hoffentlich morgen.» Schnell entfernte er sich.

Zweifelnd sah Jacko den beiden hinterher. Felo holte tief Luft und wollte gerade hinterher, doch Jacko legte die Hand auf sie. «Nein», sagte er und wies mit der Hand auf den Berg. Felo verstand und führte sie vom Weg weg. Doch schon nach fünf Minuten stiegen sie einen Abhang hoch und standen vor einem eingefallenen Holzverschlag, der in den Berg führte.

Felo zündete eine Kerze an. Der Stollen war nicht sehr groß, doch konnte sowohl er wie auch Felo stehen, ohne den Kopf einzuziehen. Jasmine trottete hinterher. Nach wenigen Metern kam ein Seitenstollen, der in eine einigermaßen geräumige Höhle mündete. Es war windstill und deutlich über dem Gefrierpunkt.

Er konnte zwar nicht sagen, wie schön es war, diese Höhle zu haben; doch er konnte sie küssen und lange standen sie umarmt, bis Jasmine immer stärker schubste. Endlich ließen sie voneinander ab und er wandte sich Jasmine zu, während Felo sich um das Essen kümmerte.

Jasmine gab fast keine Milch mehr. Nur einen viertel Liter konnte er aus dem Euter holen. Allerdings war er auch nicht ganz bei der Sache. Geistesabwesend wischte er Jasmine ab und legte ihr die Decken um.

Inzwischen brannte am Eingang der Höhle ein kleines Feuer aus den Verschlagresten, an dem sich Felo trocknete und das Abendessen kochte. Er kam mit Tuch und Bürste an und kümmerte sich um ihr Fell. Es war dick und auch schon leicht verfilzt, die Bürste kam kaum durch. Doch da Felo immer noch mehr wollte, arbeitete er verbissen weiter. Es war seltsam, ihr Fell war blau wie tiefes Meer, doch sie roch nicht nach einer Frucht wie bei den normalen Zentauren, sondern nach ganz normalem Schweiß.

Als Nachtisch gab es noch einen weiteren intensiven Kuss. Sie hatten sich die Pullover ausgezogen, so dass jeder die Wärme des anderen spüren konnte, und lagen aneinander. Doch wenn er hüftabwärts auf Fell und Pferdekörper traf, bewirkte das immer wieder merkwürdige Momente bei Jacko, fast als würde er einen schrecklich-schönen skurrilen Wachtraum durchleben.

Er schlief selig ein. Am Morgen lag er allein im Dunkeln. Da hörte er Hufgetrappel und sah schwachen Lichtschein. Es war Felo, sie kam mit einer brennenden Kerze zurück. Sie sagte etwas auf zentaurisch, doch er verstand nicht, dennoch nickte er. Außerdem musste er pinkeln, also stand er auf und nahm sich eine zweite Kerze.

Draußen war ein Schneesturm losgebrochen. Wahrscheinlich hatte Felo ihm das sagen wollen. Ganz in Ruhe bereiteten sie ein Frühstück vor. Es waren ihre letzten Vorräte, am Abend mussten sie unbedingt weiter. Doch jetzt frühstückten sie reichlich und auch Jasmine bekam genug. Danach kuschelten sie sich wieder aneinander.

Felo bedeutete ihm, die Hose auszuziehen. Nun, jetzt war er dazu bereit. Also zog er sich ganz in gar aus. Felo war fasziniert gerade von seinem Beinen. «Nur er?», fragte sie. Er nickte. Frierend hüllte er sich wieder in Decken und Felle. Sie präsentierte ihre Unterseite. Auch hier war sie anders, als die anderen, sie hatte keine Euter. Er strich ihr sanft den Bauch entlang.

Sie küssten sich wieder. Sie hielt ihm ihren Busen hin. «Trink!»

Er zauderte. Doch sie wartete und schließlich, erst zögernd, saugte er. Sie hatte reichlich Milch. Die Milch war anders als von Jasmine oder Tariff, sehr süß und dick. Sie stöhnte ekstatisch.

«Sex, bitte», sagte sie. Er schluckte. Sie küsste ihn und sie legte sich auf die Seite. «Bitte»

Es wäre gelogen, hätte er behauptet, die Wärme, ihre Berührungen und ihr femininer Geruch hätten in ihm keine Lust entfacht. Trotzdem seiner Bedenken ließ sich aber von Felo überreden. Sie würden es probieren. Felo legte sich auf die Seite. Er schmiegte an ihren Pferderücken, schloss die Augen und roch nur den Schweißgeruch und dachte an ihr Gesicht. Sie war auch noch Jungfrau. Es gelang, die beiden Schweife Felos schlugen wild hin und her.

Das Ende kam mit einem unabsichtlichen Huftritt von Felo. Er schrie auf, hielt sich das Bein. Es war wie das brutale Erwachen in einem Alptraum, wenn man vorher friedlich schlief. Ihm war nach einer Wäsche, er fühlte sich besudelt. Ihm war nicht mehr nach Zärtlichkeiten zumute. Wie hatte er sich nur dazu hinreißen können!

Er zog sich, so schnell er konnte, wieder an und rannte hinaus. Der Schneefall hatte aufgehört, hinter den Wolken konnte er sogar die Sonne ahnen. Doch der Wind trieb noch immer Schneekristalle vor sich her. Er rannte weg, barfuß in den gut fünfzehn Zentimeter tiefen Schnee hinein.

Felo stand am Mineneingang und rief ihn. Er zögerte, doch dann drehte er sich um und warf sich in ihre offenen Arme und weinte. «Ich Mensch, du Zentaur. Es nicht», brachte er dazwischen hinaus, doch ihm fehlten die Wörter, um den Satz zu vollenden. Felo antwortete, und auch wenn er es nicht verstand, so hatte sie vermutlich gesagt, du bist Mensch, aber du bist mein Partner. Er konnte ihr nicht einmal sagen, dass sie ihren Partner nicht verstand.

«Lostraben!», sagte er, als er sich halbwegs im Griff hatte. Schnell packten sie die Sachen zusammen und standen wenig später vor der Mine. Er wollte gerade aufsteigen, da rief sie: «Nein!», hielt ihn am Arm fest und zog ihn zu sich. Er sollte auf ihr reiten. Er war zu schwer von den Jahren mit zweifacher Schwerkraft, sie beide wussten das, doch er tat ihr den Gefallen.

Es war sogar noch schwieriger, als Jacko befürchtet hatte. Da er ihr auf keinen Fall einen Sattel umbinden wollte, musste er sich an Felos Schultern festhalten. Dazu wiederum musste sie ihren Oberkörper senkrecht halten, was sehr ungewohnt für sie war. Außerdem machte der Kopf so alle schwankenden Bewegungen mit, die sie sonst immer durch den vorgebeugten Oberkörper ausglich. Doch sie liefen ein Stück. Ihr Rücken nicht so starr wie der von Jasmine, so dass Jacko heftig durchgeschaukelt wurde. Unbewusst fing er an, sie mit den Knien wie Jasmine zu lenken. Sie ließ dies willig geschehen. Das war zuviel, jetzt reagierte sie wie ein Tier, wenn er sie so behandelte. Sie sollte, sie durfte kein Tier sein. Sie stoppte, und er stieg ab. Es war eine dumme Idee gewesen.

Für die zwanzig Kilometer brauchten sie fast vier Stunden, der manchmal kniehohe Schnee behinderte ihr Fortkommen. Es war ein seltsames Reiten, der Schnee dämpfte das Aufschlagen der Hufe fast völlig. Auch alle anderen Geräusch waren verstummt. Nur das Keuchen des Atem und manchmal das Krachen von Eisplatten waren zu hören. Endlich erschienen die Häuser von Riley.

Aus dem Dorf kam ihnen Tariff entgegen. Sie sahen sie erst, als sie fast bei ihnen war, so wenig hob sich ihr weißes Fell von der Landschaft ab. Sie stoppte vor Jacko und nahm ihm in ihre Arme: «Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Es tut mir Leid.» Dann ging sie zu Felo und umarmte auch sie. Auch wenn er wenig verstand, von dem was Tariff zu Felo sagte, so war es sicher ebenfalls eine Entschuldigung.

Sie stapften nach Riley. Dort gab es ein Haus für Reisenden, denn hier zweigte auch der Weg zu den Alkaliseen ab. Das war eine abflusslose Gegend mit vielen Salzseen und einigen Minen, aber vor allem eine dünn besiedelte kalte Wüste.

«Weißt du, dort stand auch einer der ersten großen Mikrowellenempfänger, die die Mutationen bei Felos Vorfahren bewirkt haben», sagte Tariff. «So sind hier mehr blaue Zentauren zu sehen und die Leute sind toleranter. Hoffentlich auch zu Menschen. Wir haben das Reisehaus eingeheizt und leckeres Essen wartet auf euch.» Sie redete ständig. Er war gerührt, dass sie sich solche Sorgen gemacht hatte, doch gleichzeitig wuchs auch sein schlechtes Gewissen.

Vier blaue Zentauren auf dem Weg nach Burns und weiter zum Schlangenfluss, teilten sich mit ihnen das Quartier. Selbst sie sahen Felo an, als wäre sie besser nicht auf die Welt gekommen, doch Tariff setzte sie für sie ein. Natürlich erst recht für Jacko, doch schließlich war er ja etwas ganz anderes.

Jacko und Felo saßen beide lange am Ofen. Zur Abwechslung musste er nichts erzählen. Die blauen Zentauren erzählten von ihrer Reise und ihren Familien. Jacko verstand fast nichts, nur ab und zu fasste Tariff oder Tira den Inhalt kurz für ihn zusammen.

Diese Zentauren waren anders gekleidet als alle, die er bisher gesehen hatte. Sie trugen alle ein Geschirr aus Lederriemen mit Ösen und Nieten. Nur einer hatte seines abgelegt. Statt einem Pullover trugen sie weite Ponchos, rot mit weißen Streifen, in die orangene und schwarze Sterne eingestickt waren. Er hätte es früher für peruanisch gehalten, doch Tira versicherte ihm, dass es typisch für Nordkalifornien war.

 
Auch am nächsten Tag hatte der Wind nicht nachgelassen und wehte den lockeren Schnee auf. An ein Wegkommen war nicht zu denken. Da sie so viele waren, wurde Wasser aufgesetzt, um Zentauren und Sachen zu waschen. Es war herrlich, endlich wieder saubere Sachen auf einem sauberen Körper zu tragen.

Felo und er küssten sich offen voreinander. Sie hatten überlegt, in die Kälte zu gehen, doch ob sie nun gemeinsam verschwanden oder sich in eine stille Ecke verzogen, machte eigentlich keinen Unterschied. Aber für beide war es nicht mehr dasselbe: Felo hatte sich nun richtig in Jacko verliebt, während Jacko nicht über den gestrigen Morgen hinwegkam. Tira hatte doch recht gehabt?

Ansonsten übte sich er wieder Zentaurisch, versuchte die Geschichten der anderen zu verstehen und erzählte selber welche. Sie saßen in wechselnden Gruppen zusammen, während der Wind draußen vorbeipfiff.

Sie spielte alle zusammen auch Zentaurenspiele; oftmals erkannte er die Grundlagen, zum Beispiel bei Dame. Doch die Regeln hatten sich in 14 Jahrhunderten stark verändert. Es gab auch Kartenspiele, doch hier hatte sich die Zahl der Kartenbilder um zwei verringert: Statt As, König, Dame, Bube, Zehn bis Zwei gab es nur As, Zentaur, Neun bis Null. Sie pokerten, lachten und hatten Spaß.

Als er am Abend einschlief, vermisste er Raissa. Wozu hatte er sich gestern nur hinreißen lassen! Er schlief allein. Unruhig wälzte er sich hin und her, fand aber keinen rechten Schlaf. Träumte davon, selber ein Zentaur zu sein, über die grünen Felder bei Jennifers Burg zu galoppieren und schließlich Raissa zu verführen. Schweißgebadet erwachte er. Es war weit nach Mitternacht. Er weckte Tira. Er musste einfach mit einem ,,Unbeteiligtem" reden. «Tira, wach auf, bitte, und sei leise.»

Tira blinzelte, stemmte sich aber so leise es ging hoch.

«Bitte, komm mit raus, ich muss reden.»

Sie schlichen sich in den eisigen Wind hinaus und gingen um das Haus in den Windschatten. Tira gähnte demonstrativ. «Was ist so wichtiges?»

«Tira, ich muss etwas gestehen. Ich habe vorgestern in der Mine mit Felo geschlafen.»

Tira sah ihn kalt an: «Ich habe es vermutet. Und?»

«Es war grauenvoll, sie hatte mich dazu überredet. Ich mein, den Moment habe ich natürlich auch genossen. Doch dann kam ich wieder zu mir. Glaubst du, sie wird ein Kind bekommen?»

Jetzt machte Tira einen leicht überraschten Eindruck. «Ich weiß nicht.» Tira machte lange Pausen: «Ich weiß es wirklich nicht. Bei einem normalen Zentaur erkennt in der weiblichen Phase fängt das Euter an, Milch zu produzieren. Aber mit diesen Dingern ... Sag mal, hat sich nicht Felo gestern gemolken?»

«Ja, stimmt. Du meinst, sie ist jetzt fruchtbar?»

«Ich weiß es wirklich nicht. Aber es wäre möglich. Du sagtest vorhin, es sei grauenvoll gewesen. Wieso?»

Er schluckte. «Sehr direkt. Aber Ok, abgesehen von den Verrenkungen, die ich so ausführen musste, und dem Huftritt, den sie mir in Ekstase verpasst hatte, ich meine, ich habe mich danach so schlecht gefühlt.» Er holte tief Luft. Wie sage ich es bloß? «Es gibt es Tabus unter den Menschen. Eines davon.» Er biss sich auf die Zunge. «Egal. In mir stecken sehr tief die Erinnerung an die alten Gebote. Ich hatte mich in ihr Gesicht verliebt, ihre Gestalt; doch in ihren Körper hüftabwärts kann ich mich scheinbar nicht verlieben, und ich habe es eine ganzen Zeitlang ehrlich probiert.» Er schlang die Arme um Tira und weinte.

«Ich verstehe dich nicht. Aber ich sehe, du hast genug Probleme damit.» Tira strich ihm über das Haar: «Ich hatte habe dich gewarnt und es ist tatsächlich alles schiefgelaufen. Falls du es noch immer nicht bemerkt hast: Tariff liebt dich vermutlich, deshalb hat sie dich mitgenommen. Ich liebe Tariff, deswegen bin ich dabei. Ich hätte es dir damals fast gesagt», fuhr sie fort. «So, jetzt verliebst du dich in einen blauen Zentaur, bringst Felo dazu mitzukommen, weil sie sonst kaum Hoffnungen hat, geliebt zu werden. Nun hast du aber festgestellt, dass du Felo nicht richtig lieben kannst; auch Tariff wirst du wohl nicht richtig lieben können. Du zeigst aber deine Liebe zu Felo offen und machst beiden falsche Hoffnung. Aber hättest du es nicht getan, dann wären beide unglücklich. Vielleicht wären wir gar nicht erst losgezogen. Ich kann dir auch nicht raten, ich bin auch nicht unbeteiligt. Der einzige Rat, den ich geben kann, ist abzuwarten. Und das ist meist ein schlechter Rat.»

«Und ich habe eine Partnerin, ich bin verheiratet.»

Tira holte tief Luft. «Das hast du schon recht oft erzählt. Ich weiß leider nicht, was dies bei Menschen bedeutet. Aber ich denke, du hast dich das ganz schön tief verstrickt. Erwarte bitte keine Lösung von mir. Ich fühle mich durch dein Vertrauen geehrt; aber eigentlich sollten es doch Tariff und Felo vor mir erfahren, oder? Aber noch wichtiger sollte sein, dass du genau überlegst, was du tust und sagst.» Nach einer Weile fügte Tira hinzu: «Scheiße, nicht wahr? So sagte man doch damals, oder?»

Jacko musste schmunzeln. Dann wurde er wieder ernst. Doch keiner sagte mehr etwas. So standen sie noch fünf Minuten, bis beide vor Kälte heftig zitterten und sich wieder hinlegten.


 
Raissa stand mit einem Computer in der Hand mitten im Wald. Regen rann von ihrer Kapuze. «Wohin jetzt?»

«Er muss hier im Umkreis von fünfzig Metern sein», kam die Stimme aus dem Computer.

«Hier ist nichts.»

«Es muss eine dunkle Stelle sein über dem Erdboden sein.»

Raissa sah sich um. Dunkle Stellen gab es genügend. Über dem Erdboden war hilfreicher. Wie in aller Welt hatte Jacko einen Computer über dem Erdboden verlieren können? War er etwa in die Bäume geklettert? Raissa musste bei der Vorstellung lächeln.

Bestimmt war er auch nicht durch das Gebüsch gekrochen. Blieben somit nur noch Plätze am Weg.

Sobald sie den morschen Baum sah, wusste sie, das war der Platz. Hier lag auch tatsächlich der erste Computer. Sobald sie ihn an das Tageslicht holte, meldete sich Masoud wieder.

«Der Computer hat alles vergessen, er weiß nicht einmal, wem er gehört. Ich muss ihm sein Backup überspielen. Das kann nur ein gemeiner Zentaur getan haben. Sei vorsichtig, wenn du den zweiten Computer suchst.»

Sie zuckte mit den Achseln. Der Computer war schließlich keine KI, eher ein Sklave von Masoud. Nun, sie folgte Masouds Wegbeschreibung. Es wurde moorig, sie musste Joe, wie Jacko immer das Pferd genannt hat, selbst führen. Doch der Computer bekam noch Licht ab und konnte sie so selbst heranlotsen. Er lag in einer Astritze.

«Hallo Raissa», begrüßte sie sogar der Computer.

«Weißt du, wo Jacko und der Zentaur ist?»

«Sie haben lange gesprochen. Ich kann dich zu ihrem letzten Ort hinführen.»

Schon kurz darauf stand sie vor der Hütte. Es gab kein Schloss. Sie nahm den Nagel aus der Verriegelung der Tür und öffnete. Es war drinnen kühl und feucht, nicht anders als draußen. Feuerholz war im Ofen aufgebaut und bereit, angezündet zu werden. Eine Packung Streichhölzer lag dazu in einem Einmachglas griffbereit. Als sie den Schalter neben der Tür betätigte, flammte eine trübe Glühbirne an der Deck auf. Wenn es warm war, könnte es hier drinnen durchaus gemütlich sein.

Sie sah die seltsame Bank, das einzige freistehende Möbelstück im Raum. Dazu gab es einen fast leeren Schrank, Decken, zwei Pullover, ein zerfetzter blauer und ein abgetragener violetter Pullover mit V-Ausschnitt zum Schnüren und kurzer Schärpe, beide oft geflickt. Dann gab es noch zwei weitere Exemplare dieses uniformartigen Kleiderstückes zusammengelegt, beide waren einmal grün gewesen, beide waren kleiner. Ganz hinten lag ein weißes reich geschmücktes Stück, wie die anderen auch, in der großen Größe. Auf der linken Brusttasche war ein Wappen aufgestickt. Es zeigte einen weißen Zentaur vor einem Pflug. Im Fach darüber lagen zwei und drei teppichartige Decken, alle hinten ausgeschnitten. Zwei waren kleiner und grün, die anderen blau und violett; die unterste und schwerste aber war reichverziert und kaum getragen.

Auf dem Regal lagen ein paar Bücher. Sie schlug eines auf, konnte die Schrift darin aber nicht lesen. Den Zeichnungen nach musste es ein dreibändiges Lexikon sein. Dann gab es ein handgeschriebenes Buch und eine Sammlung handgeschriebener gebundener Blätter. Dort waren auch Zeichnungen, es waren Zeichnungen eines Kindes. Sie stellten wohl ,,Gegenstände des täglichen Bedarfes", wie es Ethnologen formulieren würden, dar. Eine Seite später fand sie unter den Zeichnungen in anderer Schrift die englischen Namen und darunter die ungelenken Versuche der Nachahmung. Sie blätterte gegen das Ende hin. Der Schüler oder die Schülerin hatte jetzt eine eigene Handschrift. Einen ganzen fünfseitigen Aufsatz in Englisch fand sie. Es war die Zusammenfassung einer Geschichte, Nathan der Weise von Lessing, erkannte sie. Sie war gerührt.

Auf der allerletzten Seite waren Entwürfe, wie für eine Visitenkarte zu sehen. Es gab zwei endgültige Entwürfe. Auf beiden stand: ,,Tira, Handelszentaur, Nordkalifornien". Auf dem Regal stand auch noch ein kleines unscharfes Hologramm. Es zeigte zwei Zentaur, einen großen weißen, mit dem abgenutzten violetten Schärpenpullover und der violette Decke über dem Pferderücken und -hinterteil sowie einen kleineren braun-schwarz-weiß gefleckten Zentaur mit einen hellgrünem Schärpenpullover und Decke. Alle Kleidungsstücke erkannte sie wieder, sie lagen dort im Schrank.

Das Küchenbord war kahl. Keine frischen Sachen standen hier, aber schließlich war es Winter. Ein Glas Marmelade stand auf dem Bord. Es war Quittengelee.

Sie hatte genug gesehen. Obwohl die Hütte so aussah, als würde ihr Besitzer bald wiederkommen, so war sie doch seit mindestens einer Woche verlassen, das heißt, seit Jacko gesagt hatte, er wolle das Zentaurenland erkunden.

«Masoud, ich habe genug gesehen, hier ist er nicht. Er scheint kurz nach dem Gespräch abgereist zu sein.»

«Ich habe dir ja gleich gesagt, ich hätte den Nervenunterbrecher der Stute betätigen sollen.»

So etwas konnte nur eine KI denken. Immerhin hatte Masoud es nicht getan.


 
Am nächsten Tag hatte der Wind nachgelassen. An jeder kleinen Erhebung hatten sich riesige Schneewechten gebildet; dafür lag auf der Straße der Schnee gerade fesselhoch. Das war jedoch alles nebensächlich. Denn der Morgen hatte Tariff die Sicherheit gebracht, dass Felo schwanger war. Verdammt, wieso hatte er ausgerechnet Felo gewählt? Einen blauen Zentaur, noch dazu eine Mutation! Nun, scheinbar war ihm der soziale Status wirklich egal. Sie konnte es nicht ändern, aber sie konnte sich immerhin darüber aufregen. Auch wenn es natürlich sinnlos war.

Die blauen Zentauren legte sich ihre Geschirre für den schweren Wagen an. Jacko bot ihnen Jasmine an. Sie improvisierten auch ein Geschirr für die Stute. Dafür konnten sie auf den mit Gold, Erz und Salzen gefüllten Wagen noch ihr Gepäck laden. Tariff wollte ihr Gepäck selber tragen und hielt sich etwas abseits.

Zum ersten Mal konnte die Stute von Jacko zeigen, wie stark sie wirklich war. Ohne zu murren zog sie den Wagen, den zwei blaue Zentauren geradeso gemeinsam bewegen konnten. Wenn es schwerer ging, dann halfen alle mit und schoben oder zwei blaue Zentauren schirrten sich zusätzlich ein. Bis auf Tariff waren alle guter Stimmung.

Der Wagen hemmte sie deutlich. Sie waren so langsam, dass selbst Jacko stückweise ohne große Anstrengung mitlaufen konnte. Nach einiger Zeit kam Tariff zu ihm. Sie liefen eine ganze Zeit schweigend. Er atmete tief durch. «Tariff», sagte er und machte eine Pause.

«Möchtest du reiten?», fragte sie.

Die Frage wäre auf Zentaurisch vieldeutig gewesen, doch er nahm arglos an. Sie war erstaunt, wie schwer er war. Dennoch wollte sie das nicht zeigen und galoppierte los.

«Du läufst so schön leicht, ganz anders als Jasmine oder Felo. Dein Rücken bewegt sich nur ganz leicht. Tariff, es ist wunderbar, wie sanft du dich bewegst. Aber ich muss mit dir reden.»

Sie wurde langsamer. Er fuhr fort: «Du weißt, ich habe mich in Felos Gesicht verliebt. Und äh, wir waren in der Mine eingeschneit, und da, äh, da habe ich mich hingegeben, auch ihren Körper zu lieben.» Er wusste nicht, wie er es weiter sagen sollte, ohne Tariff oder Felo zu beleidigen.

«Und jetzt, wo sie ein Kind bekommt, bist du ratlos?»

Jacko klammerte sich an ihrer Schulter fest: «Sie ist schwanger?» Es klang sehr überrascht. War er denn blind?

«Hast du nicht gesehen, wie ihre Brüste in den letzten zwei Tagen angeschwollen sind? Und auch ihr Geruch ist anders geworden, heute morgen jedenfalls.»

Nichts davon hatte er bemerkt. Tariff musste Felo sehr genau beobachten. Eine längere Pause entstand. «Scheiße», fluchte er. «Das habe ich nicht bemerkt, ich meine, woher sollte ich das auch wissen. Äh, nein, Tariff, es war grauenvoll für mich, diese schrecklichen Verrenkungen. Ich kann es nicht noch mal tun, nicht mit dir und nicht mal mit Felo. Dabei ist Felo eher so groß wie Raissa, vom körperlichen Aspekt sozusagen. Du bist dagegen eher so groß wie, äh, versteh mich nicht falsch. Ich brauche eine Leiter, um dir in die Augen zu sehen. Ich sage dir das nur, damit du dir keine Hoffnungen machst, solltest du dir je welche gemacht haben. Warte.» Er atmete noch einmal tief durch: «Ich fürchte, ich muss etwas ausholen, weil das körperliche eigentlich nicht allein das Problem war, äh, ist. Äh, du weißt, als ich aufwuchs, gab es außer den Menschen nur, äh, keine andere, äh, genauso intelligente Rasse auf dem Planeten. Und es gab auch viel mehr Menschen. Vermutlich deswegen, äh, und natürlich auch historisch bedingt gab es eine Menge Tabus, äh, sexueller Art, äh. Sagt die das Wort Sodomie etwas?»

Tariff schüttelte den Kopf. Sie konnte ihm noch geradeso folgen. Was wollte er ihr nur sagen?

«Es ist eines dieser Tabus, die als pervers galten. Damit wurde Sex mit Tieren bezeichnet, und»

Mit Tieren? Sie blieb stehen. Er wäre beinahe heruntergefallen. Mit Tieren! Er war kein bisschen besser, als jeder andere gewöhnlicher Mensch, nein Bürger. «Steig ab», presste sie hervor, bevor ich dich abwerfe, immerhin dachte sie es nur.

Er tat wie geheißen. «Tariff, du missverstehst mich. Ich»

Sie drehte sich noch einmal um: «Was gibt es misszuverstehen? Immerhin warst du ehrlich!» Dann galoppierte sie quer vom Weg weg, dass der Schnee nur so aufstob.

«Scheiße!», fluchte Jacko, schrie es so laut er konnte. Es ging ihm nur wenig besser danach. Er konnte nicht hinterher rennen, also sah er ihr nach, bis ihr Weiß mit dem des Schnees verschmolzen war und wandte sich dann dem Wagen entgegen. Er konnte sehen, wie sich Tira ebenfalls vom Weg zu Tariff hin gewendet hatte, während Felo auf ihn zu kam.

«Was ist los?», fragte sie.

«Will sagen, wissen sagen nicht.» Er zuckte mit den Achseln. «Du haben Kind?»

«Weiß nicht, ich hoffe » Die nächsten zwei Sätze verstand er wieder nicht. Doch sie nahm ihn in die Arme und küsste ihn. Sie standen solange umarmt, bis der Wagen sie erreicht hatte. Die anderen Zentauren wollte genauso wissen, was passiert war, doch auch ihnen konnte er keine bessere Auskunft geben. Mit einem Achselzucken war es abgetan, dann wandten sie sich wieder dem Wagen zu, denn es ging eine kleine Steigung hinauf.

Es war ohne Tariff und Tira sehr viel anstrengender. So beschlossen sie, erst einmal eine Mittagspause zu machen, in der Hoffnung, dass die beiden in der Zwischenzeit wieder auftauchen würden. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Dafür brach die Sonne durch die hohen Wolken. Es wurde angenehmer, fast warm.


Burns

Tira galoppierte so schnell er konnte hinter Tariff her. Doch Tariff blieb außer Sicht, nur ihre Spuren waren noch zu sehen. Er lief langsamer, konnte nicht mehr. Verdammt was hatte der Mensch Tariff angetan? Waren Zentauren und Menschen wirklich nicht zum friedlichen Zusammenleben geeignet?

Endlich sah er Tariff. Er schrie ihren Namen aus Leibeskräften. Sie blieb stehen und wartete auf ihn. Als er bei ihr war, da konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten, keuchte fürchterlich und musste sich an Tariff abstützen. Doch es war nicht nötig, dass er überhaupt etwas sagte, es sprudelte nur so aus Tariff heraus: «Sie nennen sich Krone der Schöpfung. Er hat mit Felo geschlafen. Du hast es ja auch gemerkt. Und da sagt er -- hörst du mir zu?»

Tira deute ein Nicken an, doch Tariff fuhr schon so fort: «Dieser anthropozentrische Mensch, da sagt er, er habe es mit Felo getan, und er könnte es nie mehr tun, weder mit Felo, noch mit mir. Aber er küsst sie, und wie er sie küsst -- Ha! Als ob ich das gewollt hätte.» Tariff stockte nur einen Moment, zu kurz, als dass er überhaupt etwas sagen konnte. «Naja, ein bisschen schon. Ein weißer Zentaur als Kind, das wäre nett gewesen. Aber da sagt er nicht nur das, er sagt, er könne es nie mehr tun, es gäbe da ein Tabu, Sex mit Tieren.» Sie bäumte sich auf. Er wich erschreckt zurück. Noch nie hatte er Tariff so erlebt. Genauso plötzlich beruhigte sie sich wieder und machte eher einen niedergeschlagenen Eindruck. «Ich ein Tier, Felo ein Zentaur? Ich musste fliehen, ich hatte mich sonst nicht mehr unter Kontrolle, vielleicht hätte ich ihn niedergetrampelt. Verstehst du, ich war einen Moment so weit, einen Menschen zu töten. Nur wegen dem, was er gesagt hat.» Sie wurde wieder wütender, machte aber eine kurze Pause.

«Es ist meine Schuld», sagte er.

Sie sah ihn irritiert an. «Was bitte?»

«Es ist meine Schuld. Gestern Nacht hat er mir ähnliches erzählt und meinen Rat erbeten. Ich sagte, er soll dir alles erzählen.»

«Das hat er wohl getan. So naiv kann er doch nicht sein. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass Felo wahrscheinlich schwanger ist.» Sie musste plötzlich lächeln. «Das hat ihn ganz schön mitgenommen.» Sie liefen eine Zeitlang langsam weiter. Schließlich bemerkte Tariff: «Wo sind wir eigentlich?»

Die Frage war berechtigt. Ihre einzige Orientierung war der Wind, der leider ihre Spuren im Schnee schon zu geweht hatte. Die hier etwas hügeligere Wüste war ziemlich eintönig, die hohen schneebedeckten Berge zu weit entfernt, um genau ihre Position zu bestimmen. Und nur Tariff hatte noch ihr Gepäck, Tiras lag auf dem Wagen nach Burns. Sie entschlossen sich, so gut es ging, zurückzulaufen, und dann der Straße zu folgen.


 
Noch bevor die Sonne ganz von den Bergen verdeckt war, tauchten die Häuser von Burns auf, wie es weiter unten im Canyon, der Schlucht von Silvies Flusses, am Schnittpunkt von fünf Straßen lag. Auf der gegenüberliegenden Straße, die andere Talseite hinauf, verließen gerade zwei Zentauren als kleine Punkte die Stadt. Felo zog sich eine dicke Felljacke an, die ihre anatomischen Besonderheiten verdeckte; aber es wurde mit den verschwinden der Sonne auch bitter kalt.

Burns war nach Jackos Begriffen eine Kleinstadt, gerade zehntausend Zentauren lebten dort. Andererseits war es nach Zentaurenbegriffen schon eine Großstadt. Es war die erste Stadt im Nordwesten, wo sich die Zentauren vollständig von den Menschen befreit hatten. Die Abgelegenheit war in jenen Tagen ein großer Vorteil; deswegen war hier bis heute die Universität und der Verwaltungssitz von Nordkalifornien. Wie Tira Jacko einmal erzählt hatte, waren das fast die einzigen Einkommensquellen, sah man vom Handel ab, der nötig war, um die vielen Zentauren zu versorgen. Zusätzlicher war Burns ein, wenn auch spärlicher, Umschlagspunkt für den Handel, der von hier weiter zum Schlangenfluss nach Osten ging.

Die Zentaurenhäuser, die Jacko gesehen hatte, waren meist einstöckig; insofern unterschieden sie sich kaum von typischen Nordamerikanischen Bürgerhäusern -- allerdings beanspruchen sie natürlich mehr Platz als menschliche Behausungen. Der Schlucht, obgleich gar nicht so tief, vielleicht hundertfünfzig Meter, und an der Westseite auch nicht allzu steil abfallend, war die Grenze, die kein Haus überschritten hatte. Jacko vermutete, dass es etwas mit der Wasserversorgung zu tun haben könnte, aber es mochte tausend andere Gründe gegeben haben, jedenfalls erstreckte sich die Häuser Burns dicht gedrängt hauptsächlich die wenigen Kilometer beiderseits des Flusses bis zur zweiten Brücke der Südstraße entlang.

Burns war unterschied sich deutlich von den Dörfern, durch die sie gezogen waren: Zum einen hatte Burns ein Kraftwerk, Wasserkraft wahrscheinlich, irgendwo in der Nähe. Es gab deshalb nur wenig rauchende Schornsteine. Im Zentrum sah er einige höhere Gebäude, eines erinnerte ihn ein wenig an einen Kirchturm -- doch nach allem, was er wusste, hatten die Zentauren gar keine Religion; und diese Stadt, Burns, war fast tausend Jahre in der Hand der Zentauren gewesen. Er bezweifelte, dass irgendein Gebäude aus seiner Epoche bis heute überlebt hatte.

 
Die Straße hinunter war zwar nicht steil; aber der Wagen schob trotzdem, denn er besaß keine Bremse. Und da die Zentauren nicht vernünftig rückwärts laufen wollten (oder konnten), war es noch ein ganzes Stück Arbeit, bis sie unten waren. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Häuser fast alle hier unten waren.

Hier begann auch eine gepflasterte Straße, was den Zentauren gar nicht so behagte. Andererseits waren Sandwege in einer Stadt auch nicht zu gebrauchen, und das Kopfsteinpflaster war gut gepflegt. Die Straße war gewölbt, mit kleine Gräben rechts und links.

Die Häuser waren hier draußen alle einstöckig; Konstruktionen mit Flachdach waren recht häufig. Und einen zweiten Unterschied gab es: Je weiter sie zum Stadtkern kamen, umso mehr Häuser waren aus Stein gebaut. Nach dem halben Weg zum Fluss standen sie dicht an dicht, und jedes hatte ein großes Tor, das jedes Mal, wenn er durch ein offenes Tor spähen konnte, auf einen Innenhof führte. Hier gab es auch Straßenlaternen, der Schnee war von den Straßen geräumt worden. Jacko spürte deutlich das Alter der Gebäude. Doch noch weit vor der nördlichen Brücke und dem Zentrum bogen sie nach links ab. Dort lag das Ziel der anderen, dort gab es ein Wirtshaus mit einem geräumigen Schuppen, den sie für die Nacht mieten.

Kaum war der Wagen untergestellt, verabschiedeten sich die anderen, denn sie wollten Verwandte besuchen. Felo und Jacko zogen so allein durch die schummrigen Straßen, teils in der Hoffnung Tariff oder Tira zu sehen, vor allem aber, weil sie etwas essen wollten. Felo war nur ein einziges Mal in Burns gewesen, sie war damals sieben. Das Restaurant, an das sie sich erinnerte, war auch hier in der Nähe gewesen. Sie fanden es nach kurzer Suche.

Nach menschlichen Maßstäben hätte es Jacko für eine Spelunke gehalten; wie er später erkannte, war es das tatsächlich. Es war ein aus rohem Holz gezimmertes Eckhaus. Eine halb kaputte Neonreklame flackerte über dem Eingang, zugleich die einzige unstete Beleuchtung, da die Straßenlaterne kaputt war. Die Fenster waren in der unteren Hälfte zugenagelt.

Innen gab es zwei lange Theken, an denen man sein Essen abstellen konnte. Fünf blaue Zentauren und ein Zentaur mit schwarzem krausen Fell und ebensolcher Hautfarbe standen an der Fenstertheke und starrten sie misstrauisch an. Felo sagte ein paar Sätze, darunter auch das Wort für Partner. Doch man rückte ab, als sie sich an das Ende der einer Theken stellten, standen sie allein da.

Jacko hatte zwar die zwanzig Buchstaben des Zentaurenalphabetes gelernt und konnte die Karte an der Wand laut vorlesen. Felo konnte zwar nicht lesen, verstand aber dafür die Worte. Sie orderte eine Art Auflauf für sie beide. Es kam eine stattliche Portion. Felo aß noch den Rest, den Jacko übrigließ. Sie musste auch bezahlen, da Jacko kein Geld besaß. Sie gingen dann schnell wieder, denn freundlich waren die Blicke der anderen nicht zu nennen.

Da sie nicht wussten wohin nun, gingen sie zum Wagenschuppen zurück. Nur Jasmine, der Wagen und ihre Sachen waren in dem zugigen Schuppen, ihre Begleiter waren vermutlich bei ihren Bekannten. Felo sagte wieder etwas Unverständliches zu Jacko. Er zuckte mit den Achseln. «Hier, trinken!», wiederholte sie und hielt ihm ihre angeschwollenen Busen hin.

Er konnte wirklich nicht. «Nein», sagte er und schüttelte den Kopf, zeigte auf seinen Bauch, bedeutete, er war satt.

Sie nahm seine Hand, bedeutete ihm, er solle sie wenigstens melken. Er schluckte, nahm aber die Kanne. Es schien endlos, einen Liter holte er heraus, bis endlich nichts mehr kam. Dazu stöhnte Felo leise. Sie war richtig in Stimmung, während es ihm schwer auf dem Magen lag. Er gab sich auffällig müde, breitet die Felle aus und legte sich hin. Sie kam unter die Decke und kuschelte sich von hinten an ihn heran, biss ihn sanft in das Ohrläppchen. Er brummte nur, schließlich ließ sie ihn in Ruhe.


 
Raissa war entschlossen herauszufinden, wo Jacko hingegangen war. Gleich am nächsten Morgen ließ sie Joe satteln. Sie würde zum nächsten Dorf reiten, das auf der Satellitenaufnahme zu sehen war. Der Computer würde für sie übersetzen, auch wenn sie ein wenig Esperanto konnte, so hatte die Zentaurensprache damit nur noch wenig gemein.

Es war wesentlich weiter, als sie gedacht hatte, da sie eine Menge Umwege machen musste. Erst am späten Nachmittag, ihr tat schon alles weh, sah sie die Häuser hinter einer Flussbiegung auftauchen. Die Zentauren hatten sie ebenfalls bemerkt und ein Empfangskommitee aus zwei großen Zentauren kam ihr entgegen.

Die Zentauren machten keinen freundlichen Eindruck. Sie erinnerten Raissa an zwei Rauswerfer, die sich noch nicht endgültig entschieden hatten, ob der Kunde nicht doch freiwillig geht. Nur das sie bestimmt kräftiger als normale Rauswerfer waren. Sie las schnell den vorgefertigten Satz vom Computer ab. Für die Zentauren musste es klingen wie: «Hallo. Ich kommen zu Friede. Ich suchen Mensch Jacko.»

Der Zentaur antwortete. Auf dem Computer leuchtete auf: ,,Jacko (ist) nicht hier, (ist) [schon länger] mit Tariff und Tira weggetrabt (=gelaufen)." Sie folgte der vorgeschlagen nächsten Frage: «Wohin?»

«Burns.»

,,(Sie sind in) Burns [Zentaurenverwaltungssitz Nordkaliforniens]." leuchte es auf dem Computer auf. Darunter las sie ab: «Danke.» Sie drehte sich um und ließ das Pferd langsam vom Dorf weglaufen. Ein wenig erwartete sie immer noch die Mistgabel im nächsten Moment im Rücken zu spüren. Erst nachdem die Zentauren wieder zum Dorf zurückkehrten, entspannte sie sich.

Jetzt musste sie nur noch im Stockdunkeln den Weg zurück finden.


 
Am nächsten Morgen wurden Felo und Jacko von den vier blauen Zentauren geweckt, doch von Tariff und Tira fehlte immer noch jede Spur. Sie frühstückten gemeinsam, dann zogen die vier wieder mit dem Wagen los.

Durch das Verschwinden von Tariff und Tira hatten sie noch zwei weitere Probleme: fast kein Geld mehr und keine gegenseitige Verständigung. Immerhin das letztere Problem sollte sich an der Universität lösen lassen. Sie brauchten fünf Minuten, bis sie verstanden, dass sie beide an das gleiche gedacht hatten. Sie packten alle ihre Sachen und auch die von Tira und trabten beziehungsweise ritten los.

Burns war größer, als es am Abend von oberhalb der Schlucht den Anschein hatte. Der Schuppen und das Lokal ihres gestrigen Diner lagen in einem heruntergekommenen Viertel am nördlichen Rand. Hier standen die Häuser zwar auch dicht an dicht, aber manchmal fehlte eines. Dann war zwischen den Häusern eine Mauer, vielleicht lagen dahinter die Gärten der Bewohner. Während nachts alle Fensterläden geschlossen waren, so sah man jetzt, dass es sich in Wirklichkeit öfter um teilweise oder ganz zugenagelte Fenster handelte. Auch bröckelte an manchen Häusern der Putz herunter und man sah entweder Holz oder nur Geflecht und nur selten Stein. Auch hatte hier jedes Haus einen Schornstein, doch nur bei einem oder zweien stieg auch Rauch auf; wie er später erfuhr, durften nur für Fohlen unter fünf geheizt werden, alle anderen mussten mit Decken oder ähnlichem auskommen. Deswegen hatten die Häuser auch so kleine Fenster und keine Tür zur Straße.

Die Sonne war herausgekommen, und die Temperaturen stiegen über den Gefrierpunkt. Dampf stieg von Felos und Jasmines Körper und auch von den der anderen Zentauren auf; Dampfwolken atmeten sie alle. Die Straße, die hier draußen nicht gepflastert war, taute langsam auf, wurde weich und es begann, nach Exkrementen zu stinken. Dennoch kamen die Bewohner heraus und öffneten Fensterläden, um die Wärme hereinzulassen. Unnötig zu erwähnen, dass natürlich der sechsfache Hufschlag von Jasmine selbst den letzten Zentaur, der irgendwie noch kriechen konnte, ins Freie oder zumindest an ein Fenster lockte. So sahen sie auch die Bewohner; mehr als die Hälfte waren hier draußen blaue Zentauren. Die anderen, die sich hier niedergelassen hatten, waren oft alte oder abgemagerte Zentauren. Und genauso, wie sie die Bewohner ansahen, wurden sie gemustert. Nicht allzu freundlich, wie es ihnen schien. Langsam mussten sie sich auf die Straße konzentrieren, wenn sie sich nicht mit Exkrementen verdrecken wollten. Felo schüttelte den Kopf. Doch Jacko überließ das Jasmine und sah sich weiter um.

Als sie zur Hauptstraße kamen, änderte sich das Bild. Entlang der Hauptstraße waren die Häuser fast alle schön verputzt und frisch geweißt. Die Vorderfronten waren höher und oft mit Figuren und Gemälden verziert. Mehr als einmal sah er sogar etwas, das wohl ein Raumschiff oder eine Rakete auf einem Feuerschweif darstellte. Die Tore zu den Innenhöfen waren gewaltig. Doch meistens gab es nur eine Reihe Fenster, so dass die Höhe vermutlich nur Fassade war.

Was ihnen aber am deutlichsten klarmachte, dass sie nun die besseren Viertel betraten, war das Straßenpflaster. Sauber gefügtes Kopfsteinpflaster und eine Kanalisation machten aus dem stinkenden Morast einen anständigen Weg. Gleich an der ersten Ecke war ein Kehrkommando von drei Zentauren mit ihrem Abfallwagen. Auch hier hielten fast alle Passanten innen und beäugten sie misstrauisch. Gerne hätte Jacko angehalten und wäre durch eines der vielen offenen Hoftore geritten, doch er wollte lieber nicht wissen, wie die Bewohner darauf reagiert hätten.

Kurz vor dem Fluss machte die Straße eine Kurve. Sie ritten nun durch ein großes Tor und hier gab es sogar die Reste einer Stadtbefestigung. Jetzt verstand er auch den Bau der Häuser hier: Da sie außerhalb der Stadtmauern gelegen waren, mussten sie sich selbst verteidigen und waren wohl deshalb als kleine Burgen gebaut. Die Häuser mussten sher alt sein, denn der Frieden war, wenn er sich recht erinnerte, älter noch als 500 Jahre. Doch die Stadtbefestigung schien nicht nur gut erhalten, sondern sogar voll funktionsfähig zu sein. Schade dass Tariff nicht mehr da war, sie hätte sicher viel dazu erzählen können.

Hinter dem Stadttor änderte sich die Art der Häuser völlig: Es gab keine großen Tore mehr, und da der Platz begrenzt war, waren die Fronten auch schmaler, dafür waren die Fenster größer; manchmal gab es sogar eine Art Wintergarten als Glas. Viele Häuser hatten ein zweites Stockwerk. Öfters hatte sich auch der zweite Stock eines Nachbargebäudes über das darunterliegende Haus ausgebreitet. Fast alle Häuser waren unterschiedlich bemalt. Auch hatte sich der Drahtverhau zwischen den Dächern aus Freileitungen, Telefon oder was es hier auch immer gab, entheddert, es war alles geordneter. Zugleich tauchten die ersten Straßenschilder auf. Die Stile der Gebäude waren jedoch noch wilder als zuvor: Es gab Holzbauten, Fachwerk und Steinbauten. Oft war auch das erste Stockwerk Stein, und darüber entweder Holz, Fachwerk oder Putz (und was auch immer drunter war). Fachwerk und mit Kopfsteinen gepflasterte Straßen, nicht zu vergessen, das Hufeklappern der Zentauren: All das hätte mittelalterlich wirken können, doch tat es das nicht: Einige Plakate, die Straßenbeleuchtung, die Neonreklamen und die Freileitungen erinnerten eher an ein verschlafenes Provinzstädtchen.

Jetzt liefen nicht mehr alle Bewohner an die Fenster oder auf die Straße, wenn sie vorbeikamen. Und auch die Art der Bewohner hatte sich geändert. Es gab weniger und weniger blaue, schließlich sahen sie nur noch ,,normale" Zentauren. Während weiter draußen Bewohner einfach auf der Straße lebten und sie bevölkerten, so waren es hier geschäftig dahineilende Zentauren aller Art. Aber auch sie starrten Felo, Jacko und Jasmine genauso wie ihre ärmeren Vettern weiter draußen an. Seltsamerweise galt der böse Blick eher Felo als Jacko. Jasmine und Jacko wurden eher mit Überraschung angestarrt, doch nur kurz. Dann sahen sie wieder zu Felo, eher noch unfreundlicher. Doch noch wurde ihnen nicht der Weg verstellt, aber die Blicke waren böse.

Die Straße führte schließlich an einem Wachhäuschen vorbei über die zwanzig Meter lange Steinbrücke zum Zentrum. Dort mündete sie in einem zentralen Platz. Hier war Markt, und hier gab es auch eindrucksvolles mehrstöckige Gebäude, jenes das er am Abend zuvor für eine Kirche gehalten hatte. Es erstreckte sich mit drei Etagen über die ganze Breite des Marktplatzes, und laut Inschrift beherbergte es wohl die Zentaurenverwaltung Nordkaliforniens. Es hatte eine Turmuhr mit einem einzigen Zeiger. Die anderen Häuser waren aber auch prächtig, mit sehr hohen Türen und Fenster. Viele waren Geschäfte, die Auslagen standen unter Arkaden bis auf die Straße. Sie konkurrierten heftig mit den aus Brettern aufgebauten Marktständen. Es war dichtes Gedränge und Lärm.

Sie standen unschlüssig am Rand und beobachteten einen Moment das Treiben auf dem Platz. Viele verschiedene Zentauren waren unterwegs. Waren in den Dörfern unterwegs fast alle verwandt und recht ähnlich gewesen, so gab es hier ein Nebeneinander alle Farben: kräftigte, plumpe, elegante und leichtfüßige Zentauren, mit einfarbigem, getüpfeltem, gepunktetem, geschecktem, sogar mit getigertem, mit rotem, braunem, grauem, schwarzem oder einmal sogar mit weißem Fell; gar nicht so selten sahen sie auch blaue Zentauren. Noch dazu trugen sie alle andere Sachen, recht farbenfroh. Einige Berufe hatten eine Art Zunft, die sich in der Kleidung widerspiegelte, so hatte es ihm Tariff einmal erklärt.

So weit sie sich auch am Rand hielten, ein Mensch auf einem Pferd wurde natürlich bemerkt. Zentauren zeigten auf sie und blieben stehen, begannen zu reden. Schnell breitete es sich über den Marktplatz aus. Ihnen wurde unbehaglich zumute, als sich mehr und mehr Hälse zu ihnen reckten und die Schreie an den Ständen verstummten.

An Flucht war nicht mehr zu denken, viel zu eng standen sie schon um sie herum. «Vielleicht sind sie ja einfach nur neugierig», sagte er zu Felo, doch natürlich verstand sie nicht.

Scheinbar hatten sie nur darauf gewartet, dass einer von ihnen etwas tat. Jetzt schrien sie los, alle durcheinander und manche drängten sich heran, andere weg. Es sah so aus, als würde jeden Moment eine Schlägerei losbrechen. Doch an einem Ende wurde die Menge schlagartig ruhig und machte eine Gasse frei. Durch sie schritt ein sehr kräftiger großer grauer Zentaur mit einer roten Jacke. Er grüßte freundlich und wandte sich zuerst an Jacko.

Jacko verstand nicht viel. «Ich Namen Jacko van Klemt(er). Ich nicht verstehen als wenig. Entschuldigung. Felo(sie)» Er wies auf sie. «reden.»

Der Graue fragte Felo. Sie nickte erst, war entrüstet, schüttelte den Kopf. Dann sah sie irgendwie erschreckt aus. Schließlich wurde der Graue langsam nervös, denn sie konnte nicht alle Fragen zu seiner Zufriedenheit beantworten. Die Menge kam wieder näher, sie wollten ja auch wissen, was der Graue Felo fragte.

Endlich sagte der Graue einfach: «Kommt!» Ihnen war durchaus klar, dass es sich bei dem Grauen um einen Polizisten handelte. Ohne die Möglichkeit, sich zu verständigen, war es vielleicht keine schlechte Idee, so dem Pöbel so zu entkommen. Einige Neugierige folgten ihnen noch immer.

Ihr Ziel war ein rotes Gebäude eine Querstraße weiter. Jacko zögerte eine Sekunde, ritt dann aber mit Jasmine herein, schließlich hatte sie sich in den letzten Tagen als erstaunlich stubenrein erwiesen. Als er abstieg, wurde er sofort von einem anderen Zentauren am Arm gepackt und in eine sehr geräumige Zelle gezerrt. Der Boden war mit Stroh ausgestreut, es gab keine weiteren Möbel. Ein Fenster gab es in einer der grauen Wände. Es war für einen Zentaur vielleicht gerade noch zu erreichen, für ihn jedoch viel zu hoch, um herauszusehen. Von der Decke baumelte an einer kurzen Strippe eine Glühlampe. Komfort wie im 17. Jahrhundert, dachte er für sich. Immerhin hatte er die Zelle für sich allein.

Der Boden war eiskalt, die Wand auch. Er suchte sich das bisschen Stroh zusammen und machte es sich so bequem, wie er konnte. Nichts geschah. Außer den wenigen Geräuschen, die von der Straße durch das Fenster kamen, war es still. Niemand lief zu der schweren Holztür am Ende des Ganges, hinter der er saß. Er döste vor sich hin.

Er wurde von dem Geräusch des Riegels geweckt. Die Tür schwang langsam auf. Er stand erwartungsvoll auf. Vor der Tür stand ein recht alter brauner Zentaur mit ausgeblichenem türkisen Hemd und einer der Polizisten.

Der Alte ergriff das Wort: «Du bist Jacko van Klemt?» Der Alte sprach akzentfreies Englisch.

Er nickte.

«Folge bitte.»

Sie gingen in den nebenan gelegenen Raum. Dort gab es ein schulterhohes Stehpult. Der alte Zentaur fragte ihn nach seinen Personalien, Geburtstag, Verwandten, nach seinem Verhältnis zu Felo. «Partner», sagte er unschlüssig. Schließlich wurde er nach dem Grund seines Aufenthaltes im Zentaurenverwaltungsgebiet Nordkaliforniens ohne eine Handelslizens gefragt. Was sollte er dazu sagen?

«Es ist nicht so schnell zu erklären. Ich bin Forscher, ich bin in das All geflogen. Sie haben das sicher eh schon nachgeprüft. Wir haben auf fremde Lebensformen gehofft. Doch das All war leer. Da kommen wir nun auf die Erde zurück, und es gibt eine völlig fremde Kultur hier. Aber das alte Englisch wird verstanden. Wie könnte ich eine Einladung, die Zentauren kennen zu lernen, ablehnen?»

Der Alte lächelte kurz. «Du studierst die Zentauren. Hervorragend, du hättest dich bei mir anmelden sollen.» Er drehte sich zum Polizisten um und übersetzte. Doch das Verhör ging weiter.

Schließlich fielen den Polizisten keine weitere Frage mehr ein. Sie verließen beide den Raum. Kurze Zeit später kam der Alte allein zurück. Er gab ihm eine Art Scheckkarte. Jacko betrachtete sie, es war ein provisorischer Ausweis. Auf der Vorderseite war sein Name und Geburtstag in den zentaurischen Buchstaben geschrieben. Da erst merkte er, dass der Alte mit ihm sprach: «Verzeihung?»

«Oh, ich sagte, das ist ein unbefristet gültiger Ausweis für Nordkalifornien. Mein Name ist übrigens Tjorrgo. Ich bin Englischlehrer an der Universität. Tira hat bei mir die Prüfung gemacht. Ich lade dich zu uns ein.»

«Und Felo?»

«Sie natürlich auch. Bitte folge mir.»

Seine Sachen und Jasmine standen vor der Tür. Ein Polizist und Felo waren ebenfalls da. Sie fielen sich in die Arme. Dann eskortierte sie der Polizist unter neugierigen und anderen Blicken zur Universität.

Dort verabschiedete Tjorrgo den Polizisten und sie folgten Tjorrgo in einen größeren Raum. Zwei Zentauren waren dort. Der eine war hochgewachsen und hatte pechschwarzes Fell. Der andere hingegen war etwas kleiner und hatte eher ein dickes braunes Fell und von den Knien abwärts langes weißes Fell. Sehr elegant und wohlproportioniert waren beide. Felo hatte Probleme, ihre Blicke von ihnen abwenden zu können. Außerdem hielt er beide für genauso jung wie Felo. Sie stellten sich auf Englisch vor. Der Schwarze hieß Tjegan(sie) und der Braune hieß Tjandrik(sie). Sie waren die zwei Studenten der englischen Sprache von Tjorrgo.

Sie luden Jacko ein, alles zu erzählen. Tjorrgo unterbrach selten, nur wenn die Schilderung zu verworren war, oder eine Vokabel unklar war oder erklärt werden musste. Jacko versuchte sich so kurz wie möglich zu fassen. Nach einer Viertelstunde war jedoch abzusehen, dass er mindestens noch zwei weitere Stunden reden würde. Felo dagegen langweilte sich schrecklich und tat dies auch kund. Sofort unterbrachen sie. Nach kurzer Beratung schlugen sie Felo vor, sich untersuchen zu lassen, ob sie wirklich schwanger war, und wenn ja, wie es dem Kind ging.

Das Gespräch zog sich hin. Sie unterbrachen für ein Nachmittagessen und setzten sich in eine Gaststube. Das Essen war gut und natürlich für ihn überreichlich, doch ungestört waren sie hier keinesfalls, also gingen sie zurück in die Universität. Irgendwann kam Felo wieder zurück und setzte sich zu ihnen. Sie sei schwanger, ja. Jacko hatte sich schnell wieder gefasst. Die Mediziner hätten jedoch Zweifel wegen dem Kind gehabt und wollten noch weitere Tests durchführen. Morgen stünde aber das Ergebnis fest.

Sie boten Jacko an, mit Felo auf ihr Zimmer zu gehen. Doch er war froh, hier zu reden und sich so von Felos Schwangerschaft abzulenken. Felo ging indes vor, ein Zentaur führte sie. Jacko blieb erzählt noch lange. Erst sehr spät vertagten sie sich. Tjandrik führte ihn in das Studentenzimmer im ersten Stock (das waren die billigeren Zimmer, wie er bedauernd mitteilte). Sogar ein Lager aus Decken und Fellen für ihn hatten sie organisiert. Felo schlief schon tief und fest. Jacko legte sich daneben schlief schnell ein.

 
Felo zog gerade die Vorhänge auf. Sie sagte etwas Unverständliches, führte seine Hände zu ihren prallen Busen. Er hatte zwar durchaus Gefallen daran, doch so sehr Felo sich auch bemühte, er würde jetzt nicht mit ihr schlafen. Felo war trotzdem so richtig in Fahrt und ließ erst ab, als es zum dritten Mal heftig an der Tür klopfte.

Es war Tjegan, die schwarzfellige Studentin. Sie erkundigte sich nach ihren Wünschen für das Frühstück. Jacko nutzte das, um aufs Klo zu gehen und sich zu duschen (mit eiskaltem Wasser, brr!). Felo wurde sich dann natürlich auch ihres Geruches unangenehm bewusst und, kaum dass er zurück kam, ging sie zur Dusche.

In der Zwischenzeit konnte er von dem kleinen Fenster (und auch die Decke war für einen Zentaur eher niedrig) auf die Straße sehen. Da klopfte es wieder.

Es war Tira, der dort stand. Er umarmte ihn heftig. Tariff stand daneben. Endlich waren sie wieder alle zusammen. Tira lief schnell zu einem Bäcker und holte Kuchen und Brot, während Tariff, Felo und er eine Decke ausbreiteten. Felo holte Tee aus der Küche. Alles war gedeckt, auch Tjegan war mit einigen Esssachen erschienen. Sie warteten nur noch auf Tira.

Tira stürmte hinein: «Schnell, schnell, kommt heraus. Da ist ein Flugzeug am Himmel. Los!» Dann war sie wieder zur Tür heraus. Die anderen folgten so schnell sie in den engen Gängen und der Rampe folgen konnten.

Es war eine kleine leichte Maschine. Es war eine ähnliche wie jene, die Raissa und ihn auf die Burg gebracht hatte. Die Maschine kreiste zweimal über Burns und verschwand dann im Südosten. Es musste ein Menschenflugzeug sein; Zentauren hatten keine, zumindest wusste nicht einmal Tariff etwas davon. Die Maschine ging tiefer. Sie wollte doch nicht etwa landen?

Tira und Tariff liefen los in Richtung der Maschine. Er blieb stumm bei Felo stehen. Sie fuhr ihm wieder mit den Händen über seinen Rücken.


 
Der KI-Pilot der Maschine meldete sich mit sanfter Stimme: «Ich werde in der Wüste vier Kilometer südöstlich der Brücke landen. Bitte nehmen sie ihr Gepäck gleich mit, denn ich werde sofort wieder starten, bevor Zentauren mich aufhalten könnte. Sie können mich oder jeden anderen auch von hier per Computer rufen, es wird jedoch einige Zeit dauern, bis Hilfe sie erreichen würde. Deshalb möchte ich sie noch ein letztes Mal auf die Gefahren hinweisen. Sie könnten doch einen Arbeiter schicken.»

Raissa verdrehte kurz die Augen. «Ich hatte es doch gesagt: Ich will es so. Ich bin nicht dumm, ich hole nur Jacko und dann verschwinden wir von hier. Und bitte keine weiteren Belehrungen.»

Die KI schwieg und bereitete die Landung vor. Es war in weitem Umkreis niemand zu sehen. Langsam sank die Maschine tiefer, begann Schnee aufzuwirbeln und setze schließlich mit einem Ruck auf. Sie nahm ihren Rucksack an sich und drehte sich noch einmal um. «Es war ein interessanter Flug. Auf Wiedersehen, Hamlet.»

«Ich hoffe es sehr. Von hier liegt Burns drei Komma sieben Kilometer nordnordwestlich. Viel Glück Raissa van Klemt.»

Sie war noch kaum zehn Schritte gegangen, als Hamlet wieder startete. Die KI holperte kurz und war schon in der Luft. Mit einem mulmigen Gefühl sah sie ihm nach.

Erst jetzt bemerkte sie, dass jede Menge Zentauren auf sie zukamen. Ganz vorne war ein stattlicher weißer Zentaur mit weißer Jacke gefolgt von zwei braunen Zentauren mit roter Jacke. Etwas dahinter kamen bestimmt hundert weitere Zentauren. Vielleicht war es wirklich keine sehr gute Idee gewesen. Egal, sie würden Jacko schon herausrücken.

Sie wartete, bis die Zentauren direkt vor ihr standen. Sie sah auf den Computer und wollte gerade ihre Erklärung vorlesen, da sprach der weiße Zentaur sie in perfektem Englisch an: «Guten Tag, Meine Frau. Du bist vermutlich Raissa van Klemt.»

Sie war überrascht. Doch schnell hatte sie sich gefangen: «Sind sie Tariff vielleicht Tariff?»

Jetzt war auch der Zentaur überrascht. Dann lachte er kurz. Sie fiel erleichtert ein, die Anspannung war vorbei.

Immerhin machte das einiges klar. «Jacko ist hier?»

«Ja, er ist hier. Aber es war sehr unklug, hierher zu kommen.»

«Ich will ihn sehen.»

«Ich bin bereit, dich bis zur Stadt zu tragen. Allerdings erst, wenn die anderen weg sind. Komm!» Sie sagte den anderen kurz etwas. Die beiden rot gekleideten nickten und trieben dann die anderen Zentauren zurück.


 
Es konnte nur eine Person sein, die per Flugzeug hier herkam. «Felo.»

«Ja?»

Er knetete wieder seine Hände. «Felo, ich haben Partner(sie) Mensch. Verstehen?»

In kurzer Zeit nahm Felos Gesicht verschiedene Ausdrücke an. Schließlich fragte sie noch einmal nach. Er nickte bestätigend. Sie fragte wieder. Es musste ungefähr bedeuten, ob Felo jetzt seine Partnerin war.

Verdammt, wenn er doch wenigstens anständig mit ihr reden konnte. «Felo Zentaur, Jacko Mensch. Partner jetzt gut, werden nicht gut, vielleicht.»

«Felo ist immer gut!», sagte sie. Verdammt, wo waren bloß Tira oder einer der Zentauren der Universität.

«Felo gut. Raissa gut, auch. Raissa Partner(sie).» Dabei streichelte er immer noch ihr Fell. Sie verstand seine unbeholfenen Formulierungen nicht; dass lag bestimmt zu Teil daran, dass sie die Menschen überhaupt nicht kannte. Er fühlte sich so verdammt schlecht.

Da kam Tira angaloppiert. Schrecklich keuchend bestätigte er seine Befürchtungen: «Jacko, Rais-sa, ist, da, drau-ßen ge-lan-det.» Schwer atmend und Muskel zitternd blieb er stehen.

«Tira, bitte erzähle Felo alles. Wer Raissa ist. Was das bei Menschen bedeutet. Sag ihr, dass ich für sie etwas empfinde. Ich bin aber Mensch, und Raissa ist auch Mensch. Sage ihr, was im Bergwerk passiert ist, war einmalig. Ich könnte es nicht mehr wiederholen. Du kannst es besser in Worte übersetzen. Bitte, sage es ihr so vorsichtig wie möglich. Sag ihr, dass ich es ihr schon vorher sagen wollte, es ihr aber nicht sagen konnte ohne Dolmetscher.» Nach einer Pause fügte er hinzu: «Wenn du wieder Atem hast.»

Tira wartete nicht solange. Immer noch keuchend begann er, er schien eine Geschichte zu erzählen, vermutlich irgendein Gleichnis aus der Überlieferung der Zentauren. Es ging auch um Partner, soviel verstand Jacko. Tira erzählte eine Viertelstunde lang, so dass Felo unwillkürlich mit den Hufen zu scharren begann. Dann hielt sie plötzlich inne. Tira konnte noch drei weitere Sätze sagen, bevor sich Felo vom ihm abwandte und sich zu Jacko drehte. Sie packte ihn fest am Arm, zog ihn zu sich. Sie redete auf ihn ein. Er verstand sie nicht, doch konnte er sich sehr gut vorstellen, was sie sagte.

«Es tut mir Leid, es stimmt alles», sagte er auf Englisch.

Tira legte von hinten seine Hand auf Felos Schulter. Sie schmetterte sie herunter. Tira begann dennoch, wieder auf sie einzureden. Felo wurde wütend, die Hälften ihres zweigeteilten Schweifs wedelten wild hin und her, dann riss sie plötzlich Jacko an sich. Tira gab sein Bestes, redete immer noch auf sie ein. Schließlich begann Felo zu weinen, aus den tiefsten Tiefen zu weinen, ihr ganzer Körper vibrierte heftig.

«Felo», sagte er.

«Scheiße, nicht wahr?», sagte Tira zu Jacko.

Sein Mitgefühl tat gut. Nur was weiter? Verdammt, Jacko konnte Felo nicht einfach verstoßen, das wollte er auch gar nicht. Außerdem erwartete sie ein Kind von ihm, das einzige Kind, was sie in ihrem Leben vermutlich je bekommen würde. Raissa wollte er aber auch nicht verlieren. «Ja, Scheiße», flüsterte Jacko.


 
Sie näherten sich nur langsam der Stadt. Tariff erzählte von ihrer Reise mit Jacko und Tira, um so langsam Felo in die Geschichte einzuführen. Dieser Mensch Jacko war wirklich dumm gewesen, sich das einzubrocken. Liebe macht zwar anerkanntermaßen blind, auch die Zentauren kannten das Sprichwort, dennoch ... Langsam wurde sie immer ausführlicher. Stellte den Schneesturm als große Gefahr dar. Schließlich rückte sie heraus: «Er hatte Sex mit Felo und sie ist schwanger geworden.»

Raissa blieb ganz ruhig auf ihr sitzen. Nicht ein Ton entfuhr ihr.

«Er hatte es kurz danach uns allen gestanden, er hat sich geschämt. Er würde es nie mehr tun können. Das hat er gesagt. Er war einfach nur dumm gewesen in dieser Nacht und voller Mitleid und blind und verliebt. Was?»

Raissa murmelte irgendetwas vor sich hin. Tariff verstand nicht alles, doch es ließ sich sinngemäß so zusammenfassen: ,,Ausgerechnet mit einem Zentaur. Da hätte er ja gleich mit einem Pferd vögeln können!"

«Ihr Menschen seid wirklich intolerant», sagte sie, um Beherrschung bemüht.

«Intolerant?» Raissa schrie. «Ihr habt ihn betäubt und gefügig gemacht! Wie sonst könnte ein Mensch sich mit euch einlassen?»

«Früher geschah das öfter», versuchte sie zu erklären.

Doch Raissa tobte weiter. «Nicht genug, dass er einfach abhaut, noch nicht einmal den Computer mitnimmt. Nein, jetzt hat er auch noch mit weniger als einem halben Mensch gevögelt! Sie haben ihn vergewaltigt. Er musste ein Kind zeugen, mit einem halben Tier!»

Das ging zu weit. Vielleicht tat es dieser Raissa gut, im Schnee zu liegen und sich etwas abzukühlen. Sie bäumte sich auf, Raissa trat ein paar Schritte zurück, stolperte und fiel in den Schnee. Bevor sie aufstehen konnte, stellte Tariff ihr einen Huf auf die Brust. Sie genoss es, betont ruhig erklärte sie: «Hör mir zu! Falls du nicht weißt, mit wem du wirklich sprichst, möchte ich dir dies kurz erklären. Ich bin ein Sire, andere Zentauren würden alles für mich tun. Ich könnte dich hier draußen verschwinden lassen, und niemand würde mich auch nur fragen. Also hör mir zu, ich sage es nur noch ein einziges Mal: Wir sind keine Tiere! Wann immer du sterben willst, brauchst du bloß einen Zentaur als Tier zu bezeichnen, dem Wort, das unsere alten Herren, die Menschen, zu Sklavenzeiten benutzten.»

Raissa windete sich unter ihrem Huf, doch sie konnte nichts tun, so sehr sie sich auch bemühte. «Du wirst jetzt bis zum Ende zuhören. Besser du tust es. Zu Sklavenzeiten war es nicht ungewöhnlich, wenn der Herr sich selber um Nachwuchs gekümmert hatte. Auch ich habe ein paar menschliche Vorfahren. Auch haben sich -- wenn auch selten -- Zentauren und Menschen verliebt. Die Liebe kommt und geht, bei Zentauren und doch wohl auch bei Bürgern.» Sie sprach dieses Wort so aus, dass selbst Raissa merken musste, dass es deutlich unter Tier stand. «Ich weiß nicht, was bei Menschen Partner bedeuten, wenn man kein Kind hat. Aber wenn Felo ein Mensch gewesen wäre, hätte es alles geändert? Verdammt, er hat doch zugegeben, dass alles ein Fehler war.» Mit einer Hand nahm sie Raissas Beutel und kramte darin. Endlich fand sie den Computer. Sie wickelte ihn fest in ein Hemd aus der Tasche ein und steckte dann das Bündel in ihre Satteltasche. Sie suchte noch nach weiteren Dingen, doch außer einem Taschenmesser fand sie nichts, was noch als Waffe dienen könnte. Sie nahm den Huf von Raissa.

Sofort rappelte sie sich auf und ging auf Tariff los. Es war abzusehen, dass Tariff siegen würde, Tariff überragte sie nicht nur um dreißig Zentimeter, sie war auch viel schwerer und geübter. Tariff warf sie wieder zu Boden, als sie zu schimpfen begann. «Ich habe dich gewarnt. Ich würde dich lieber lebend zu Jacko bringen, doch wenn du Mensch mich unbedingt als Tier erleben willst, dann kann ich dir den Gefallen gerne erweisen. Steh auf, wenn du hier nicht erfrieren willst. Du weißt noch nicht einmal aus erster Hand, was los ist. Frag Jacko, wenn überhaupt irgendeiner schuldig ist, dann er. Und halt den Mund, bevor du hier Selbstmord begehst.»

Raissa stand schweigend auf, klopfte sich den Schnee ab und schwang sich den Tragriemen ihrer Tasche um den Arm.

«Du wirst wohl alleine laufen müssen», sagte Tariff. Sie konnte sich nicht erinnern, je soviel Sarkasmus in einen Satz gelegt zu haben. Sie musste grinsen.


 
Endlich hatte sich Felo gefasst. «Ich gehe, du reitest mich», sagte sie. Jacko stieg auf. Langsam bahnten sie sich durch die Menge neugieriger Zentauren, die vermutlich zum ersten Mal ihn ihrem Leben nicht nur den ersten, sondern auch noch den zweiten Menschen sahen, einen Weg Tariff und Raissa entgegen. Tariff stand am Stadtrand und beobachtete Raissa, die noch ein gutes Stück entfernt war.

Auf Höhe der ersten Häuser stieg Jacko ab und ging Raissa entgegen. Felo folgte in hundert Metern Abstand, gefolgt von Tariff und Tira.

Einen Meter voneinander blieben sie stehen. Lange Zeit fiel kein Wort. Sie starrten sich gegenseitig an. Raissas Gesicht war wutverzerrt, Jacko blickte zu Boden, warf nur kurze Blicke zu Raissa und von Zeit zu Zeit Felo und den anderen Zentauren. Schließlich brach Raissa die Stille: «Ich muss mit dir reden, allein!»

Jacko zuckte mit den Schultern und sah sich demonstrativ um. «Viel einsamer als hier werden wir nicht werden!» Dennoch gab er Felo und den anderen Zeichen, sich zurückzuziehen.

Langsam zerstreuten sich die Zentauren, von Tariff und Tira zurückgedrängt. Nur Felo stand noch auf halben Weg zur Stadt. Schließlich brach er das Schweigen: «Verdammt, es tut mir Leid. Ich war damals nicht bei Sinnen.»

«Das denke ich auch. Aber ich muss zugeben, sie sieht besser aus als die anderen. Doch egal, du kommst mit mir.»

«Raissa, verdammt, so einfach ist es nicht. Das Kind»

«Wo ist das Problem? Soll sie doch abtreiben.»

Er schüttelte den Kopf. «Du weißt nichts über die Zentauren.»

«Was brauche ich zu wissen? Sie haben dich mir weggenommen. Das ist schon zuviel.»

«He, ich bin keine Ware, die dir gehört. Ich gehöre mir selber. Es ist meine Entscheidung zurückzukommen. Aber hör' doch einen Moment zu. Felo ist ein blauer Zentaur, eine Mutation. Die anderen Zentauren meiden die blauen, da blaue Zentauren meist blaue Kinder bekommen. Und Felo wird sogar von den blauen gemieden, weil sie so menschlich aussieht. Und sowieso darf ein Zentaur nur ein einziges Kind bekommen. Kurz, dies ist Felos einzige Möglichkeit, ein Kind zu bekommen. Sie wird lieber sterben als abzutreiben.»

Die ganze Zeit war Raissa kurz davor dazwischenzureden, doch wartete sie auf eine längere Pause. Als er fertig war, da schwieg sie auch erst einmal. «Du hast es aus Mitleid getan?» Eine Armee von Fragezeichen hing förmlich im Raum.

«Damals, nun, hast du sie angesehen? Stell dir vor, du kommst durchnässt und angeschlagen aus der Kälte.»

«Du fandest sie schön?» Weitere Fragezeichen kamen aus ihrem Mund hervor.

«Nun, selbst du musst doch zugeben, das sie bis zur Hüfte einen Traumkörper hat, zumindest wenn du sie nackt siehst. Ich meine, Scheiße, ich war damals leicht verrückt. Sie wollte, dass wir uns gegenseitig berühren. Sie war einfach naiv, ist es immer noch. Verdammt, wenn du ein Mann wärst, wenn du aufgefordert wirst, so über ihren Körper zu fahren ... Ich hatte damals sie geküsst, es kam einfach so heraus. Daraufhin wollte sie dann am nächsten Morgen mit uns ziehen. Die anderen hatten mich gewarnt, doch ich hatte sie ignoriert. Es erschien mir unfair, sie auszuschließen. Am Abend konnte Felo nicht mehr, sie hatte ja kürzere Beine als der Rest. Es kam zum Streit, ich hielt zu Felo, sie tat mir Leid. Wir sind dann zu zweit in eine alte Mine gegangen und haben dort ein bequemes warmes Lager gemacht. Am Morgen war Schneesturm, ich war noch müde, voll von ihrem Geruch -- sie riecht übrigens nach dir. Da konnte sie mich überreden. Verdammt, ich habe die ganze Zeit an dich denken müssen, damit es klappte. Ich bin danach erst einmal vor Ekel in den Schneesturm gerannt. Ich könnte es nie wieder tun.» Er warf sich in ihre Arme. «Ich wusste ja nicht, dass sie sofort und auch noch von mir schwanger werden kann. Ach Raissa! Ich fühle mich so mies, euch beiden gegenüber.»

Er legte sich Raissa in die Arme. Lange standen sie so.


 
Der Mediziner hielt den Teststreifen hoch. «Siehst du, dass ist der Grobtest. Eine grobe Mutation ist da. Deshalb haben wir weitere Test gemacht. Hier ist das Ergebnis. So wird das Kind aussehen, wenn wir nichts tun.» Die Projektion zeigte einen Menschen, an dessen Rücken ein zu kurzes Pferdehinterteil angewachsen war. Überall waren wilde Fellfetzen zu sehen.

«Nein!» Felo wollte sich auf den unschuldigen Mediziner stürzen. Tariff und Tira konnten sie gerade noch zurückhalten.

Der Mediziner hielt tapfer stand. «Hör zu, das kann geheilt werden. Wir können einen teilweisen Chromosonenaustausch machen. Sieben Chromosomen sind völlig gesund, eines nur ganz leicht geschädigt.»

«Dann macht es, bitte. Ich möchte gerne ein gesundes Kind haben.»

«Wir brauchen einen Spender und außerdem ist es nicht ganz»

«Nehmt meine», sagte Tariff. «Und fangt an! Jetzt.»

Der Mediziner fuhr zusammen. Er zuckte mit den Schulter. «Sire, komm nach hinten. Je eher, desto besser.»

Felo legte sich auf die OP-Bank und wurde betäubt.

 
Erst gegen Abend erwachte sie. Um sie herum standen Tariff und Tira, aber auch Jacko und Raissa. «Viel Schuld meines. All machen Mutationen», sagte Jacko.

Tira fügte hinzu. «Man hatte seinen Samen eingefroren. Doch der ist sicher verlorengegangen.»

«Aber jetzt wird alles gut», beruhigte Tariff. «Dein Kind wird ein gesunder Zentaur sein. Und weiß.»

Felo kam vom Bett herunter und ging wacklig durch das Zimmer. Raissa stellte inzwischen den Computer auf einen Fensterrahmen. Schließlich standen alle nebeneinander. «Computer, Hologramm», sagte sie. Farbige Laserstrahlen fuhren durch den ganzen Raum. Eine Zehntelsekunde später war es wieder dunkel, einen Moment waren sie geblendet.

Raissa trat zu Felo und legte die Hand auf ihre Schulter. «Es tut mir Leid, was Jacko getan hat. Er wusste sehr gut, dass es beim Menschen Partner auf Lebenszeit heißt.» Tariff übersetzte. Tariff fügte hinzu: «Außerdem bin ich praktisch jetzt der Vater. Wenn du es wünscht, dann werde ich mich um das Kind mit dir zusammen kümmern.»

«Lang losreiten zurück Weg. Tage zehn. Ich reiten Felo, Raissa reiten Jasmine, alle gehen», sagte Jacko. «Ich traurig, ich reden nicht mit dir viel können wissen.»

Felo lächelte. «Englisch schlecht meines»

Raissa schüttelte leicht den Kopf. Sie mussten alle lachen.


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