Der Morgen danach von Markus Pristovsek


Er erwachte mit einem Kater (wie unpassend für einen Wolf) und schüttelte sich. Aber mehr als ein Zucken bekam er nicht zustande. Ein Hund war dort zusammen mit seinem Menschen, einem Grünrock. Der Hund war ganz schön mutig ihm gegenüber. Selbst wenn man berücksichtigte, dass er nur zu einem Viertel Wolf zu drei Vierteln deutscher Schäferhund war. Er versuchte ein Knurren, doch es kam nicht gut heraus. War etwas nicht in Ordnung?

Aber es hatte doch alles so gut geklappt. Er hatte die Wolfsknochen zusammen mit dem Fell zerstampft, und dazu sein eigenes Blut gegeben und sich damit eingerieben. Das alles musste ohne jede Spur von Eisen geschehen, so hatte er sich eine Art Klinge aus Glassplittern gebastelt. Und dann das Schlimmste: Er musste das ganze Blut eines Wolfes trinken.

Das war natürlich unmöglich. Erstens stehen Wölfe unter Naturschutz. Ganz abgesehen davon, dass er niemals einen Wolf bekommen könnte. Jedenfalls nicht mit dem, was ihm jeden Monat zum Leben blieb. Also hatte er einen alten und schon recht gebrechlichen Schäferhund aus dem Tierheim geholt und ihn -- ja, er hatte ihn abgestochen, ermordet. Für die Hirngespinste eines alten besoffenen Indianers, so würde es ein Richter vermutlich formulieren. Er würde sagen: Um meinem Totem näher zu sein.

Ok, er hatte es auch für Hirngespinste gehalten, damals. Doch als der Alte sagte: ,,Aber es hat seinen Preis!", ihn anlächelte und seine Eckzähne zeigte, und er die gelben Augen sah, da hatte er seine Meinung geändert. Ja, zu oft dürfe man das nicht tun, hatte der Alte gesagt, sonst blieben solche Spuren. Und es waren keinen Hirngespinste, oder der Hund und der Jäger dort vor ihm hatten ganz ähnliche. Ja, für die heutige Nacht war er wirklich zum Werwolf geworden, zumindest psychisch. Praktisch sofort oder noch während der Verwandlung hatte man ihn entdeckt. Erst war der Köter kläffend um die Lichtung herum gesprungen. Der Jäger kam dann im Windschatten und hatte ihm wohl einen kräftigen Schlag auf den Kopf verpasst.

Sein Kopf schmerzte aber nur noch leicht, und er spürte das Jucken frischer Haut. Ja, Leute, es ist ein Werwolf, den ihr hier seht. Doch der Jäger sah vermutlich nur die Hundeleiche und die blutige Unterhose und das Glasmesser. Wenn er länger nachdachte, dann hatte er Glück, dass er nicht gleich erschossen worden war.

Vorsichtig bewegte er sich in Sprungposition. Und dann, mit einem Satz sprang er auf, doch der folgende Ruck brach ihm fast das Genick. Ein Halsband, sie hatten ihm ein Halsband umgelegt. Und es brannte, als es in die Haut eindrang, das Eisen darin tat schrecklich weh. Er jaulte und schlich langsam rückwärts.

Er versuchte das Halsband zu öffnen, aber seinen Hand sah nicht nur wie eine Vorderpfote aus, sie war eine Pfote. Mit Krallen und allem. Und ohne bewegliche Finger. Also, mit der rechten Vorderpfote testete er das Band -- sehen konnte er es ja nicht. Es war ein sich selbst festziehendes Halsband aus Kettengliedern. Himmel Leute, er war doch kein dummer Wolf!

Vorsichtig sah er sich um. Der Jäger hatte es an einer hohen Astgabel verhakt. Das Ende war also tabu. Aber vielleicht konnte er das Band weiten, bis sein Kopf hindurch passen würde.

Tatsächlich hatte er es schon bald so stark aufgeweitet, dass es den Boden berührte. Unauffällig legte er sich hin und rutsche etwas zurück. Bald spürte er die Kette unter seiner Schnauze. Dann lag sie vor ihm. Hastig sah er sich um. Der Grünrock war gerade nicht zu sehen, und der Hund beäugte ihn belustigt und misstrauisch; dabei stank das Vieh vor Angst.

Am liebsten hätte er dem Köter den Hals umgedreht. Aber wenn dann der Jäger auftauchen würde, nun, Werwolf sein hilft vielleicht nicht gegen Kugeln -- auch wenn sie nur Blei enthielten.

Also, ein Satz rückwärts, die Nöle beginnt zu kläffen, also eine Ohrfeige für diese Pinschermischung und weg. Weg von dem Jäger, der nur zu deutlich seine Geruchsspur hinterlassen hatte.

Mit weiten Sätzen Richtung Wald. Er hatte nur diese Nacht. Weniger als sechs Stunden als Wolf, so hatte der alte Indianer geschätzt, spätestens bis zum ersten Sonnenstrahl. Diese zu kurze Zeit wollte er ganz auskosten. Die Gerüche des nun völlig neuen Waldes erkunden. Und vielleicht ein Reh reißen, wenn eines zu unvorsichtig war. Hier und jetzt war er der Herr!

Während er mit weiten Sätzen dahinjagte und den verstummten Jägerhund weit zurückließ, da änderte sich seine Wahrnehmung, andere Sinne wurden wichtig. Gerüche leuchteten, Geräusche blendeten und sein Körper bewegte sich fast wie eine Sturmwolke: Schwebend, leise und schnell. Er musste nur etwas an,,sehen", und schon war er dort. Die Zeit schien dehnbar, manipulierbar zu werden, mal rasten Schnecken über den Weg, mal stand eine Fliege in der Luft.

Und gejagt hatte er auch. Zwar nur ein Kaninchen, aber das Gefühl von warmen Blut in seiner Schnauze war unglaublich. Keine Spur von Salz, von Ekel, nein leiblich, wie süßer Wein, so sagen es wohl die Dichter, wenn ihnen die Worten ausgingen. Frei, er war frei von der Moral, hier konnte er Tier sein.

Irgendwann eine Sekunde/Ewigkeit später begannen die Bäume Konturen zu gewinnen. Der Schäfer-Wolf-Hund hielt inne, überrascht über seinen ersten Morgen. Da zuckte der Mensch in ihm, er musste in die Nähe der Lichtung, denn dort waren seine Kleider, das Rad, die Schlüssel und alles, was sonst noch einen Mensch ausmachte.

Diesmal hatte er die Erfahrung einer Nacht, und so war er schnell wieder an jenem Ort. Aber der leichte Wind trug deutlich die Gerüche vieler Menschen, mindestens vier. Und ein oder zwei Autos, und noch etwas, das sehr merkwürdig roch. Außerdem rohes Rindfleisch, sie schienen einen Köder ausgelegt zu haben. Auch wenn er geiferte, so dumm war er nicht. Vorsichtig schlich er in Richtung der Erdhöhle, wo er die restliche Kleidung und die Schlüssel versteckt hatte.

Dann spähte er wieder zum nahen Waldrand. Der Horizont war über den flachen Hügel war eine scharfe Grenze, trennte ein blasses Rosa von schwarzem Wald. Die Sonne war schon fast über dem Horizont. In den leichten Talniederungen lag Morgendunst, vom Himmel grellweiß beleuchtet. Leider war hier im Wald kein Nebel, die leichte Brise hatte ihn vertrieben.

Nur noch hundert Meter trennten ihm von dem Gebüsch, dass fast bis zum Versteck reichte. Doch als er aufsprang, da hatte er sich schon etwas verändert, sein Schwerpunkt stimmte nicht mehr. Er taumelte leicht und reagierte so zu spät, als er hinter einem Baumstumpf ein Mensch mit Gewehr auftauchte. Er versuchte einen Sprung, doch etwas traf in in den Bauch. Es konnte keine Kugel sein, denn es gab weder Knall noch Pulvergeruch. Dann noch ein zweiter Schuss, diesmal traf es in den Rücken. Dieser brannte auch wie Feuer.

Seine folgende Bruchlandung erlebte er in extremer Zeitlupe. Seine Pfoten gaben einfach unter ihm nach, er streckte alle Viere flach von sich, prallte dann mit dem Bauch auf und rutschte ein kurzes Stück. Er hörte noch, wie die Schützin ,,Ich hab ihn!" rief, dann wurde es dunkel.

Allerdings nur für kurze Zeit. Als er die Augen wieder öffnete, da war der Himmel leuchtend rot, wie er heller nicht werden konnten. Um ihn herum waren die Gerüche von drei Menschen, zwei Männer und einer Frau. Aber mehr als die Augenlider und die Ohren konnte er nicht bewegen. Und sein Körper brannte wie Feuer.

,,Also der hat ziemlich viel Hund für 'nen Wolf."

,,He, du bist doch aus der Katzenabteilung."

,,Ich hab' Vetrinär studiert, sechs Semester. Schon vergessen? Ist das nun wilder Wolf und damit geschützt? Oder nur Streuner?"

,,Frag mich was leichteres. Ich"

Er holte tief Luft. Oh, es war ein wirkungsvolles Knurren. Aber zu mehr war er nicht fähig. Und das Knurren war einen schlechte Idee.

,,Sieh mal, er kommt wieder zu sich."

,,Muss wohl gleich wieder rausgerutscht sein. Moment!"

,,Nein, gibt ihm nicht noch eine. Wir wollen ihn nicht einschläfern."

,,Und wenn er beißt?"

,,Warte!"

Gleich darauf kaum die Frau zurück, sie hatte einen glänzendne metallischen Gegenstand bei sich. Der Mann hob seinen Kopf etwas hoch und drückte die Schnauze zu. Gleich darauf begann sie wie Feuer zu brennen. Mit aller Kraft drehte er den Kopf, wollte nach der Hand schnappen: Doch verdammt, sie hatten ihm einen großen Maulkorb umgelegt. Aber wieso brannte der?

Da kam die ersten Sonnenstrahlen über den Hügel. Jetzt spürte er am ganzen Körper das brennendes Jucken der Rückverwandlung, das immer schlimmer wurde. Am schlimmsten aber war es am Maulkorb. Er versuchte, mit den Pfoten nach dem Lederriemen zu greifen, aber er war zu schwach und außerdem sind Maulkörbe natürlich genau dagegen gefeit. Sobald er das Metall mit der Zunge berühte, zischte es und er verbrannte sich daran. Gott, das musste das Eisen darin sein! Er versuchte, den Maulkorb mit Gewalt mit seinen Pfoten nach vorne zu ziehen. Doch sie verkrampften sich schmerzhaft am Metall.

Es wurde noch schlimmer, die ersten Knochen begannen sich mit gurgelnden Geräuschen zu bewegen, überall fiel sein Fell aus. Die Menschen bemerkten es erst jetzt; langsam gingen sie einen Schritt zurück.

Jetzt begann der Maulkorb sogar zu glühen und es stank nach verbranntem Fell, Qualm stieg auf. Warum taten die Menschen da nichts? Nein, die zogen sich noch weiter zurück, begannen sogar zu rennen. Mittlerweile glühte der Maulkorbs so hell, dass er nichts mehr sah. Schwach hörte er ein Auto starten. Kurz danach verlor er das Bewusstsein.

Ewigkeiten später kam er wieder zu sich. Zuerst kam der Geruchsinn: Am stärksten war der Geruch nach trockenen Kiefern. Und es stank, es stank immer noch nach dem Kadaver, dazu noch schwächer nach verbranntem Fell und ausgeglühtem Metall. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand ins Geschicht getreten. Er wollte schreien, doch einzig ein gurgelndes Geräusch kam aus seiner Kehle.

Mühsam öffnete er ein Auge. Die Sonne stand schon hinter den Bäumen und es war warm, er musste mehr als eine Stunde hier gelegen haben. Aber die Farben waren ok, er war wieder Mensch. Warum brannte und schmerzte dann immer noch sein Gesicht? War es immer noch dieser dumme Maulkorb? Halbherzig zog daran; und das Eisen war schwach und spröde geworden, das ausgeglühte Metallgitter brach mit trockenem Knacken wie Streichhölzer und bröselte samt angekokeltem Lederriemen zu Boden.

Kaum war das Metall weg, verschwand der Schmerz; dafür begann sein Gesicht zu jucken wie eine verschorfte Wunde. Er stöhnte und schloss wieder die Augen. Doch diesmal war er nur kurz weg gewesen, und mehr noch, er fühlte sich gut, wenn auch hungrig. Und es roch unglaublich stark nach Kiefern. Er gähnte herzhaft. Hmm, fühlte sich komisch an. Und was war das? Er tastete mit seiner Zunge im Mund herum -- jetzt hatte er auch Wolfszähne, wie der alte Indianer.

Zeit aufzustehen, bevor ihn hier jemand nackig fand. Noch etwas benommen stemmte er sich auf und schüttelte den Kopf. Ein paar Reste des Maulkorbs flogen noch beiseite. Dann stand er auf und lehnte sich erst mal an einen Baum.

Nach der Sache mit den Zähnen war eine Selbstcheck angesagt. Also, sein rechter Mittelfinger war wohl morgens im Maulkorb verklemmt gewesen, und nun war er etwas kürzer als Zeige- und Ringfinger, hatte ab der Hälfte Fell und statt eines Nagels endete er in einer schwarzen Kralle. Doch er fühlte sich ganz natürlich, als wäre er schon ein Leben lang so gewesen. Was noch? Da war noch ein Handteller großer Flecken Fell auf dem Bauch. Autsch, dort steckte noch immer die Nadel aus dem Betäubungsgewehr. Er zog sie heraus. Sie war auch blauschwarz anglaufen, wie der Maulkorb.

Insgesamt hatte er wohl Glück gehabt, dass die Leute am Morgen reißaus genommen haben. Nicht auszudenken, wenn sie ihn gefangen und eingesperrt hätten. Da wäre er wohl in einem dieser geheimen, angeblich nicht existierenden Labore erwacht. Er schüttelte sich.

Langsam löste er sich von dem Baum und ging vorsichtig er auf das Loch zu, wo dem er seine Sachen versteckt hatte. Nach ein paar Schritten ging er sicher und dann rannte er die letzten Meter. Er fühlte sich jetzt großartig.

Die blutverschmierte Unterhose schied aus, also zog er sich die Jeans so an. Scheinbar war er noch immer empfindlich auf Metall, denn beim Berühren des Reißverschlusses bekam er eine Art Stromschlag. Aber die Hose passte wie vorher, also hatte er sich wohl nicht verändert. Schade, etwas kräftiger hätte nicht geschadet. Doch beim T-Shirt hielt er inne. Es verhakte sich, als wäre die Öffnung zu klein. Er fasste nach oben und erstarrte. Er beugte den Kopf nach vorne, zog das T-Shirt an. Dann legte er die linke Hand auf das Schlüsselbein und fuhr mit ihr ganz langsam den Hals hoch. Auf halben Weg zum Kinn begann Fell, weiches Schäferhundfell. Doch dann ging es weiter und weiter nach vorne. Er legte die andere Hand um die Schnauze. Nur seine Hände verhinderten den Schrei.

Er ließ los. ,,Meim! Meim! Neim! Cheiche! Meim!", rief er, was nur Nein und Scheiße hätte werden sollen. Aber weder N noch S konnte er mit diesem Monstrum sprechen. Er sank auf die Knie und weinte und heulte.

Dann kramte er nach im Rucksack nach dem kleinen Spiegel. Endlich. Mit zitternden Händen sah er hinein. Stirn und Augenbrauen waren buschig, die Augen leuchteten gelb; und dort war die Schäferhundschnauze exakt so, wie sie in der Nacht gewesen war. ,,Meim!", brüllte er, ,,Mein!", bis er hechelnd zusammensackte.


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